Kapitel 7
Kai K.
18.01.24
Schneematsch, Grau in Grau und tiefhängende Wolken. Alles in allem ein trister, später Vormittag im Januar.
Kai war gerade im Begriff, seine Jacke in einem der Spinde im schlecht beleuchteten Hinterzimmer der Tankstelle zu stopfen, als sein Kollege neben ihm auftauchte.
Die nächsten achteinhalb Stunden würde er mit diesem blassgesichtigen Mitläufer hinter der Theke verbringen müssen.
Sein Gelaber ertragen, seine peinlichen Sprüche und die ewig gleiche Leier, wie schön es doch wäre, ein junger Vater zu sein.
Wie ihn dieses inhaltlose Gerede langweilte. Was interessierte es ihn, wie es seinem dummen Gör ging. Wann es irgendwelche undefinierbaren Laute von sich gab, wann es in die Windel schiss oder andere, belanglosen Informationen.
Es ging ihm am Arsch vorbei.
Aber Ludwig machte seinem spießigen Namen alle Ehre und bekam seit Monaten gar nicht mit, wie sehr ihm seine familiären Neuigkeiten langweilten.
Schon fing es an. Wie es ihm ging? Was eine lächerliche, fast schon amüsante Frage.
Es ging ihm spitze. Es könnte ihm gar nicht besser gehen. Nur wenige Tage verblieben und er würde den Zenit der Glückseligkeit erreichen.
Aber bis dahin, musste er noch ein paar Mal hier auftauchen und den motivierten Mitarbeiter mimen.
Ein simples, „Gut" musste dem großen Rotblonden mit dem langen, fast pferdeähnlichen Gesicht vorerst reichen. Mehr Auskünfte würde er in den nächsten dreißig Minuten nicht von ihm erwarten können.
Kai wollte sich nicht unterhalten. Nur seine Stunden runterreißen und dann auf schnellstem Wege zurück vor seinen Computerbildschirm.
Eine Tiefkühlpizza wäre das Einzige, was er anschließend von diesem Tag mit nach Hause nehmen würde. Das leidige Geschwafel Ludwigs würde ebenso schnell wieder aus seinem Gedächtnis verschwinden wie all die anderen Dinge, die er ihm ungefragt auf die Nase band.
Noch etwas mehr als drei Stunden. Kais genervter Blick wanderte von der digitalen Uhr auf dem Bildschirm des Kassenterminals raus zu den Zapfsäulen.
Nur eine von den insgesamt fünf wurde im Moment genutzt. Kai sah gelangweilt zu der Mutter mit einem Jungen auf dem Beifahrersitz, der sich die Warterei mit seinem Smartphone in der Hand vertrieb.
Kai schätzte ihn auf etwa zwölf, die Mutter müsste ungefähr Ende dreißig sein. Sie wirkte abgehetzt, vielleicht sogar genervt.
'Wieder eine von denen.'
Kai verzog missbilligend seinen Mund.
'Sieh dich doch an, Weib. Ein dicker Benz, stylische Klamotten, Blingbling an den Ohren. Zuhause steht bestimmt ein fettes Einfamilienhaus mit gepflegtem Vorgarten, Hund und weißem Lattenzaun. Dein Kind schreibt gute Noten und dein Mann ist 'ne Granate im Bett. Und wenn er's dir gerade mal nicht pflichtbewusst besorgt, dann fickt er seine Sekretärin.'
Eine von diesen perfekt anmutenden, braven Bürgern, die ihren Lebensinhalt darin sahen, zu malochen und es all jenen Recht zu machen, die sie für mögliches Fehlverhalten kritisieren würden. Ein langweiliges, unerfülltes Leben nach Schema F.
Lächeln, auch wenn es Scheiße regnete. Ein selbstverliebtes Grinsen wie frisch aus der Zahnpasta Werbung reichte für diesen Menschenschlag aus, um auf der Bühne des Lebens jeden Tag aufs Neue eine Oscarreife Performance abzuliefern.
Und dann war da er.
Ein Dasein ohne Glücksmoment. Nichts Gutes kam, ohne dass es postwendend etwas Niederschmetterndes zufolge hatte. Nichts war ihm vergönnt. Seine Eltern interessierten sich einen Scheiß für ihn. Von den Verwandten, die in alle Himmelsrichtungen verstreut lebten ganz zu schweigen. Eine Oma, die ihm den Kopf tätschelte und mal 'nen Zwanni zusteckte, als er noch klein war? Nein.
Die alte Schachtel wohnte Gott sei Dank weit genug weg, damit er ihre herabsetzenden Blicke nicht allzu oft ertragen musste. „Der Bengel ist doch zu nichts zu gebrauchen! Sitzt tagein tagaus nur vor dem Computer und redet mit niemandem. Hat er denn keine Hobbys? Der muss doch mal raus an die frische Luft!"
