Kapitel 1
Lucy
13.02.2024
Endlich. Die Waschmaschine lief. Das Abendessen, der Eintopf, den sie Thomas schon vor Wochen versprochen hatte, stand leise simmernd auf dem Herd. Mit dem Flur war sie eben erst fertig geworden. Dieser hatte dringend durchgewischt werden müssen. Das momentane Tauwetter, zusammen mit all dem Splitt, der unweigerlich hereingetragen wurde, ließ ihren Eingangsbereich wie ein Schlachtfeld aussehen.
Lucy setzte sich seufzend an den Küchentisch. Stellte ihre frisch gebrühte Kaffeetasse vor sich ab und griff zu ihrem Handy.
Nach diesem arbeitsreichen Vormittag brauchte sie erst einmal kurz Zeit für sich. Da heute ihr freier Tag der Woche war, warteten noch einige Erledigungen auf sie.
Beiläufig fiel ihr Blick zur Küchenuhr, diese zeigte ihr an, dass es bereits nach zwölf war. Thomas würde erst gegen vier am Nachmittag nachhause kommen. Dienstags musste er normalerweise nur bis dreizehn Uhr in der Schule bleiben. Aber bei dem aktuell beängstigend hohen Krankenstand kam er nicht umhin, für die ausgefallenen Kollegen einzuspringen.
Ihr blieb also noch genug Zeit, einkaufen zu fahren. Das Paket durfte sie nicht vergessen! Schon seit einer Woche lag es versandfertig auf dem Schuhschrank im Flur und wartete vergeblich darauf, seine Reise zurück zum Versender anzutreten. Aber jetzt brauchte sie erst einmal eine kleine Pause.
Mithilfe einer Zahlenkombination entsperrte Lucy ihr Smartphone. Sofort stach ihr der entgangene Anruf ihrer Freundin Sonja ins Auge, auf Smalltalk mit ihrer Freundin hatte sie jedoch keine Lust. Sie würden sich mit Sicherheit wieder endlos verquatschen und dafür hatte die Büroangestellte jetzt keine Zeit. Am Ende würde sie ihr gestecktes Tagesziel nicht erreichen und die Postfiliale hatte ihres Wissens nach, nur bis vierzehn Uhr geöffnet.
Sie wollte sich nur schnell über den Stand der Dinge in der Welt informieren und dann den Weg zum Supermarkt im Nachbarort antreten.
Schnell war die App dafür geöffnet, mit der Tasse an den Lippen überflog sie die Schlagzeilen. Weit kam ihr Blick nicht, sofort stach der Ortsname heraus, in dem sie ihre Jugend verbrachte.
Ihre Eltern wohnten immer noch dort, in einem gemütlichen Einfamilienhaus. Am Ende einer Sackgasse mitten in Rossitz. Umgeben von einer mannshohen Thujen-Hecke, akkurat getrimmt und in Form gehalten.
Ja, ihr Vater verstand dahingehend keinen Spaß, ein Perfektionist in jeder Lebenslage.
Doch so gerne, wie sie sich an ihre behütete Kindheit erinnerte, sogleich drängte sich ein flaues Gefühl in den Vordergrund.
Hastig überflog sie die Zeilen, die Kaffeetasse weiterhin in der linken Hand haltend.
Auf halben Weg zurück zur Tischplatte.
Ohne es bewusst wahrzunehmen, pochte ihr Herz. Ein Engegefühl nahm ihr kurzzeitig jeden Gedanken. Nein, das konnte nicht sein!
Bestimmt hatte sie sich verlesen. Es musste sich um einen anderen Ort handeln, der nur so ähnlich geschrieben wurde.
Noch bevor Lucy am Ende des Artikels angelangt war, scrollte sie wieder zurück zum Anfang, las den erst vor kurzem erschienenen Bericht erneut. Doch, das stand es: Schwarz auf weiß. Rossitz.
Nur ein paar Minuten von dem kleinen Ort entfernt, in dem sie soeben in ihrer Wohnung am Küchentisch saß.
Ungläubig starrte sie weiterhin auf das Display, nahm gar nicht wahr, dass sich dieses inzwischen schon dimmte. Nur wenige Sekunden und es würde schwarz werden.
So schwarz wie die Zukunft derer, die angeblich nur ein paar Kilometer entfernt auf grausame Weise ihr Leben gelassen hatten.
So jung, so sinnlos.
Leise, fast lautlos, ließ Lucy ihre Kaffeetasse auf die sauber gewischte Tischplatte sinken.
Ihr ruheloser Blick huschte ziellos durch den Raum, blieb an dem erst vor einer halben Stunde liebevoll arrangierten Tulpenstrauß hängen.
In Anbetracht dessen, was sie eben lesen musste, wirkten die frühlingshaften Blumen jetzt deplatziert, fast schon taktlos.
Wie lautete der Name des Täters doch gleich? Tim?
