Die Zeremonie
Derek
Verdammt, ich hätte sie nicht küssen dürfen. Aber in diesem Moment sah sie so traurig und einsam aus, als würde sie das Gewicht der Welt allein auf ihren Schultern tragen.
Gray hatte mich immer gerügt, dass ich viel zu voreilig und unüberlegt handelte. Er war der Verantwortungsvolle und Vernünftige von uns beiden gewesen. Ich schob den Gedanken an meinen Bruder beiseite und ignorierte die Trauer, die sich in mir verbreiten wollte. Ich hatte lange genug getrauert.
Mein Blick viel auf meine verbundene Hand. Die Wunde hatte schon angefangen, zu verheilen und ich war mir sicher, dass keine große Narbe verbleiben wird. Raven hatte gute Arbeit geleistet, der Verband hielt. Ich dachte an ihre Haare, die in dem Mondlicht so schön geglänzt hatten und bis mir auf die Zunge. Es tat mir weh, sie benutzen zu müssen. Ich ekelte mich förmlich vor mich selbst. Allerdings brauchte ich ihre Hilfe, wenn ich meinen Plan ausführen wollte. Mir kam es so vor, als würden Raven und ich uns schon seit Ewigkeiten kennen, auch wenn sie mich nicht oft gesehen hatte. Ich glaubte aber, sie schon in- und auswendig zu kennen. Durch meine Beobachtungen wusste ich, dass ihr liebster Leseplatz in der Bibliothek der am großen Fenster in der zweiten Etage war, weil sie dort den besten Blick auf den Park hatte.
Sie redete auf dem Friedhof mit ihrem Großvater und berichtete ihm auch die kleinen Dinge aus ihrem Alltag. Bevor sie das Grab verließ, legte sie immer eine frische Blume auf den Grabstein.
Sie versuchte so viel Zeit mit ihrer Schwester zu verbringen und meistens saßen sie auf der Veranda oder im Garten und vergraben ihre Gesichter in irgendwelchen Schulbüchern.
Caleb, der sich inzwischen von seinem Alkoholrausch erholt hatte, war wie ein bester Freund für Raven.
Ich wusste, dass sie gerne im Medic Center oder Health Center arbeiten würde, weil ihr Vater dort als Medic gearbeitet hatte.
Und mit jedem Tag faszinierte sie mich noch mehr.
Ich richtete mich auf und gähnte herzhaft. Meine Muskeln waren noch etwas wegen dem harten Waldboden versteift und ich streckte mich um wieder etwas Beweglichkeit zu erlangen. Ich schnappte mir eine Handvoll Beeren, die ich in der Ostprovinz gesammelt hatte und warf mir nacheinander die Früchte in den Mund. Meine Lebensmittel musste ich aus der Natur sammeln, ein Glück waren die Landwirte noch nicht zur Ernte aufgebrochen. Ich konnte keine Mahlzeiten aus der Ernährungsabteilung stehlen, deshalb musste ich mich mit Rohkost zufrieden geben. Mann, was würde ich jetzt für einen von Ember's Braten tun.
Die Sonne war gerade erst aufgegangen. Ich schaute in die Baumkronen und lauschte den Vögeln. Wenigstens hatten die Waldgeräusche Ähnlichkeiten mit denen von Zuhause. Mein Nachtlager hatte ich auf einem der Berge am Rande der Nordprovinz aufgeschlagen, dort hatte man die Perfekte Aussicht auf die Stadt. In der Ferne konnte ich die Hochhäuser im Zentrum in den ersten Sonnenstrahlen funkeln sehen.
Ich schlüpfte in meine Stiefel. Ich hatte aufgeschnappt, dass die Zeremonie für Raven heute Abend um sechs in der Provinzhalle der Nordprovinz sein wird. Und ich wollte unbedingt dabei sein. Es wird schwierig sein, dort hinein zu kommen, aber sicherlich werde ich einen Weg finden.
Der Sonnenstand verriet mir, dass es mittlerweile schon Mittag war. Also hatte ich noch massig Zeit, bevor ich aufbrechen musste. Mein Lager befand sich unter einem kleinen Felsvorsprung, sodass ich vor dem Wind geschützt war. Damit keiner mein Lager entdeckte, versteckte ich meine Vorräte gründlich in einem Felsspalt.