Er hatte schon seit längerem die Hoffnung gehegt, dass die alte Schabracke endlich abkratzt und ihm eventuell doch etwas vermachte, was er dann wiederum in sein tatsächliches Hobby investieren konnte. Aber den Gefallen tat sie ihm nicht.
Seine Mitschüler hatten ihn auch schon immer behandelt wie einen Aussätzigen. Gingen ihm seit dem ersten Tag konsequent aus dem Weg, da er ja so 'anders' gewesen war.
Ja, er war anders. Dessen war er sich absolut im Klaren. Er sah die Welt nicht rosarot. Er nahm sie als das wahr, was sie war. Heuchlerisch, ungerecht und verlogen. Er sah nicht ein, seine Seele an den Kapitalismus seiner Mitmenschen zu verkaufen.
Seine Sicht der Dinge an den wahnhaften Glauben, an das Gute in der Welt zu verschwenden.
Es gab nichts Gutes da draußen. Dort wartete nichts auf ihn.
Weder ein schmuckes Einfamilienhaus mit weißem Lattenzaun noch Kinder oder eine liebende Ehefrau.
Der Zug, der ihn dorthin hätte bringen sollen, war schon vor langer Zeit ohne ihn abgefahren. Er war davorgestanden, hatte sich all die naiven, verblendeten Gesichter darin angesehen. Seinen Blick wandern lassen, über all die Hoffnungen und Wünsche und Träume, die sich in ihren Augen ablesen ließen. Aber der Zug hatte sich unaufhaltsam in Bewegung gesetzt.
Mit jedem Jahr, das verging, ein bisschen schneller. Irgendwann war er weg gewesen. Und Kai war nicht traurig darüber. Er sah die Waggons voll mit einfältigen Idioten nicht einmal hinterher. Er schlug seinen eigenen Weg ein. Er würde abrupt enden, so viel war klar. Aber er würde diesen letzten Gang nicht allein tun. Er würde so viele von diesen unbekehrbaren, verhätschelten Mitläufern mit sich nehmen wie nur möglich.
Sie würden ihn begleiten. Als seine persönliche Armee auf dem Weg in die Geschichte.
Er würde sich auf seine Art erkenntlich zeigen. Ihnen seinen Dank auf die einzig richtige Art zukommen lassen.
Er sah seine Erfüllung nicht in Liebe und Freundschaft, dafür befand er sich nicht auf dieser beschissenen Welt. Nein, er ließ sich nicht von diesem trügerischen Gefühl in die Irre führen.
Seitdem er durchschaut hatte, dass genau dieser Irrglaube die Wurzel allen Übels war, galt jeder Atemzug, den er tat, einzig und allein der Rache. Die Vergeltung an all jenen, die zu ihm herabsahen. Ihn mit Verachtung straften und sich fröhlich pfeifend ihr vermeintliches Glück in den Arsch pusten ließen.
Ludwigs nervtötende Stimme riss ihn aus seinen Gedanken.
„Das ist Frau Höfner, ihrem Mann gehört ein Getränkehandel in Lansing. Sie kommt jeden Donnerstag. Heute ist sie allerdings spät dran."
Kai nahm im Augenwinkel Ludwigs Blick auf dessen neueste Errungenschaft wahr. Eine nagelneue Smartwatch, über die er ihm jedes Mal aufs Neue einen Monolog aufs Auge drückte. Als ob ihn dieses unnütze Zeug interessieren würde.
„Ich weiß, wer sie ist, Mann. Ich warte, dass sie endlich fertig wird, und ihren überschminkten Arsch hier rein trägt." Kais schlechte Laune war unüberhörbar.
Auch für seinen Chef, der im selben Moment um die Ecke bog. Ein dicklicher Mann ende fünfzig. Ein Urgestein der Gemeinde, in sämtlichen Vereinen aktiv und schlimmer als jedes Waschweib. „Kai! Was soll das? Wie redest du von unseren Kunden? Reiß dich gefälligst zusammen! Ich will derartiges nicht nochmal hören, hast du verstanden?" Der tiefe Bariton des Mannes dröhnte befehlend durch den Verkaufsraum der Tankstelle. Sogar Ludwig, der sich nichts hatte zu Schulden kommen lassen, zog den Kopf ein.
Doch Kai verzog keine Miene. Er fühlte sich nicht angesprochen. Was hatte er denn Schlimmes gesagt? Es war doch nur die Wahrheit und die Alte hatte ihn noch nicht einmal gehört.
Als ob nichts gewesen wäre, sah er von seinem Arbeitgeber wieder zurück zu der Frau, die endlich auf die automatische Tür zuging, um den getankten Betrag zu begleichen.
Die auswendig gelernten Floskeln anwendend, spulte Kai die immer gleichen Worte ab. Er spürte die argwöhnischen Blicke seines Chefs wie Nadelstiche in seinem Rücken, ignorierte sie aber. Darin war er gut. Das jahrelange Training in seiner Lieblingsdisziplin, dem Lügen und Täuschen, trug seine Früchte.
