Lies & Roommates | Teil 1
»Sag mal willst du jetzt eigentlich ewig rumheulen?«
Genervt streckte Marco sich über die Kante des Doppelstockbettes, um zu seinem Mitbewohner nach unten sehen zu können. Dort saß - ganz wie erwartet - André, unzählige Taschentücher auf der Matratze verteilt und eine halb leere Schokoladenpackung auf dem Schoß.
»Kümmer dich um deinen eigenen Scheiß!«, fauchte der Jüngere schniefend, griff ein gebrauchtes Taschentuch und warf es nach ihm. Seufzend wich Marco aus und verzog sich wieder nach oben.
»Okay«, meinte er etwas lauter.
»Wenn du dem Typen ewig hinterher trauern willst - bitte! Ich misch mich da nicht mit ein, das selbe Trara gibt's schon mit meiner Schwester.«
»Dafür verstehst du dann aber ziemlich wenig davon!«, kam es unwirsch zurück. Eine Süßigkeitenverpackung knisterte. Gott, wo zur Hölle bunkerte der Typ all das Zeug nur?! Marco schüttelte genervt den Kopf, so dass seine schwarzen Locken sich in seinem Gesicht kringelten; oh doch, er verstand sogar schon sichtlich zu viel davon, so wie Isabella ihn immer vollheulte. Und trotzdem machte sie später nochmal den selben Fehler und dann nochmal.
»Tjah, wenigstens verstehe ich, dass es nicht viel bringt, Arschlöcher zu daten!«
Ende der Diskussion und Marco schnappte sich von der kleinen Wandablage sein Buch. Das Zimmer war wirklich clever eingerichtet worden, so dass auch jeder - egal ob er oben oder unten schlief - eine Lampe, Ablage und eine Steckdose für sich allein vorzuweisen hatte. Trotzdem half das jedoch nicht gegen nervige, unfreiwillige Mitbewohner, die mal wiedet verlassen worden waren. Nicht, dass es ihn groß störte, wenn André sich mich Jungs einließ - es störte ihn nur, dass er die Sache am Ende ausbaden musste. Und das schon drei Mal, in kaum zwei Monaten Schule. Vielleicht hätte er sich das mit dem Internat doch noch mal überlegen sollen. Seine Mutter hatte ja gleich gemeint, dass das nichts wurde; kaum Privatsphäre, weit weg von Zuhause, nicht das beste - oder eher ihr hausgemachtes - Essen, zudem konnte er sich nicht mehr um seine kleinen Geschwister kümmern. Über letzteres war er allerdings sogar sehr froh, denn im Vergleich zu denen war André noch ein Kinderspiel. Aber immerhin ein Kinderspiel mit eingebauter Dramafunktion, die André auch benutzte.
»Als ob du eine Ahnung von den Typen hast, die ich date!«
... zum Beispiel genau jetzt. Denn dass jemand seinen Geschmack kritisierte, das ließ der Blonde nicht so leicht auf sich sitzen - stattdessen schlug er von unten auf Marcos Matratze ein, so dass jenem ein kleines Erdbeben beschehrt wurde.
»Wenn du an diesem blöden Internat bessere Typen kennst, dann zeig sie mir doch!«
»Gerne«, meinte Marco trügerisch ruhig und packte sein Buch weg; Lesen konnte er so eh nicht.
»Über dir sitzt doch schon einer, du Idiot. Nur dass ich nicht mit dir ausgehen würde!«
Die Schläge verstummten. Der Ältere fühlte sich plötzlich unerwartet schlecht; dass die Beziehungen nicht so lange hielten, lag ja eigentlich nicht mal an André. Auf einem Jungsinternat war es eben nunmal so, dass die meisten weit weg von Zuhause was ausprobieren wollten und wer wäre dazu besser geeignet als der süße Junge aus der Neunten, der sich gleich zu Anfang als schwul geoutet hatte? Nur verloren die anderen Jungs dann eben auch schnell mal das Interesse, wenn ihnen die Sache zu ernst wurde oder ihnen im Endeffekt doch nicht so ganz lag. Manche suchten sich eben doch lieber eine Freundin in der nächsten Stadt, die sie am Wochenende besuchen konnten. So wie Marco es versucht hatte - mit dem Ergebnis, dass sie am Ende doch nicht »so viel« wollte. Dabei hatte es zu Anfang ganz danach ausgesehen; Händchen halten, Eis essen, sie war mit ihm sogar in einen Unterwäscheladen gegangen. Und dann hieß es plötzlich »Sorry, du bist nicht ganz mein Typ«. Und das gestern Abend, ganz unvermittelt, zufällig nachdem schon André verlassen worden war und rum heulte wie ein Kleinkind. Fuck, das Ganze war echt kompliziert und verdammt nervig. So nervig, dass er heute Abend ganz bestimmt nicht seine Mutter anrufen würde - so wie sonst jeden Sonntag - nur um ihr von seiner Misere namens Leben zu erzählen. Zuerst sollte er nämlich wenigstens irgendwas hinkriegen, was all das linderte.
