Schnee von Gestern
Langsam hielt Lysander das wirklich nicht mehr aus; er machte sich Vorwürfe, musste ständig heulen und vor allem war da dieser tief verankerte Schmerz in seiner Brust, der niemals zu weichen schien. Aber er konnte doch gar nichts tun ...
»Sander, was ist los? In letzter Zeit guckst du immer so traurig, ist was? Du kannst es mir erzählen, ich sage es auch nicht Mama und Papa.«
Die klaren grünen Augen seiner kleinen Schwester durchbohrten ihn förmlich und er konnte dem Blick nicht lange standhalten; wenn es um sowas ging, merkte Sofie immer sofort alles - ein Segen wie ein Fluch. Aber konnte er ihr erzählen, was los war? Lustig machen würde sie sich darüber nicht, aber vielleicht überdramatisierte sie das Ganze dann. Und sie war neunzehn, hatte gerade erst die Schule abgeschlossen, noch nie eine Beziehung; das Mädchen hatte keine Ahnung, wie übel einem das Leben mitspielen konnte! Wenn er ihr das erzählte, könnte es folgen für alle Beteilichten haben. Er kam auf den Entschluss, sie erstmal zu testen.
»Na ja ... Ich mache mir einfach nur Sorgen, um einen alten Freund.«
Sofie zog eine ihrer blonden Augenbrauen hoch - passend zu ihren langen, blonden Haaren - und unweigerlich fragte Lysander sich mal wieder, ob die beiden überhaupt verwandt waren; er für seinen Teil ließ sich seine von Natur aus schwarze Mähne bis zu den Schultern wachsen und verstand eigentlich überhaupt nicht, wie zwei Geschwister so unterschiedlich aussehen konnten. Nicht mal Christian hätte jemals von sich aus gedacht, dass Sofie Lysanders Schwester war.
»Was hat dein Freund denn so schlimmes?«
»Na ja, sein Freund betrügt ihn wohl öfter und da er ihn liebt, weiß er nicht, was er machen soll. Sein Name ist übrigens Daniel. Ich mach mir halt einfach Gedanken, weil ich ihm auch nicht wirklich helfen kann«, log er schnell und nahm einen Schluck Tee. Es schmeckte nach Kamille; er fand, Tee dieser Sorte zog einfach die Stimmung runter und er stellte die Tasse wieder auf den Sofatisch.
»Also«, sagte er.
»Was meinst du zu der Sache?«
»Hm, wenn Daniel damit nicht glücklich ist, muss er wohl mit seinem Freund reden.«
Sie nahm ebenfalls ihre Tasse und nippte daran, so dass ihr der heiße Dunst ins Gesicht schlug. Nach einer kurzen Stille setzte sie die Tasse - leer - wieder ab und seufzte.
»Und wenn das nicht hilft, muss Daniel meiner Meinung nach Schluss machen. Das bringt alles nichts mehr.«
Ihre harten Worte trafen ihn und er sackte etwas zusammen, krallte sich die Nägel in die Handballen; Schluss machen. Christian verlassen, wenn er es nicht einsehen wollte. Konnte er das überhaupt?
Eine halbe Stunde später verabschiedete er sich von seiner Schwester und machte sich auf den Heimweg; es war Winter und die Welt schien umhüllt mit einer feinen Schicht Puderzucker. Lysanders Atem wurde zu kleinen Dampfwölkchen, die in den Himmel hinauf stiegen und er war meist ganz allein auf den Straßen; es regte ihn weiter zum Nachdenken an. Christian liebte ihn und er liebte Christian, oder stimmte das nicht? Warum betrog er Lysander dann und vertuschte es nicht mal? Merkte er etwa nicht, dass das verdammt wehtat?! Seufzend schloss er die Haustür auf und ging die Treppen nach oben, in ihre gemeinsame Mietwohnung - sie teilten sie sich nun schon seit fünf Jahren. Ursprünglich hatte die Wohnung Christians Großvater gehört und als jener vor fünf Jahren gestorben war, hatte das Pärchen diese Gelegenheit am Schopf gepackt. Damals waren sie noch frisch verliebt und so glücklich gewesen. Er versuchte, jegliche Erinnerungen an diese Zeit zu verdrängen und trat in den Flur der Zwei-Raum Wohnung; sein Freund schien nicht da zu sein. Zum Glück, so musste er noch nicht mit ihm reden. Erleichtert tappte Lysander ins Schlafzimmer, um sich etwas hinzulegen. Allerdings wurde das leider nichts, da das Bett schon von zwei anderen Männern besetzt zu sein schien, als er die Tür öffnete. Und einer von beiden war Christian ...
