Letzte Fäden
"Ich finde, es ist an der Zeit, dass du uns deinen Namen verrätst", brummte Miles unzufrieden und brachte Tobias dazu zusammenzuzucken. Sie saßen zu viert in Elijahs Auto. Der Alpha am Steuer, Nat auf dem Beifahrersitz, Miles und Tobias auf der Rückbank. Zwei Tage waren seit dem Angriff vergangen und wie der Omega es vorausgesehen hatte, hatten die Schattenwölfe ihn am gestrigen Tag eingestellt. Sie hatten beschlossen daraufhin keine Zeit zu verlieren und ihren Plan schnellstmöglich in die Tat umzusetzen. Es war früh am Morgen, als Benjamin sich verabschiedet und sie sich ins Auto gesetzt hatten. Keiner von ihnen hatte ein Wort gesagt, nachdem Elijah den Motor gestartet hatte. Es war eine unangenehme Stille. Tobias war angespannt, mehr als er zugeben wollte. Es stand einfach zu viel auf dem Spiel, dies war vielleicht seine einzige Chance und sie durfte nicht scheitern. Unruhig war er auf seinem Sitz hin und her gerutscht. Bis Miles es nicht mehr ausgehalten und die Stille gebrochen hatte.
Perplex blickte der Omega zu dem Beta und registrierte am Rande, dass auch Elijah und Nat durch den Rückspiegel Miles anstarrten. Ungläubig. Als könnten sie nicht fassen, was gerade passiert war.
"In deinen Augen kann ich deinen Namen leider nicht ablesen, Kleiner", murmelte Miles gereizt, "Und die Fähigkeit des Gedankenlesens ist mir leider auch nicht geschenkt worden. Es wäre also sehr nett, wenn du endlich deine Zähne auseinander bekommen und mir deinen Namen nennen würdest."
"Warum interessiert er dich plötzlich?", hakte Tobias nach, der sich keinen Reim darauf machen konnte, warum Miles auf einmal persönliche Details über ihn erfahren wollte.
"Weil ich immer noch der Meinung bin, dass diese Mission ein Selbstmordkommando ist. Ich weiß, dass wir keine andere Möglichkeit haben und es probieren müssen, aber ich glaube trotzdem, dass es uns Kopf und Kragen kosten wird. Bevor ich mich also wieder mit den Schattenwölfen anlege und Bekanntschaft mit ihren netten Beißerchen machen werde, würde ich doch gerne wissen, für wen ich das tue", brummte der Beta und fuhr sich durch das kurze Haar, das mittlerweile keine Spuren mehr von Dreck und Blut aufwies. Auch seine Blessuren waren, wie für einen Wolf seines Ranges typisch, schnell verheilt.
Der Omega hielt für einen Moment inne. Völlig überrumpelt von diesem plötzlichen Gefühlsausbruch. Dann sagte er leise: "Tobias." Miles nickte. Danach schwiegen sie erneut, auch wenn es dieses Mal etwas angenehmer war.
Irgendwann hatten sie die Grenze und somit auch den Wald erreicht. Elijah brachte den Wagen am Straßenrand zum Stehen. Sie warteten und stiegen schließlich zur vereinbarten Uhrzeit aus, um die Grenze zu überqueren. Während Benjamin hoffentlich für Ablenkung sorgte, betraten sie den Wald zu viert und bahnten sich ihren Weg in Richtung des Territoriums der Schattenwölfe. Tobias Anspannung hatte ihren Höhepunkt erreicht. Seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt, zeitgleich jagte Adrenalin in rauen Mengen durch seine Adern und er lauschte angestrengt, versuchte zu ergründen, ob sich ihnen Schritte näherten, ob sie bereits aufgeflogen waren. Aber es war lediglich das leise Zwitschern von Vögeln zu hören, die in scheinbarem Frieden ihr eigenes Lied sangen. Am äußeren Rand der Grenze wirkte der Wald beinahe unschuldig, als würde der Krieg gar nicht existieren. Keiner von ihnen erlag dieser Illusion. Der friedliche Schein bröckelte, je weiter sie kamen. Der wohlige Geruch von frischem Moos, dem Tau auf den Blättern und Erde schwand mit jedem Meter. Dafür wurde die altbekannte schwere Note von Blut immer penetranter, ein Hauch von Tod war allgegenwärtig. Er war noch frisch von der letzten Jagd.
Erinnerungen wollten an die Oberfläche, griffen mit zähen Klauen nach seinem Herz und seinem Verstand. Es war immer wieder derselbe Teufelskreis, indem er sich bewegte. Er hasste die Schatten so abgrundtief, doch sie ließen sich nicht abschütteln, wohl aber für den Moment verdrängen, weil er den Kampf nicht aufgab und in seinen Gedanken Sams Namen wie ein Mantra abspielte.