Meine Zunge klebte am Gaumen, ich brauchte Wasser. Ich lief in die Richtung, in der ich vor wenigen Tagen einen kleinen Bach entdeckt hatte. Nach wenigen Metern hörte ich erfreut das leise Plätschern des Wassers und ich lief auf das Geräusch zu. Der Bach schlängelte sich vor mir durch den Waldboden. Mit den Händen schöpfte ich Wasser an meine Lippen und trank. Ich genoss das kühle Nass auf meiner Haut und seufzte vor Erleichterung. Nachdem mein Durst gestillt war, setzte ich mich an einen nahegelegenen Baumstamm.
„Nein, Onkel D, du musst das so machen. Schau!" Skyler entriss mir mit ihren kleinen Händen die langen Grashalme aus der Hand. Für eine Vierjährige war sie ganz schön kräftig. Skyler fügte den Halmen auch kleinere Weidenzweige hinzu, damit die Halme nicht später brachen. Ihre flinken Finger knoteten die Halme an einem Ende zusammen. Ich lachte über ihren Übermut. Skyler hatte mich angefleht, sie zum Blumenfeld zu begleiten. Und wer konnte einem kleinen Engel denn schon widerstehen? Kaum waren wir an ihrem Lieblingsort angekommen, hatte sie schon mehrere Blumen gepflückt und angefangen, einen Blumenkranz zu flechten. „Der ist für Daddy", hatte sie mir freudenstrahlend verkündet. Dann hatte sie sich in den Kopf gesetzt, ich müsse ein Armband flechten.
Skyler gab mir die Halme wieder zurück. Durch die Schwielen an meinen Händen hatte ich Schwierigkeiten, die Halme zu fassen.
Sie erklärte mir den nächsten Schritt. „Jetzt musst du diesen Strang über den hier legen."
Ich brauchte mehrere Versuche, bis ich das Muster verstanden hatte, aber es sah nicht so gut aus, wie bei Skyler.
„Ich glaube, dass ich das Flechten lieber dir überlasse", gab ich zu und Skyler kicherte.
„Irgendwann wirst du es können", erwiderte sie und legte mir das Armband um das Handgelenk und knotete es fest.
Ich fuhr aus dem Schlaf. Mist. Ich war eingenickt. Es war noch hell, also hatte ich nicht allzu lange geschlafen. Mir kam wieder in den Sinn, wovon ich geträumt hatte. Es war eine Erinnerung, bevor es passiert war. Schuldgefühle keimten in mir auf und ich schluckte. Jetzt war keine Zeit, Trübsal zu blasen. Ich strich über das Armband an meinem Handgelenk. Die Halme hielten noch immer, auch wenn ich sie einmal lösen musste, um den geklauten Chip einzuarbeiten.
Raven
Derek. Derek. Derek.
Die ganze Zeit konnte ich nur an ihn denken, obwohl ich es eigentlich vermeiden wollte. Nur wanderten meine Gedanken immer wieder zu ihm, so, als wollten sie meinem Willen nicht gehorchen. Und das machte mir Angst.
Caleb gegenüber erwähnte ich die Party nicht, den ich fürchtete, dass er mich fragen würde, wie ich ihn nach Hause gebracht hatte. Er hatte einen kompletten Filmriss und konnte sich an nichts mehr erinnern, nachdem er das Bewusstsein verloren hatte. Dafür plagten ihn jetzt die furchtbarsten Kopfschmerzen, wie er behauptet hatte. Ich wusste, dass er sich schuldig mir gegenüber fühlte und ich verzieh ihm.
Den Vormittag verbrachte ich wieder auf dem Friedhof. Zu Hause huschte Dolores aufgeregt hin und her und eiferte der Zeremonie entgegen. Ich wollte jedoch nur meine Ruhe, um mich auf heute Abend einzustellen. Ob ich bereit war? Ich wusste es nicht. Eigentlich fühlte sich der Tag an, wie jeder andere. Nur dass es nicht einer wie die anderen war. Ich legte den Kopf in den Nacken und seufzte. In der Nacht hatte ich nicht viel geschlafen, und das Ergebnis machte sich jetzt bemerkbar. Ich hatte dunkle Ringe unter den Augen und konnte das ständige Gähnen nicht unterdrücken.
