Ruhe vor dem Sturm
Die nächsten Tage verliefen alle nach demselben Muster. Tobias hatte es sich in seiner ‚Höhle' unter dem Schreibtisch bequem gemacht und verließ diese nur im äußersten Notfall. Durch die Leine, die ihn an den Tisch fesselte, war er ohnehin nicht in der Lage sich viel zu bewegen. Zwar störte ihn das Halsband nach wie vor und manchmal ereilte ihn erneut eine Panikattacke, doch im Grunde tat ihm die Ruhe sehr gut. Er konnte sich nicht daran erinnern, wann er das letzte Mal so viel geschlafen und so wenige Schmerzen verspürt hatte.
Benjamin und Nat sah er vorerst nicht wieder. Elijah war der Einzige, der das Büro betrat. Er leistete dem Omega viel Gesellschaft, sah nach seiner Verletzung und versorgte ihn mit Futter und Wasser. Tobias hatte ihn anfangs immer misstrauisch beäugt, wenn er erschien. Angespannt und jeden Moment erwartend, dass der Alpha sich doch noch auf ihn stürzen würde. Aber mit der Zeit wurde er in Elijahs Anwesenheit entspannter, denn der Alpha wurde nicht einmal aggressiv in seiner Gegenwart. Nicht als der Omega seine Wasserschüssel aus Versehen umwarf und winselnd darauf wartete bestraft zu werden, nicht als er eines Nachts aus einem Albtraum erwachte und ein weiteres Bücherregal zerstörte und auch nicht, als er nicht stillhielt, als Elijah seinen Verband wechselte. Im Gegensatz zu James blieb Elijah ruhig, kümmerte sich gelassen um das Chaos und gab Tobias Sicherheit, indem er den Omega so wenig wie möglich berührte. Irgendwann hatte sich seine Ausgeglichenheit auf Tobias übertragen. Er begann sogar die Gesellschaft des Alphas zu genießen, sie war eine willkommene Abwechslung zu der Langeweile, die sich nach einigen Tagen unweigerlich einstellte, jedes Mal, wenn er allein im Büro zurückblieb.
Elijah sagte nie viel, wenn er Tobias besuchte. Doch der Omega konnte nicht sagen, ob dies einfach zu Elijahs Charakter gehörte oder viel mehr daher rührte, dass ihm ein Gespräch sinnlos erschien, da der Wolf ohnehin nicht in der Lage war ihm zu antworten. Viele Stunden saßen sie einfach schweigend beieinander, dem eigenen Herzschlag oder den Atemzügen des anderen lauschend, den eigenen Gedanken nachhängend. Tobias fühlte sich zwar fürs Erste in Sicherheit, aber seine düsteren Zukunftsgedanken quälten ihn noch immer. Manchmal versuchte er Fluchtpläne zu schmieden. Eine Chance zu finden, zurück zu Sam zu gelangen. Mit jedem Tag rückte die erste Verwandlung seines kleinen Bruders näher und dem Omega musste es unbedingt gelingen, vorher das Rudel der Schattenwölfe zu erreichen. Er wollte sich nicht ausmalen, was passieren würde, wenn Sam dieselbe braune Fellfarbe aufwies, wie er selbst. Das Bild, wie er das Rudel zu spät erreichte und über dem toten Körper seines Bruders kniete, verfolgte ihn in seinen Träumen. Aber vorerst erschien eine Flucht unmöglich. Tobias mochte schwach sein, aber nicht naiv.
Am dritten Tag seiner Ankunft, Elijah legte gerade einen Hasen vor seinen Pfoten ab, den er für Tobias erlegt hatte, wurde plötzlich unverhofft die Tür des Büros aufgerissen. Tobias verkroch sich sofort wieder in die letzte Ecke seiner Höhle, während Elijah sich wütend an den Eindringling richtete.
„Was hatte ich dir zu spontanen Besuchen des Gefangenen gesagt, Nicholas?"