Tobias erlaubte es sich nicht, sich der Tragweite des Ganzen bewusst zu werden, versuchte zu verdrängen, wo sie sich befanden, welche Gefahr in der Luft lag und was sie erwarten würde. Stattdessen konzentrierte er sich ganz auf ihr Ziel. Die Tiefen des Waldes hatten sie hinter sich gelassen, die Bäume wurden weniger, die ersten Häuser kamen in Sicht. Benjamin hatte es also tatsächlich geschafft. Doch keiner von ihnen brach in Freudentänze aus, noch kam ein Laut über ihre Lippen. Sam würde Wächter an seiner Seite haben, die auf keinen Fall ihren Geruch wahrnehmen durften, andern Falls würden sie sofort James informieren. Deshalb mussten sie sich beeilen, aber gleichzeitig leise sein, eine Mischung, die unmöglich erschien.
Dennoch leitete Tobias sie zum Rudelhaus, sie pressten sich fest an die Hauswand unterhalb des Fensters des Wohnzimmers, nur Miles streckte sich vorsichtig und erhaschte einen Blick hinein.
"Zwei Gammas, ein Jüngling", flüsterte er leise, "also lasst uns keine Zeit verlieren."
Mit einem Satz waren Elijah und Miles an der Haustür und brachen sie entzwei, Nat und Tobias waren ihnen dicht auf den Fersen. In Sekundenbruchteilen hatten sie das Wohnzimmer erreicht und ganz wie erhofft, war die Überraschung auf ihrer Seite. Bevor einer der Wächter erfassen konnte, was geschah, hatte Elijah den einen bereits gepackt und warf ihn heftig zu Boden, wo er ohnmächtig liegen blieb. Miles Opfer zeigte sich etwas widerspenstiger, aber schließlich gelang es dem Beta ihm einen Schlag gegen den Kopf zu verpassen, so dass auch der zweite Wächter ausgeschaltet war.
Tobias hatte keine Augen für die Kampfszenen. Sie rauschten an ihm vorbei, ohne das er von ihnen Notiz nahm. Seine Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf den Jungen, der am Rande des Wohnzimmers auf einem Sofa saß und ihn anstarrte. Eine schwere Last fiel von seinen Schultern, als er feststellte, dass er vollkommen unversehrt war. Sam sah noch genauso aus, wie vor ein paar Tagen. Nur sein Grinsen fehlte. Wahrscheinlich war es der Schock über ihr unvermitteltes Eindringen. Tobias schluchzte. Tränen der Freude und Erleichterung liefen ihm unkontrolliert über die Wangen, als er auf seinen Bruder zulief und ihn zitternd in seinen Arme zog. Vorsichtig. Behutsam, war er doch das Wertvollste in seinem Leben.
Das etwas ganz und gar falsch war, drang erst langsam in sein Bewusstsein. Er war zu überwältigt um zu bemerken, dass Sam einfach nur verharrte. Erst nach einigen Atemzügen, in denen er den vertrauten Geruch seines Bruders gierig einzog, wurde er sich der Tatsache bewusst, dass seine Umarmung unerwidert blieb.
"Sam?", unsicher zog er sich zurück.
Der Ausdruck der blauen Augen seines kleinen Bruders schlug auf ihn ein wie Eiswasser. Sie glühten vor Hass, vor Verletzung und Abneigung. Er erkannte Sam nicht wieder. Nie hatte er ihn so angesehen, niemals.
"Wir sind hier um dich zu retten", kam es Tobias über die Lippen.
"Da hat mir James etwas anderes erzählt", antwortete Sam tonlos und Tobias Magen verkrampfte sich allein bei der Erwähnung dieses Namens, "Er hat gesagt, du hättest dich geweigert für das Rudel zu jagen, du hättest sogar die Beute verjagt und als er dich zur Rede gestellt hat, hättest du das Rudel verlassen. Ich hatte dich gebeten, ihnen eine Chance zu geben, Tobias. Zu mindestens den Versuch zu unternehmen, dich hier einzuleben, aber du hast nichts Besseres zu tun gehabt, als dich undankbar zu zeigen und mich zurückzulassen. Du hast mich allein gelassen. Nur weil es dir woanders gefällt, obwohl du weißt, wie wichtig mir James und die anderen sind."
"Er hat gelogen, Sam! Ich hätte dich nie einfach verlassen. Sie haben Jagd auf Menschen gemacht, das konnte ich nicht zulassen. Nicht mehr. Ich weiß, ich habe zu viel vor dir geheim gehalten, aber du musst mir glauben, die Schattenwölfe wollen dir nichts Gutes. Du musst mit uns kommen", bat Tobias der Verzweiflung nah. Noch nie waren Sam und er soweit voneinander entfernt gewesen. Es schmerzte ihn, welche Lügen ihm James erzählt hatte.