»Sorry«, sagte er deshalb versöhnlich nach unten gerichtet.
»Du weißt, ich hab's nicht so gemeint, ich mag es nur nicht, wenn du verlassen wirst - für mich ist das eben auch nicht einfach, wenn es dir nicht gut geht. Und wen du datest, geht mich auch nichts an, außerdem sind deine Freunde auch keine Arschlöcher ...«
»Schon gut«, meinte André und warf etwas zu ihm nach oben; es war ein verpackter, kleiner Mini-Snickers, der unsanft auf Marcos Bettdecke landete. Eine bessere Entschuldigung wurde er von seinem Mitbewohner wohl nicht bekommen.
»Ich glaube, in nächster Zeit lasse ich das mit den Typen wohl einfach ...«
»Vielleicht besser so, aber nur wenn du das auch wirklich willst.«
Marco griff dankbar nach dem Riegel und packte ihn aus. André schwieg. Damit war die Sache fürs Erste wohl wirklich gegessen.
Kaum eine Woche später allerdings bahnte sich schon das nächste Problem an, als Marco in den Matheunterricht gehetzt war - oder eher in die Pause, denn er hatte es doch wirklich geschafft, die ersten beiden Stunden zu verschlafen! Und alles nur, weil André ihn nicht geweckt hatte. Gut, aber der machte gerade ohnehin keine schöne Phase durch. Der Ältere wünschte sich inzwischen schon geradezu, dass sein Mitbewohner endlich wieder einen neuen Typen anschleppte, damit er wenigstens zeitweise wieder in der Gute-Laune-Sphäre schwebte.
Seufzend ließ der Schwarzhaarige sich auf seinen Platz fallen, neben sich Jerome; rote Haare, hübsches Gesicht, spielte Fußball und wäre wohl echt beliebt bei den Mädchen, wenn sie hier welche gehabt hätten.
»Ich hab dem alten Nässler erzählt, du wärst krank«, eröffnete der Junge auch schon grinsend das Gespräch. Dafür, dass sie noch nicht so lange zusammen zur Schule gingen, verstanden sie sich recht gut und quatschten oft mit einander. Wahrscheinlich sollten sie auch ansonsten mal was mit einander unternehmen, was sicher eine gute Chance wäre, um sich richtig anzufreunden.
»Danke, du bist meine Rettung! Hab heute voll verpennt«, stöhnte der Schwarzhaarige und packte seine Sachen aus. Wenn er so darüber nachdachte - Jerome wäre doch auch ein guter Boyfriend-Kandidat für seinen Mitbewohner, würde er nicht schon inbrünstig auf Frauen stehen.
»Hab ich was verpasst?«
»Nicht viel, ich glaube bei dir und André war es gestern Nacht wohl spannender.«
Der Rotschopf zwinkerte und grinste dann schelmisch, während er Marco leicht in die Seite boxte.
»So viel Offensive hätte ich von dir gar nicht erwartet.«
»Was zur Hölle meinst du?«
Der Schwarzhaarige legte fragend die Stirn in Falten; bei ihm und André? Was hatte er denn da bloß verpasst? Doch Jerome lachte nur.
»Keine Sorge, du musst es nicht mehr verheimlichen, Kelly hat es mir gestern erzählt und die weiß es ja schon von André. Dabei hätte ich echt nicht gedacht, dass ihr beide mal zusammen kommt ... und dann auch noch so schnell.«
»Wir sind aber nicht zusammen, was redest du da?!«, antwortete Marco wütend, nachdem ihm das Ausmaß dieser Sache nun endlich bewusst wurde; Kelly war der Name des Mädchens, dass ihn vor ein paar Tagen hatte ablitzen lassen. Und das offensichtlich, da jemand behauptete, er wäre doch tatsächlich mit André zusammen! Mit André! Okay, das war dann doch zu viel auf einmal. Hastig packte er seine Sachen ein, während Jerome ihn nun etwas verwirrt mit Fragen löcherte - »Vergiss es« war allerdings die einzige Antwort, die der Junge noch erhielt, dann war Marco auch schon zur Tür raus.
»Warum hast du diesen Quatsch verbreitet?!«, begrüßte er Stunden später seinen Mitbewohner, der total ahnungslos mit seiner Schultasche bepackt durch die Tür kam. Der Jüngere, der offensichtlich ganz genau zu wissen schien, wovon die Rede war, zuckte unwillkürlich zurück.