„Dass ich das Büro nicht betreten und ihn erst sehen darf, nachdem du mit ihm gesprochen hast", erklang es schüchtern.
Tobias Herz blieb für einen Moment stehen, nur um sich dann stolpernd wieder in Bewegung zu setzen. Er war sofort auf seinen vier Beinen und lugte mit seinem Kopf über den Schreibtisch, nur um kurz darauf ein freudiges Jaulen von sich zu geben und aufgeregt mit wedelnder Rute um den Schreibtisch herum zu springen. Seine Ohren hatten ihm keinen Streich gespielt. Es war tatsächlich der kleine Junge, jenes Kind, das er vor den Schattenwölfen gerettet hatte. Natürlich hatte er bereits erfahren, dass er lebte, aber er hatte es mit eigenen Augen sehen müssen. Er freute sich unheimlich, ihn jetzt hier vor sich stehen zu sehen, lebendig und gesund. Am liebsten hätte er Nicholas durch das Gesicht geschleckt, ganz der Wolf, der er im Moment eben war, doch die Leine hielt ihn zurück. Es war Nicholas, der den letzten Abstand zwischen ihnen überwand, und sich völlig unerwartet um Tobias Hals warf. Kleine Menschenhände strichen ganz weich durch sein Fell, wie der Hauch einer Feder, er spürte sie kaum, während er seine Schnauze sanft gegen Nicholas Rücken drückte, die Umarmung erwiderte und zufrieden dem Lachen des kleinen Jungen zuhörte.
Leider blieb es nicht lange ein Lachen, die Wiedersehensfreude wich der Erkenntnis, dass trotz allem zu viele Leben bei der Jagd ein Ende gefunden hatten und sie beide dem Tod nur knapp von der Schippe gesprungen waren. Die kleinen Hände griffen nun stärker zu, umschlossen sein Fell verzweifelt. Tobias konnte die Nässe von Tränen an seinem Hals spüren, ebenso wie das Beben des kleinen Körpers. So gerne hätte er dem Kleinen Trost gespendet, ihm beruhigende Worte zu gemurmelt, aber er war dazu verdammt zu schweigen, weshalb er nun seinerseits die Umarmung mehr festigte. Sie verharrten eine Weile, bis der Menschenjunge ein ganz leises „Danke" flüsterte. Elijah ließ sie bis zu diesem Punkt gewähren, dann zog er Nicholas vorsichtig aus der Umarmung und kniete sich zu dem Jungen, so dass sie auf Augenhöhe waren.
„Du hast ihm gesagt, was du sagen wolltest und ich bin mir sicher, er hat sich sehr über deinen Besuch gefreut, aber jetzt bringe ich dich zurück ins Dorf. Man wird dich sicherlich schon vermissen, Nicholas und das Hauptquartier ist im Moment nicht der richtige Ort für dich. Ich verspreche dir, du darfst ihn noch einmal sehen, wenn ich mit ihm gesprochen habe, doch ab sofort wirst du dich bis auf Weiteres von dem Büro fernhalten, verstanden?"
„Ja Alpha", flüsterte Nicholas leise, während er sich von Elijah auf den Arm nehmen ließ. Er winkte Tobias zum Abschied, der unruhig fiepte und zurück zu dem kleinen Jungen wollte, jedoch war die Tür bereits ins Schloss gefallen.
Nach einem erneuten Kampf gegen die Leine, den er wie erwartet verlor, hatte sich der Omega schmollend in die Höhle zurückgezogen. Er nahm es Elijah übel, dass er Nicholas mitgenommen hatte, denn Tobias mochte den Kleinen. Die vergangenen Ereignisse hatten ein unsichtbares Band zwischen ihnen gesponnen und er hätte gern so viel mehr Zeit mit Nicholas verbracht und mehr über ihn erfahren. Dafür würde er den Alpha an diesem Abend mit Ignoranz strafen und nichts von ihm annehmen, aber anders als die Abende zuvor erschien Elijah nicht.