Kaum, dass die gut frisierte zurück zu ihrem dicken Oberklassewagen stöckelte, stand schon wieder Ludwig neben ihm und plapperte munter drauf los. „Der Alte hat dich auf den Kieker, was?" Vergeblich auf eine Antwort seines Gegenübers wartend, stützte sich der Dünne mit einem Arm auf der Theke ab. Auch wenn von Kai keine Erwiderung kam - er redete unbeirrt weiter. Als er mitten im Satz von dem sonst so stillen Kai unterbrochen wurde, stockte er jedoch.
„Der fette Sack hat einfach nicht die Eier mich zu kündigen. Er weiß ganz genau, dass es nicht gesund für ihn wäre. Er wird schon noch sehen, was er davon hat, mich die ganze Zeit über so anzugehen. Alle werden es mitbekommen. Es wird großartig werden."
Sein entrücktes Grinsen, die leuchtenden Augen in dem sonst fahlen, ausdruckslosen Gesicht des Brünetten, ließen Ludwig instinktiv einen Schritt zurücktreten. „Was meinst du damit? Willst du kündigen?"
Seine sonst so fest klingende Stimme, nahm einen unsicheren Unterton an. Kai blinzelte kurz, wischte sich unsichtbare Krümel von seinem Ärmel und drückte sich leise nuschelnd an Ludwig vorbei. „Vielleicht. Der Typ nervt mich, das ist alles. Wir müssen noch die Softdrinks auffüllen. Ich hole sie von hinten."
Nachdem sein schmächtiger Kollege im Warenlager verschwunden war, um Nachschub zu besorgen, sah ihm Ludwig mit einer Mischung aus Besorgnis und Skepsis nach.
Der Kerl war so komisch. Er hatte irgendetwas an sich, dass es ihm die Haare zu Berge stellte.
Etwas stimmte nicht mit ihm.
Und doch konnte er nicht in Worte fassen, was genau es war. Seine verschlossene Art. Die Dinge, die er von sich gab, so wie gerade eben. Eine leise Stimme tief in seinem Kopf mahnte ihn schon so lange. Natürlich hatte er seiner Frau schon des Öfteren von diesem verqueren Kerl erzählt. Doch auch sie war der Meinung gewesen, dass er sich viel zu viele Sorgen machte.
Er sollte ihn in Ruhe lassen.
Man wusste nie, was man anrichtete wenn man unbedacht Anschuldigungen in die Welt setzte. Bestimmt würde Kai seinen Job verlieren, von dem Ärger mit den Behörden ganz zu schweigen. Was, wenn herauskommen würde, dass er derjenige gewesen war, der ihn an den Pranger gestellt hatte? Nein, zu viel könnte schief gehen. Diese Bürde würde er nicht auf sich nehmen.
Bei Kai handelte es sich mit Sicherheit um einen ganz normalen jungen Mann, der seine Unzufriedenheit mit sich und seinem Leben, unbedacht nach außen trug. Aber auch er würde irgendwann ein Licht am Ende des Tunnels sehen.
Ja, bestimmt würde es so kommen. So war es immer.
Ludwig verscheuchte die mahnenden Gedanken und wartete hinterm Tresen auf den älteren Herrn der unterm Gehen nach seiner Geldbörse angelte. Noch während er den gebrechlichen Mann abkassierte, sah er scheu nach rechts.
Seine Atmung stockte.
Was tat Kai da?
Einen Arm gehoben, Zeigefinger und Daumen weit abgespreizt. Die andere, linke Hand stützte seine Rechte. Zielte er etwa auf jemanden? Deutete er mit dieser irrwitzigen Geste darauf hin, irgendwen „erschießen" zu wollen?
Ein kalter Schauer lief dem jungen Vater über den Rücken.
Kais zu einer Pistole geformte Hand zeigte unmissverständlich zum nicht einsehbaren Bereich des Verkaufsraumes.
Genau dorthin, wo sich im Moment ihr Chef aufhielt. Sein eiskalter, fast entrückt wirkender Blick ließ eine Entschlossenheit erahnen, die Ludwig jeden weiteren Gedanken nahm. Geschockt sah er dabei zu, wie sich Kais Lippen zu einem schiefen, abartig höhnischen Grinsen verzogen. Abrupt schnellte dessen „Pistolenhand" nach oben, als er den gelösten Schuss nachahmte.
Ludwig wusste nicht, wie er reagieren sollte. Es wäre am besten, wenn er so tat, als ob er nichts gesehen hätte. Ja, bestimmt wäre es so am sichersten. Manchmal war es besser, keine Aufmerksamkeit zu erregen.
Etwas stimmte nicht mit diesem Kerl. Er wurde dieses warnende Gefühl einfach nicht los.
Noch in etwa zweieinhalb Stunden. Dann war er hier weg. Weg von ihm.
Im Schutze seiner eigen vier Wände und abgelenkt von seiner Familie.
Was dieser Irre in seiner Freizeit trieb, konnte ihm egal sein.
Das war dann nicht mehr sein Problem.
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