TROST
Keiner kannte die junge Frau.
Sie war mit dem älteren Sohn der Familie gekommen.
Wie alle Gäste trug sie schwarz.
Ihr Kleid war knielang, es hatte lange, transparente Ärmel.
Ihre Füße steckten in glänzenden Pumps.
Ihre langen braunen Haare fielen locker auf ihren Rücken.
Sie war blass und ungeschminkt.
Eine Tasche hatte sie nicht dabei.
Hand in Hand gingen sie durch das eiserne Tor.
Während der Trauerrede in der Kapelle sah der junge Mann zu Boden.
Sein jüngerer Bruder war tot.
Die fremde Frau neben ihm hielt während der ganzen Zeit seine Hand und strich ihm mit der anderen über den Arm.
Sie blickte nicht auf den steinernen Boden, ihre Augen fixierten unentwegt den Mann neben ihr, dessen Schmerz beinah mit Händen greifbar war.
Die Minuten verstrichen langsam, die Luft in der Kapelle war dünn.
Endlich konnten sie hinaus treten.
Doch nun begann die eigentliche Beerdigung.
Der Mann straffte seine Schultern und atmete tief durch.
Er lächelte gequält auf die Frau neben sich herab.
Sie erwiderte das Lächeln.
Sie hielten sich im Hintergrund.
Als der Sarg hinab gelassen wurde, konnte der junge Mann seinen schrecklichen Verlust nicht länger verbergen.
Er machte sich nicht die Mühe, seine Augen zu wischen.
Die Frau, die keiner kannte, schien genau zu wissen, was zu tun war.
Sie zog den Mann ihre Arme und hielt ihn.
Er schmiegte sein Gesicht an ihren Hals und ließ seinen Tränen freien Lauf.
Die junge Frau hatte bis zu dem Moment erstaunlicherweise die Fassung gewahrt.
Als aber die salzigen Tränen ihres Freundes ihren Hals berührten, bröckelte auch ihre Fassade.
Sie zog den Mann näher und verbarg ihr Gesicht in seinem dichten Haar.
Ohne Zweifel schmerzte sie nicht das Ableben des Mannes in Sarg, sondern die Qual ihres Geliebten.
Man hatte den Eindruck, dass sie in diesem Moment für zwei stark sein musste.
Für den Mann, dessen Trauer ihn folterte und für sich selbst.
Das Paar erschien nicht zum Leichenschmaus.
Der Sohn der Familie ließ sich entschuldigen.
Als endlich alle Angehörigen des Toten den Friedhof verlassen hatten, trat das junge Paar allein an das frische Grab.
Der Mann hielt die Hand der Frau fest umklammert.
Seine Tränen waren getrocknet.
Wenn man genau hingesehen hätte, wären die Spuren auf seinen Wangen aufgefallen.
Der Wind, der plötzlich auffrischte, ließ die zwei frösteln.
Gleichzeitg trug er ihre Stimmen in die Ferne.
"Ich kann dir gar nicht genug danken", sagte der Mann leise.
"Ich weiß, dass du ihn nicht mochtest", fuhr er stockend fort, "und trotzdem bist du mitgekommen."
Die Frau sah ihm in die Augen.
"Ich hätte dich doch nicht allein am Grab deines Bruders stehen lassen können. Ich bin um deinetwillen gekommen. Weil ich dich liebe."
Er nahm ihr Gesicht in seine Hände.
"Ich liebe dich", sagte er und küsste sie innig.
"Es wird Zeit, dass du mich deiner Familie vorstellst."
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