Keuchend blieb er schließlich vor einem kleinen Café stehen. Lysander war weg gerannt. Weg aus der Wohnung, weg aus dem Viertel und weg von ihm - inklusive diesem anderen Mann, der da noch so gelegen hatte. Im Bett, bei Christian. In dem Bett, wo jener eigentlich Nacht für Nacht mit Lysander schlief. Alles in seinem Körper begann komisch zu kribbeln und er schlang die Arme um sich, weil ihm plötzlich entsetzlich kalt war; hatte Christian etwa schon öfter in ihrem gemeinsamen Bett mit einem anderen geschlafen?! Und hatte er danach überhaupt das Bettzeug gewechselt?! Ein dicker Kloß machte sich in seinem Hals breit und drückte aus ihm ein leises Schluchzen. Am Liebsten wäre er im Boden versunken, von der Welt ausradiert worden ... Doch das alles passierte einfach nicht und so sank er nur kraftlos in der nächsten Seitengasse zu Boden, wo er Rotz und Wasser heulte. Nach einer Weile schmerzten seine Augen, waren rot und geschwollen und jede Tränenflüssigkeit war versiegt. Selbst Weinen erschöpfte ihn nur noch. Was wohl wäre, wenn er hier einfach liegen bliebe? Sich vom Schnee berieseln ließ und nicht mehr aufstand. Er hatte ja nicht mal eine Jacke an, also konnte er doch ganz leicht erfrieren und alles wäre vorbei. Er schloss träumerische die verquollenen Augen. Wie schön das wäre ...
»Hey! Was ist mit dir?«
Lysander wollte erschrocken aufspringen, oder zumindest die Augen öffnen, um zu sehen, wer da vor ihm stand, doch jegliche Kraft hatte ihn verlassen und so blieb er einfach sitzen, angelehnt an die kalte Backsteinmauer. Aber später noch würde er sich an diese warme, besorgte Stimme erinnern, weil sie unglaublich beruhigend und herzlich war.
Wärme umfing ihn, nährte jede Faser seines Körpers und er fühlte sich geborgen. Schön. Es war einfach unbeschreiblich schön dieses Gefühl. Es könnte ewig so bleiben, wie es gerade war; warm, gemütlich, ruhig und keine Sorgen fanden den Weg hierher, um dieses kleine Fleckchen Glück zu zerstören. War er tot? Die Frage bahnte sich in seinem Kopf an, als seine letzte richtige Erinnerung wieder in ihm aufstieg. Konnte es sein, dass er von all seinem Leid erlößt war und jetzt für immer hier blieb? Seltsame Erleichterung brach über ihn hinein. Nie wieder müsste er sich Gedanken um Christian machen, nie wieder musste er darüber nachdenken sich zu trennen - wie Sofie es für richtig hielt. Lysander war jetzt losgelöst, frei. Und tot, dachte er im selben Moment. Es würde Sofie und seinen Eltern das Herz brechen und vielleicht sogar Christian. Vielleicht.
»Bist du ... wach?«
Eine Hand strich vorsichtig über Lysanders Wange und er öffnete erschrocken und etwas mühsam die verquollen und verklebten Augenlider. Er war nicht tot. ER WAR NICHT TOT. Er war kurz davor zu weinen, aber da erblickte er vor sich zwei dunkelgrün schimmernde Augen mit bernsteinfarbenden Sprenkeln. Ein Mensch. Es war jemand bei ihm.