Die ganze Nacht blieb Tobias alarmbereit wach, sich auf das Schlimmste vorbereitend. Es mochte eine Kleinigkeit sein, dass Elijah nicht erschien, doch in der momentanen Lage waren auch Kleinigkeiten entscheidend.
Als die ersten Sonnenstrahlen hereinbrachen und der Tag begann, öffnete sich endlich wieder die Tür. Die Angst kroch wieder empor, machte sich in dem kleinen Büro breit, das vor wenigen Stunden noch Sicherheit versprochen hatte. Dort wo er bereits James erwartete, standen Miles, Nat und schließlich Elijah. Er hätte Erleichterung verspüren sollen. Sie blieb aus bei den tiefen Schatten, die sich über die Gesichter der drei erstreckten. Miles sah am schlimmsten aus, mitgenommen, Dreck und Blut beschmiert, als hätte er gerade einen Kampf hinter sich.
„Wir können nicht mehr warten", zischte Miles, die Stimme vor Anstrengung zitternd.
„Es ist das Richtige", pflichtete ihm Nat bei. Die beiden bauten sich vor dem Schreibtisch auf, während Elijah sich direkt zu Tobias hinunter bückte und ihn für einen Augenblick so intensiv musterte, dass der Omega das Atmen vergaß.
„Die Schattenwölfe haben uns angegriffen", sagte Elijah, „Wir mussten unsere Lager an der Grenze zurücklassen. Ich kann dir nicht noch mehr Tage geben, wir brauchen die Informationen jetzt."
Da wurde Tobias mit Schrecken bewusst, was folgen würde. Sie ließen es wirklich darauf ankommen, würden seine Verwandlung erzwingen, ob er starb oder nicht. Er wusste nicht, wie die Chancen standen, geschweige denn, was ihn erwarten würde. Doch an Stelle von Todesangst, war nur Enttäuschung. Er hatte sich in Elijah getäuscht, hatte geglaubt, er wäre anders als James, dass Leben ihn kümmern würden, dass er nicht so grausam wäre. Aber er war genauso bereit, Opfer in Kauf zu nehmen.
Verachtung stand in Tobias Augen, als er der Alphastimme Folge leistete und aus seiner Höhle empor kroch. Eine Hand von Elijah schloss sich um das empfindliche Fell seines Nackens, hob ihn empor, wie es eine Mutter mit ihrem Welpen getan hätte, nur dass das hier kein Liebesbeweis, sondern reine Erniedrigung war.
Worte wurden gesprochen, doch Tobias schenkte ihnen keine Beachtung, spürte nur das Feuer, das sich in seinem Inneren entzündete. Die fremde Macht, die ihn dazu zwang, seine andere Gestalt anzunehmen. Das Brennen seiner Haut, das Knacken seiner Knochen. Der Schmerz. Und trotzdem hielt er Elijahs Augen fest im Blick, ließ sie nicht los. Nicht als er überlebte, nicht als er wieder ein Mensch war und auch nicht, als Miles und Nat ihn an den Stuhl fesselten.
Elijahs dunkle Pupillen zuckten. Vielleicht war es Mitleid, doch es spielte keine Rolle. Das konnte Tobias nicht gebrauchen. „Es tut mir leid", es war nicht mehr als ein Flüstern, vielleicht sogar ehrlich gemeint.
Da konnte sich der Omega nicht mehr zusammenreißen und lachte zynisch.
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Und Kapitel 7 ist da^^
Für alle die mit Tobias mit fiebern, tut es mir unheimlich leid, aber es braucht einfach etwas Zeit, bis es für den Guten wieder besser läuft. Ich bin einfach kein Fan von plötzlichen Wendungen oder dem Liebe-auf-den-ersten-Blick-Konzept. Auch will ich Elijah nicht nur als den perfekt Guten darstellen, der unfehlbar ist und die Welt im Spaziergang rettet. Ich hoffe, ihr nehmt mir das nicht übel und begleitet Tobias weiterhin <3
Für eure Votes & Kommis kann ich euch gar nicht genug danken, ihr seid die Besten :D
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