»Du weißt also davon«, stellte er etwas nervös fest und trat langsam ein, bevor wr hinter sich die Tür schloss.
»Jerome hat es mir erzählt und der weiß es von Kelly. Von Kelly! Man ich wollte was von ihr und du hast alles versaut!«
»Es war nicht meine Absicht ...«
Der Blonde schmiss seine Tasche auf den Boden und setzte sich neben Marco auf sein Bett. Er roch nach Schweiß und weder seine Krawatte, noch sein Hemd waren ordentlich angezogen, was darauf schließen ließ, dass er wohl vom Sportunterricht kam. Marco ärgerte sich, überhaupt noch auf sowas zu achten und wiederstand dem Impuls, den Jüngeren mal wieder zu beturteln und ihm seine Klamotten zu richten. Er war zu sauer für sowas, verdammt nochmal. Immerhin war es ihm zwar egal, wenn sein Mitbewohner mit Typen rummachte, aber wenn der deswegen ihm die Tour bei einem Mädchen vermasselte, war das echt nicht mehr witzig.
»Ist mir egal, aber was zum Teufel hast du angestellt?! Hör zu, ich mag Kelly wirklich, und du hast es mir versaut.«
»Man, ich weiß, aber ich hab voll in der Klemme gesteckt und ich wollte nicht, dass es so kommt ...«
André rang mit seinen Händen und setzte mehrmals zu einer Erklärung an, bis er schließlich zugab:
»Neulich hat sich so ein Typ an mich ran gemacht, aus der Elften. Aber ich wollte nichts von ihm und hatte mich gerade von Dean getrennt. Jedenfalls hat er mich nicht in Ruhe gelassen, also hab ich ihm gesagt, ich hätte gerade wieder einen Freund ... Deinen Namen hab ich einfach so gesagt, weil ich dachte, bei dir fragt er nicht nach und wenn ich bald einen Neuen hätte, würde er denken, wir hätten uns einfach wieder getrennt. Außerdem meinte ich zu ihm, dass er das noch niemandem erzählen soll, aber ... Kelly ist seine Schwester, verdammt! Woher sollte ich das bitte wissen?!«
Stöhnend vergrub der Jüngere seinen Kopf in den Händen.
»Tut mir leid, ich bin echt so ein Idiot. Hätte ich gewusst, dass er Kellys Bruder ist, hätte ich das nie erzählt ...«
Marco legte ihm tröstend eine Hand auf die Schulter; gut, er konnte André nicht lange sauer sein, besonders nicht, wenn dieser Kerl in so sehr in die Enge getrieben hatte. Und das mit Kelly ... einerseits wollte er ihr die Sache schon erklären, andererseits war er auch irgendwie enttäuscht, dass sie Jerome einfach davon erzählt hatte - dass ihr Bruder es ihr gesagt hatte, verstand er jedoch.
»Wir kriegen das wieder hin«, meinte er versöhnlich und Richtung André, der immer noch aussah, als nahm ihn die Sache völlig mit. Gut, das Ganze war ja auch irgendwie außer Kontrolle geraten, das musste er zugeben. Wenigstens konnte man sagen, dass André sich langsam besserte und inzwischen schon ein paar ganze Tage beziehungs-abstinent war.
»Ich rede mit Kellys Bruder und sag ihm, dass er dich in Ruhe lassen soll. Den anderen erzähle ich dann halt, dass er sich geirrt hat und die Sache ein Missverständnis ist. Aber ... man, das nächste Mal, wenn sowas passiert, sag's mir einfach, ich bin schließlich dein Mitbewohner.«
»Wirklich, du bist ... nicht sauer?«
André schaute ihn etwas misstrauisch an und wirkte, als stünde er immer noch in Alarmbereitschaft für den Fall, dass der Ältere ihm den Kopf abreißen wollte. Doch Marco zuckte nur die Schultern.