»Ähm ...«
Vorsichtig stützte er sich mit den Händen auf der Matratze ab und richtete den steifen Oberkörper auf. Wie war er hier her gekommen? Er befand sich in einem kleinen Zimmer mit vergilbten Wänden, die sicher mal weiß gewesen waren, zerkratztem Laminatbodem und ebenso alten, fragwürdigen Möbeln; ein kleiner Schreibtisch, der so aussah, als würde er gleich zusammenbrechen, ein großer Schrank, wo eine der Türen komisch verdreht hing, eine schmutzige Klapcouch und zu guter letzt das schmale Bett mit der allerdings erstaunlich weichen Matratze, auf der er bis eben geschlafen hatte. Eigentlich war der Raum js nicht gerade einladend, doch für Lysander war es, als strahle er eine gewisse Wärme aus, die einen umhüllte.
»Hier, für dich. Komm erstmal zu Kräften.«
Geschirr klapperte und wenig später wurde ihm eine dampfende Tasse, die nach Kräutern roch, vor die Nase gehalten. Zögerlich nahm er sie entgegen und trank einen Schluck. Und noch einen, und noch einen - bis die Tasse leer war. Bis zu diesem Moment war Lysander gar nicht klar gewesen, wie durstig er war. Und hungrig, das auch. Langsam kam seine Besinnung zurück, er fühlte wieder deutlicher, nahm die Umgebung und seinen Körper war und vor allem lichtete sich der Nebel vor seinem Geist.
»Hast du Hunger?«
Die grünen Augen schauten ihn fragend am und zum ersten Mal betrachtete Lysander sie genauer; da waren ja nicht nur die schönen Augen, sondern auch ein Mensch. Ein Mensch mit schwarzen Haaren, die durchzogen waren von einigen dunkelbraunen Strähnen, mit guter Statur und schönen Lippen. Und mit warmer, beruhigender Stimme. Die Stimme, die Lysander zu letzt gehört hatte, als er im Schnee saß und sterben wollte.
»Hast du mich gerettet?«, platzte es aus ihm heraus. Denn möglich wäre es; Lysander hatte ein schmale Figur und der Fremde sah aus, als wäre er schon stark genug ... Aber würde ein Fremdee ihn tragen? Bis zu sich nach Hause? Lysander glaubte kaum, dass sich jemand die Mühe machen würde - besonders nicht, wenn es um ihn selbst ging. Dafür war zu wenig wert, seiner Meinung nach.
»Na ja ... Schon. Ich konnte dich doch nicht da draußen liegen lassen. Außerdem bist du wirklich, wirklich leicht, deshalb konnte ich dich einfach in meine Wohnung tragen. Die ist ja praktischer Weise auch gleich um die Ecke - Ach man, was fasel ich hier denn bloß? Jedenfalls hoffe ich, es geht dir gut.«
Der schöne Mund verzog sich zu einem Lächeln und Lysanders Magen verkrampfte sich. Dieser Mann hatte ihn doch hier her gebracht und sich um ihn gekümmert. Das alles kam ihm komisch und unwirklich vor.
»Ähm, ja ... Mir geht es gut, danke. Ich weiß nur nicht ganz, was ich jetzt sagen soll.«
»Warum? Ist doch ganz einfach, sag, was du denkst. Ich heiße übrigens Chris und nein, ich habe dich nicht entführt, du kannst jeder Zeit gehen.«
Chris. Fast wie Christian. Aber anders als bei letzterem durchfuhr Lysander bei diesem Namen kein Schock oder so etwas. Er fand ihn sogar ganz nett und hübsch. Außerdem war Chris seltsam charmant und witzig. Lysander glaubte, ihn jetzt schon zu mögen.
»Ich dachte eigentlich auch nicht, entführt worden zu sein. Und mein Name ist Lysander, wie dieser Kerl aus Der Sommernachtstraum. Meine Eltern haben eine Faible dafür.«
Er beugte sich vor und grinste.
»Lysander. Wird der nicht von seiner Geliebten umschwärmt, als er sich durch einen Zauber in eine andere verliebt? Heißt das, du hast möglicher Weise eine treue Freundin, die dich liebt?«
Chris guckte ihn neckend an und in dem Moment wurde Lysander klar, dass das hier mehr als nur eine Unterhaltung war. Chris flirtete mit ihm. Und es gefiel Lysander. Sogar sehr.