Die Zeit verstrich, auch wenn ich in diesem Moment festhängen wollte. Wieder einmal hatte ich keine Wahl.
Als ich die Augen öffnete, hing die Sonne schon über dem Horizont. Ich hatte das Mittagessen verpasst, aber das kümmerte mich nicht, ich hatte sowieso keinen Hunger.
Ein letztes Mal sah ich noch einmal auf Grandpa's Grab und verließ dann den Friedhof und machte mich eilig auf den Weg nach Hause.
Die Haustür glitt auf und ich nahm mein Handgelenk vom Sensor. Ich blickte auf die Uhr und atmete erleichtert aus. Noch eine halbe Stunde.
„Raven, mach dich noch kurz frisch, bevor wir losgehen." Dolores kam aus dem Wohnzimmer und betrachtete mich eingehend. Ich überhörte nicht den vorwurfsvollen Ton in ihrer Stimme. Ich betrachtete mich im Spiegel im Bad. Paar Haarsträhnen hatten sich aus meinem Knoten gelöst und umrahmten mein Gesicht. Mechanisch löste ich das Zopfgummi, griff nach der Bürste und kämmte mein Haar. Mit eingeübten Bewegungen band ich meine Haare zu einem neuen Knoten zusammen. Dann spritzte ich mir kaltes Wasser ins Gesicht, um wieder etwas Farbe auf den Wangen zu bekommen.
An der Badezimmertür klopfte es.
„Bist du fertig?", ertönte Zacharias' Stimme. Ich zog die Tür auf und quetschte mich an meinem Onkel vorbei. Hayley und Caleb warteten schon auf der Straße, als ich heraustrat. Caleb lächelte mir ermutigend zu und Hayley nahm sofort meine Hand.
Die Augen meiner Schwester funkelten.
„Du bist der mutigste Mensch, den ich kenne", sagte sie feierlich. Ich lachte und drückte sanft ihre kleine Hand.
„Lasst uns gehen", lenkte ich ein und ließ mich von Hayley hinter ihr herziehen.
Auch andere Familien waren auf dem Weg zur Provinzhalle. Einige grüßten Dolores und Zacharias und schon bald waren sie in Gesprächen mit anderen Eltern vertieft.
Die Provinzhalle lag nicht weit von unserem Wohnblock und es dauerte nicht lang, bis sie zu sehen war. Mit jedem Schritt fühlte sich mein Magen schwerer an. Ein Glück hatte ich nichts zu mir genommen.
Meine Hand lag immer noch in der von Hayley, und ich war dankbar, dass sie bei mir war. Ich spürte jemand an meiner Seite und bemerkte, dass Caleb aufgeholt hatte und nun neben mir lief. Er sagte kein Wort, aber die Berührung, wenn sich unsere Schultern beim Gehen berührten, beruhigte mich.
Die Provinzhalle war nicht so prunkvoll und majestätisch wie die Stadthalle von Novi Capitis, dennoch kam Hayley nicht mehr aus dem Staunen heraus.
Sie deutete über uns auf das Dach. „Raven, sie mal, die besteht ja ganz aus Glas."
Ich blickte in die Richtung, in die Hayley zeigte. Das Dach bestand tatsächlich nur aus Glas, wodurch man den wolkenfreien Himmel sehen konnte.
„Angehörige bitte hier entlang, Siebzehnjährige zu mir." Ein Ältester stand neben einer Sitztribüne und zeigte den Familien, wo sie sich setzen sollten. Durch seinen weißen Anzug, den jeder Älteste trug, wirkten seine Haare noch weißer. Zacharias winkte mir ein letztes Mal zu ließ sich dann neben Caleb nieder. Ich gesellte mich zu den anderen Siebzehnjährigen der Nordprovinz und wartete auf die nächste Anweisung. Genau wie ich brachten sie vor Nervosität kein Wort heraus. Ein weiterer Ältester brachte uns zu unseren Plätzen, die sich auf der anderen Seite der großen Tribüne befand. Direkt dem Eingang gegenüber erstreckte sich eine weiße Wand, davor ein Projektor, der das Hologramm zeigen wird. An den Wänden reihten sich in regelmäßigen Abständen Lampen, die die Halle mit dem Licht, das durch das Dach hineinfiel, beleuchtete.