»Ist halt blöd gelaufen, auch wenn du zumindest teilweise selbst Schuld hast. Ich bin nunmal hetero und solche Gerüchte sind einfach nicht vorteilhaft für mich.«
»Schon gut - ich wollte dir wirklich nicht die Tour vermasseln, okay? Jedenfalls glaube ich allerdings nicht, dass du dich mit Kellys Bruder anlegen solltest ...«
»Das lass mal meine Sorge sein, ich schaff das schon. Allerdings brauche ich noch seinen Namen und bitte seine Zimmernummer, dann kann ich mal nett ›Klopfen‹ gehen.«
André biss sich auf die Lippe und wirkte, als hätte er daran leichte Zweifel. Trotzdem gab er Auskunft;
»Sein Name ist Dave. Dave Griffiths, ich glaube sein Zimmer ist die 108.«
»Scheiße ...«
Mit schmerzverzehrtem Gesichtsausdruck hielt Marco sich das Kühlakku an die linke Gesichtshälfte. Die Haut dort war leicht verfärbt und geschwollen, außerdem hatte er eine aufgeplatzte Lippe. Nein, Dave Griffiths gehörte wohl nicht zu den Menschen, die man gerne kennenlernte. Zumindest nicht unter diesen Umständen, denn dieser Typ war nicht nur ein Jahr älter als Marco, sondern auch noch breit wie ein Schrank, zudem nicht besonders gut gelaunt, als er endlich checkte, dass André ihn angelogen hatten. Wenigstens aber hatte Marco den Kampf irgendwie gewonnen und Daves Mitbewohner, der recht kompetent wirkte, hatte gemeint, er würde sich um das Arschloch kümmern, außerdem würde das Ganze wohl nicht zum Direktor gezwitschert werden. Das waren ja schonmal gute Nachrichten; ob Kelly jetzt noch etwas von ihm wollte, stand aber auf einem anderen Blatt. Auf einem, auf das er selbst gerade keine Einsicht hatte.
»Halt mal still.«
André, der neben ihm saß, hatte soeben eine Wattebausch mit Desinfektionsmittel vollgesogen und tupfte damit vorsichtig über Marcos verletzte Lippe. Extra für ihn hatte der Blonde den Erste-Hilfekoffer von der Krankenstation geklaut, zudem hatte er auch etwas von dem Abendessen mitgebracht, zu dem Marco mit diesem Gesicht ja wohl kaum hatte gehen können. Hoffentlich klang das Ganze bis morgen ab und war einigermaßen unauffällig, denn er wollte den Lehrern nicht wirklich von den Vorgängen hier erzählen - allerdings hatte Dave mit seiner mindestens angeknacksten Nase wohl noch ein größeres Problem. Dieses Arschloch. Wieso hatte er André auch als miese Schlampe beschimpfen müssen? Als Mitbewohner und Freund konnte Marco so ein Verhalten auf keinen Fall billigen, zumal es nicht stimmte, also waren ihm schließlich die Sicherungen durchgebrannt - etwas, das André ja nicht unbedingt im Detail wissen musste, denn irgendwie sträubte sich alles im Schwarzhaarigen, wenn er auch nur daran dachte, seinem Mitbewohner alles zu erzählen. Obwohl das Gesagte ja nichtmal stimmte. André nahm wirklich jede Beziehung und jeden kleinen Flirt toternst und war jedes Mal am Boden zerstört, wenn sowas in die Brüche ging. War gewesen wohl eher, jetzt gönnte er sich ja eine Liebes-Pause.
»Dave hat abbekommen, was er verdient hat, er wird dir wohl keinen Stress mehr machen«, sagte Marco schließlich, um die Stille zu füllen, während André schier endlos die Wunde in seinem Gesicht desinfizieren wollte. Marco konnte seinen Atem spüren und sah genau in die ruhigen blau-grauen seines Gegenübers, die ihn mit der Zeit wuschig machten.
»Du hättest mich vor ihm nicht verteidigen müssen, ehrlich nicht. Ich hab Scheiße gebaut und dir nicht mal davon erzählt.«
Zerknirscht ließ Andre das in Desinfektionsmittel getunkte Wattepad sinken und sah auf seine Schuhe. Ihm schien die Sache wirklich leid zu tun, dabei war Marco nichtmal mehr richtig böse auf ihn.
»Schon gut. Du hast ja auch nicht gleich die Verbindung zwischen Dave und Kelly erfassen können und ich weiß, dass du mir nie absichtlich die Tour vermasseln würdest.«
Er legte dem Jüngeren tröstend einen Arm auf die Schulter.
»Außerdem fand ich Kelly zwar nett, aber sie ist definitiv nicht die Richtige, wenn sie wegen so eines Gerüchts nicht mal ordentlich mit mir redet. Stattdessen hat sie mich lieber unter einem Vorwand abserviert. Ich bin angeblich nicht ihr Typ.«
Marco verzog gespielt ungläubig das Gesicht als wäre so etwas geradezu unmöglich. Doch statt dem erhofften missbillegendem Lachen, bedachte André ihn nur mit einem schwachen Lächeln.
»Tjah, dafür bist du meiner.«
Mit diesen Worten rutschte der Jüngere von der Matratze und kletterte die Leiter runter, um in sein eigenes Bett zu klettern. Dort löschte er ohne ein Gute-Nacht das Licht seiner Nachttischlampe und ließ einen vollkommen schockierten Marco zurück, der spürte wie er knallrot wurde und sekündliche Hitzewellen durch seinen ganzen Körper zu wabbern schienen. Das konnte jetzt nicht wahr sein, oder?
~Ende Teil 1~
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