Die junge Frau entsperrte ihr Mobiltelefon erneut. Schob mithilfe ihres Fingers den Artikel erst nach unten, dann wieder nach oben. Auf der Suche nach dem Namen dieses jungen Mannes, der angeblich so viele unschuldige Leben auf dem Gewissen hatte. Kai K.
Erst jetzt, nachdem sie den Artikel erneut überflogen hatte, eröffnete sich ihr die Tragweite des eben Gelesenen. Thomas. Ihr Verlobter unterrichtete an dieser Schule!
Lucys Herz schien für wenige Sekunden auszusetzen. Ein Rauschen in ihrem Kopf nahm ihr jegliche Gedanken. Mit vor Entsetzen geweiteten Augen starrte sie weiterhin auf das erloschene Display ihres Handys. Die linke Hand wie im Krampf um die Tasse mit dem jetzt vergessenen Kaffee erstarrt.
Der Bildschirm des Smartphones leuchtete in Intervallen auf.
Ein weiterer Anruf ihrer besten Freundin aus Kindertagen.
Doch Lucy befand sich in einem dichten Nebel aus Unglauben, der es ihr unmöglich machte, wahrzunehmen, was um sie herum geschah. Erst nachdem weitere Sekunden verstrichen waren, konnte sie sich aus ihrer Lethargie befreien. Versuchte entschlossen, sich zu sammeln, und entsperrte das Gerät vor sich zum wiederholten Male.
Nein. Sie hatte sich verlesen.
Ihre Augen spielten ihr einen Streich. Niemals würden solch schlimme Dinge hier in Rossitz passieren. In anderen Städten, die größer waren, vielleicht. Aber nicht hier inmitten dieser Einöde.
Die Realschule genoss einen guten Ruf, solch schlimmen Dinge passierten hier nicht.
Kai K.
In Gedanken wiederholte sie den Namen immer wieder, aber da war nichts. Keine Erinnerung, keine Verbindung.
Kurz hielt sie inne, überflog abermals den nüchternen Bericht. Dort stand, er habe seinen Abschluss im Jahre 2021 gemacht, da war Thomas noch mitten im Studium gewesen. Während sie sich den Kopf darüber zerbrach, weshalb in diesem Artikel die ihr bekannten Ortsnamen auftauchten, klingelte ihr Haustelefon.
Der schrille Ton schnitt durch ihre Gedanken, brachte sie sofort zum Erliegen.
Gehetzt eilte Lucy zu dem Gerät. Bemerkte ihre eigene Unruhe erst, als sie den tragbaren Teil des Telefons fast herunterfallen ließ. Doch im letzten Moment konnte sie den Hörer greifen, drückte das entsprechende Symbol und nahm den Anruf entgegen. Schon auf dem Display hatte sie es erkannt, am anderen Ende befand sich Sonja. Bestimmt war sie des Wartens überdrüssig geworden und wollte unbedingt den neuesten Klatsch jetzt sofort besprechen. Lucy bereute, das Abnehm-Symbol gedrückt zu haben, aber nun konnte sie es nicht mehr rückgängig machen.
„Lucy? Wo bist du? Zuhause?"
Ohne jede Begrüßung redete Sonja am anderen Ende drauf los. Überrumpelt fragte sich Lucy, warum Sonja so aufgeregt klang.
„Natürlich, du hast doch auf meinem Festnetz angerufen, wo sollte ich sonst sein?"
Kurz herrschte Ruhe, doch nur Sekunden später hatte sich Sonja wieder gefangen und sprach in wesentlich ruhigeren Tonfall weiter.
„Ist Thomas in der Schule, unterrichtet er heute?"
Arglos antwortete Lucy ihr.
„Natürlich. Wir haben Mittwoch, da ist er immer bis eins da. Das weißt du doch, Sonja."
„Ich komme zu dir, rühre dich nicht vom Fleck. Ich bin gleich da, ja?" Lucy verstand nicht, weshalb ihre Freundin so dringend zu ihr kommen wollte.
Sie hatte doch noch so viel zu tun. Die Einkäufe, das Paket. Und der Eintopf war doch auch noch nicht fertig. Die Kartoffeln mussten noch geschält und gewürfelt werden.
Das sagte sie jetzt auch, aber ihre Einwände wurden ignoriert. Sonja würde sich ins Auto setzen und herkommen. Irgendetwas musste also passiert sein.
Lucy legte auf und beschloss, sich um die Kartoffeln zu kümmern. Dann wären diese schon einmal hergerichtet und sie würde diese Arbeit später nicht mehr erledigen müssen.
Thomas freute sich doch so sehr auf das Abendessen.
Sein Lieblingseintopf den er, seit seine Mutter letztes Jahr an Krebs starb, nicht mehr gegessen hatte.
Lucy ging in die Küche. An den bunten Tulpen vorbei, die arglos ihre Köpfchen der kalten Wintersonne entgegen reckten. Griff nach einem der Schälmesser in der Schublade und nahm sich eine der Kartoffeln.
Mit leerem Kopf und leicht zitternden Händen machte sie sich daran die Knollen von ihrer Schale zu befreien.
1688 Wörter
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