»Treu und Freundin - Dinge, die in meinem Leben nicht existieren.«
»Oh, was existiert dann? Zehn Katzen?«
»Nein. Ein idiotischer Freund, der mich betrügt.«
»Oh.«
Leicht erschrocken wich Chris zurück und rieb sich verlegen den Nacken.
»Entschuldige«, murmelte er.
»Ich wollte dir nicht zu nahe treten.«
»Alles okay, wirklich ... Na ja, ich hab ihn mal wieder auf frischer Tat ertappt und bin weggerannt. Deswegen lag ich auch im Schnee, ich hatte nur noch weg gewollt. Und zwar so richtig weg, wenn du verstehst. Ich meine, er hat es in unserem Bett getan. In unserem Bett!«
Lysander merkte, wie ihm langsam Tränen in die Augen schossen. Doch die Worte sprudelten nur so aus ihm heraus und er konnte es nicht mehr zurück halten.
»Bis dahin hatte ich eigentlich nur einen Verdacht - die Rechnung eines Hotels für ein Doppelzimmer im Jackett, der Duft eines anderen Deos an ihm ... Fremde Kleidung im Koffer, wenn er von einer Geschäftsreise wieder kam. Aber DAS hat mir, glaube ich, den Rest gegeben. Und das schlimmste ist«, Lysander wischte sich ein paar Tränen aus dem Augenwinkel, »wenn er mich doch nicht mehr liebt, warum lässt er es dann so kommen und macht nicht einfach Schluss? Warum sagt er denn nichts?!«
Das war der Moment, wo er wirklich los heulte. Laut und mit Schnodder an der Nase - das ganze Programm. Doch Chris zog ihn nur vorsichtig in seine Arme, ließ ihn Wärme und Geborgenheit spüren, und sagte:
»Ich würde dich niemals betrügen, Lysander.«
Die Worte schienen ihn härter zu treffen als gedacht. Ich mach Schluss. Christians Gesicht glich dem eines Kindes, das gleich zu weinen begann, trotz allem, was er getan hatte. Irgendwie gefiel Lysander das ein bisschen und um ein Haar hätte sich ein Lächeln auf seinem Gesicht breit gemacht. Endlich war mal nicht er der jenige, der litt.
»Was?! Sander, was soll das denn plötzlich?!«
»Christian, ich diskutiere jetzt nicht mit dir. Die Wohnung kannst du meinetwegen behalten, ich ziehe aus und das war's dann mit uns. Ich habe es satt, dass du mich betrügst.«
»Aber das war nur-«
»Hast du mal daran gedacht, wie sich das anfühlt? Betrogen zu werden? Zu wissen, dass der andere weiß, dass man es auch weiß? Und zu wissen, das der andere - du - nichts dagegen tut?! Weist du, ich will keine Entschuldigung und auch keine Erklärung mehr von dir. Es ist jetzt offiziell aus. Punkt. In den nächsten Tagen hole ich meine Sachen. Einen schönen Tag noch.«
Rums. Damit war Lysander aus der Tür und ging zügig durch das Treppenhaus. Er fühlte sich berauscht, gut und bedeutend. Er war kein Nichts mehr, dass nur kuschte und nie etwas sagte. Er war begehrenswert, hatte Stolz und Wert. Kurz er verdiente etwae besseres als Christian - nämlich Chris, der vor dem Haus auf ihm wartete und ihn lächelnd empfing. Er trug eine rote Wollmütze, die wirklich knuffig wirkte. Lysander ließ seinen Blick über ihn schweifen. Das gehörte jetzt alles ihm. Grinsend kam er näher und schlang seine Arme um den kräftigen Hals.
»Hi.«
»Hey. Nah, alles geklärt?«
Hand in Hand gingen sie über den von Matsch bedeckten Boden. Es hatte getaut und langsam hielt wohl wirklich der Frühling Einzug.
»Ja, es ist jetzt alles gut.«
Lysander drückte ihm fröhlich einen Kuss auf die Wange.
»Und was ist jetzt genau mit Christian?«
»Ach, der ist jetzt Schnee von Gestern.«
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