Auf einmal wurde die Lampen verdunkelt und eine Älteste erschien auf dem Podest. Ihr ergrautes Haar hatte sie wie alle Frauen zusammengebunden und ihre Lippen waren blutrot geschminkt. Auch sie hatte einen schneeweißen Anzug an. Mit aufrechter Haltung wartete sie, bis Stille eingekehrt war.
„Willkommen zur diesjährigen Paarungszeremonie", begann sie. „Ich werde ohne Umschweife mit dem Namenverlesen anfangen." Ihre Stimme hallte in dem Saal wieder, als sie den ersten Namen vorlas.
„Addison, Rose."
Ein zierliches blondes Mädchen stand auf und trat neben die Älteste auf das Podest. Augenblicklich zeigte das Hologramm das Bild eines Jungen. Unten im Eck standen die Daten des zukünftigen Partners des Mädchens.
Westprovinz: Eddison, Mark
Der Junge in dem Holo lächelte schüchtern, als er das Mädchen ansah und dann endete die Liveübertragung und das Hologramm erlosch. Die Zuschauer klatschten, als das Mädchen sich wieder setzte. Die Älteste rief die nächste Person auf, einen Jungen namens Chris Bell.
Ich schaute nicht auf das Holo, sondern auf meine Knie. Mit jedem, der aufgerufen wurde, fühlte ich mich immer unwohler. Plötzlich stupste mich der Junge neben mir an. Erschrocken sah ich auf.
„Du bist dran", klärte er mich auf.
Gereizt rief die Älteste mich noch mal auf. „Daniels, Raven".
Dann geschahen mehrere Dinge gleichzeitig.
Ich vergaß, wie man ging, meine Beine funktionierten aber irgendwie trotzdem.
Mein Herz schlug doppelt schnell, wie es eigentlich sollte.
Meine Hände wurden schwitzig und ich wischte sie an meinem Overall ab.
Mein Atem ging unkontrolliert und mein Magen sackte ab.
Ich fühlte mich wie ein junges Kalb, das zur Schlachtbank geführt wurde.
Mein Blick wanderte zur Tür. Ich könnte jetzt einfach umdrehen und gehen. Wohin wusste ich nicht, aber ich könnte fliehen. Einfach verschwinden. Aus dem Augenwinkel nahm ich eine kleine Bewegung war. Neben der Tür lehnte eine Person und ich keuchte als ich sie erkannte. Derek hatte seine Lippen aufeinander gepresst und schüttelte leicht den Kopf hin und her. Er hatte wohl erraten was ich gerade eben gedacht hatte. Ich wandte mich wieder dem Podest zu, Dereks Anwesenheit würde auch nichts an meiner jetzigen Situation verändern.
Zitternd stieg ich auf das Podest. Die Älteste wippte ungeduldig mit ihrem Fuß auf und ab. Ich starrte auf die Wand vor mir. Es fühlte sich so an, als würden sich Sekunden zu Stunden ausdehnen. Dann sprang das Holo an und zeigte meinen Partner.
Das erste was ich von ihm wahrnahm, waren seine Augen. Eher Grau als Blau und sie sahen mich an, als könnten sie meine Seele erfassen. Dann die gerade Nase, die vollen Lippen und das markante Kinn. Seine hellblonden Haare waren ordentlich frisiert und brachten seine Gesichtszüge gut zur Geltung. Auch der junge Mann studierte mein Gesicht und sein Blick fand meinen. Als er mich wieder ansah, fiel bei mir der Groschen. Ich war ihm schon mehrmals begegnet.
Der Junge aus der Bibliothek, vor dem ich mich versteckt hatte.
Der Arbeiter an der Miene, mit dem ich fast zusammengestoßen wäre.
Ein wissendes Lächeln umspielte die Lippen des Jungen, den das Holo zeigte. Er wusste, dass ich ihn erkannt hatte. Mein Inneres krampfte sich zusammen, als ich den Namen las.
Novi Capitis: Callahan, Lucian
Der Sohn des Präsidenten.
Das Holo erlosch und ich drehte mich um. Ich ignorierte den Beifall und die überraschten Laute, die die anderen Jugendlichen von sich gaben. Mein Blick schweifte zur Tür und ich versteifte mich.
Derek war gegangen.
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