"Das würde James nie tun! Er ist kein Bösewicht, wie du ihn immer beschreibst. Er kümmert sich um mich und um das Rudel und hat alles versucht, um es dir Recht zu machen, aber du hast immer nur gejammert und ihn in ein schlechtes Licht gezogen", Sam hatte mittlerweile angefangen zu schreien, "Ich bin es leid, Tobias. Akzeptiere endlich, dass das meine neue Familie ist. Ich will nicht mehr mit dir in der Vergangenheit leben. Komm zurück oder lass es, aber ich werde nicht dir kommen."
"Aber-"
"Ich will nichts mehr hören! Ich hasse dich! Du hast geschworen, dass wir immer füreinander da sind und dann verlässt du mich, für ein verfeindetes Rudel!"
Es war, als hätte man die letzten Fäden gekappt, die Tobias zusammenhielten. Es fühlte sich an, als würde es ihn entzwei reißen. Nichts war mit diesem Gefühl vergleichbar. Alles woran er sich geklammert hatte, war ihm gerade genommen worden. Sein Schluchzen wurde unkontrolliert. Seine Sicht verschwamm. Er war kurz davor zusammenzubrechen.
"Im Gegensatz zu deinem Bruder ist es mir herzlich egal, ob du mitkommen willst oder nicht", zischte Miles, "Zur Not nehmen wir dich mit Gewalt mit. Ich habe meinen Hintern nicht riskiert, um mit leeren Händen zu gehen."
"Bitte", setzte da Tobias noch einmal an, obwohl seine Stimme durch das Schluchzen kaum verständlich war, "du musst mitkommen!"
Verzweifelt streckte er seine Hand nach Sam aus, versuchte nach ihm zu greifen. Da schnellte Sam nach vorn und stieß seinen Bruder mit aller Kraft von sich. Das Training mit James hatte ihn unheimlich stark gemacht und Tobias traf es völlig unvorbereitet, weshalb er mit voller Wucht auf dem Boden aufprallte. Der Omega nahm den Aufprall kaum war, dafür war der Schmerz in seinem Inneren viel zu präsent. Sein Herz schien auseinander zu fallen.
"Ich habe gesagt, ich bleibe hier", schrie Sam, "Es ist für euch ohnehin zu spät."
Es brauchte einen Moment bis klar wurde, was er damit meinte, bis in der Ferne Wolfsgeheul erklang, das stetig lauter wurde.
"Du hast dein Rudel informiert", stellte Elijah trocken fest. Demnach war es nur eine Frage der Zeit, bis James hier auftauchen würde. Vielleicht nicht genug um zu fliehen.
"Du elendiger...", Miles hatte sich wütend in Bewegung gesetzt, drauf und dran sich auf Sam zu stürzen. Es war klar, dass er Sam verletzten würde, getrieben von seiner Wut und der Enttäuschung, dass sie gescheitert waren. Es stand auch außer Frage, dass Elijah oder Nat ihn nicht aufhalten würden. Sie waren genauso wütend wie wer. Doch trotz seines Schmerzes und der absoluten Fassungslosigkeit über Sams Worte konnte Tobias es nicht zulassen, dass Miles seinen kleinen Bruder verletzte. Er hatte geschworen ihn zu beschützen. Egal was kommen und egal was es ihn kosten würde.
Instinktiv rappelte er sich auf, verwandelte sich rasend schnell und sprang zwischen die beiden. Miles Faust stoppte vor seinem Fell. Nur wenige Zentimeter dazwischen. Tobias rührte sich nicht, erwartete viel mehr den nächsten Schlug. Dieser blieb jedoch aus. Miles hatte indes seine Augen soweit aufgerissen, dass man fürchten musste, sie würden ihm gleich rausspringen. Elijah, Nat und Sam schnappten nach Luft. Nur Tobias konnte sich ihr Verhalten nicht erklären, bis sein Blick auf sein Fell fiel, das Miles beinahe berührte. Die Haare, die einst braun gewesen waren, glänzten nun in einem schillernden Weiß.
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*Konfetti werf* Ich bin außer mir vor Freude, dass wir die 1k Reads geknackt haben und kann es gleichzeitig noch nicht so ganz fassen, weil ich nicht gedacht hätte, dass diese Geschichte jemals so viele Reads erreicht. <3
Nach meinem Hänger beim letzten Kapitel läufts wieder besser und ich hoffe, ihr verkraftet den Cliffhanger :D Hättet ihr gedacht, dass Sam sich so sehr sträubt? Habt ihr Vermutungen, wie's weiter geht? :P
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