Einen Schritt in die Normalität?
ROSA
„Das würde ich sagen, ja. Familie ist das, was einen zu dem macht, was man ist."
***
Seit meinem Befreiungsbad in der Bucht sind ein paar Tage vergangen, in denen ich mein Leben wieder in die Hand genommen habe. Zumindest habe ich das Gefühl, dass es mir halbwegs gelingt. Ich habe meine Kontakte in Miami spielen lassen und mir so ein Vorstellungsgespräch in einer Kanzlei in Culiacán verschafft. Zu dem ich jetzt unterwegs bin, was sich ziemlich unwirklich anfühlt.
Ich habe schon eine gefühlte Ewigkeit nicht mehr als Anwältin gearbeitet und ich weiß nicht, ob ich dem schon gewachsen bin. Vielleicht war es übereilt von mir gewesen, aber in meiner neu gewonnen Energie konnte ich mich nicht bremsen.
Wen ich darin aber vergessen habe, ist Guzman, der sich ebenfalls in die Arbeit stürzt.
Also wieso ich nicht?
Ich drossle das Tempo, als ich keine hundert Meter mehr von dem Gebäude entfernt bin, in dem die Kanzlei liegt. Ihr Ruf ist ganz passabel, nicht wirklich exklusiv, aber zu viel kann ich auch nicht erwarten. Wenigstens haben sie mich keine Woche später zum Gespräch gebeten, was ein gutes Zeichen ist.
Mit gestrafften Schultern lege ich auch die letzte Distanz zurück und betrete das dreistöckige Gebäude, das von außen einen guten Eindruck macht und auch von innen überzeugt. Die Einrichtung wirkt modern und freundlich und macht etwas her.
„Wen darf ich melden, Seniorita?", erkundigt sich die kräftige Mexikanerin mit einem fast mütterlichem Glanz in den grünen Augen. Ich erwidere das Lächeln, welches sie mir schenkt und nenne ihr meinen Namen.
Sie zieht weder die Brauen hoch, noch stutzt sie einen Moment, was mich beruhigt, denn das bedeutet, dass sie nichts über mich gehört hat. Denn das war meine größte Befürchtung, neben der, dass ich diesem zu schnellen Einstieg ins Berufsleben nicht gewachsen bin.
„Señor Ramirez erwartet Sie im dritten Stockwerk, Seniorita", erwidert sie und verweist auf den Fahrstuhl. Ich bedanke mich und gehe darauf zu, drücke die Taste mit dem Pfeil nach oben und warte.
Normalerweise würde ich jetzt einen Blick auf mein Handy werfen, doch ich lasse es bewusst in meiner Tasche, weil ich sonst wieder Artikel lesen würde, die man über mich schreibt.
Das Internet vergisst nie, denke ich bitter und schüttle kaum merklich den Kopf und betrete den Fahrstuhl, als sich die Türen geräuschlos geöffnet haben.
Ich bin allein und fahre hinauf, doch als ich heraustrete, halte ich inne. Denn eine Gruppe junger Frauen läuft an mir vorbei und wirft mir vielsagende Blicke zu, ehe sie hinter hervorgehaltener Hand über mich tuscheln. Ich starre sie an und weiß nicht, was ich tun soll. Doch ein Räuspern reißt mich aus meiner Starre, das von einem Herr stammt, der wohl den Aufzug benutzen will, den ich versperre.
„Tut mir leid", murmle ich und haste zur Seite. Mein Herz klopft mir bis zum Hals und meine Hände sind auf einmal ganz nass geschwitzt. Ich streiche sie an meiner schwarzen Stoffhose ab und atme tief durch.
Der Wartebereich ist genauso eingerichtet, wie der Empfangsbereich. Nur die Sessel wirken hier etwas filigraner als unten. Dennoch sehen sie bequem aus und sind es auch, denn als ich mich setze – meine schlottrigen Knie danken es mir – versinke ich beinahe im weichen Leder. Ich setze mich gerade hin und warte auf Angel Ramirez, den Inhaber der Kanzlei. Ich habe meinen Lebenslauf dabei und mich etwas auf das Gespräch vorbereitet, denn normalerweise bin ich instinktiv und weiß, was ich zu wem sagen muss.
Das klingt jetzt furchtbar eingebildet, aber es ist so. Aber jetzt ist nichts mehr normal und ich bin furchtbar aufgeregt, so sehr, dass mein Herz rast, ohne, dass ich etwas mache.
„Seniorita de la Cruz?", reißt mich wieder eine Stimme aus meinen Gedanken. Dieses Mal ist es eine männliche und die, die zu meinem potenziellen neuen Chef gehört.
Ich hebe den Blick und schaue in ein markantes und trotzdem weiches Gesicht und in graugrüne Augen, die mich interessiert mustern. Ich stehe auf und reiche ihm die Hand und schüttle sie.
„Señor Ramirez, vielen Dank das Sie mich eingeladen haben", begrüß ich ihn hastig und versuche meinen wilden Puls unter Kontrolle zu bekommen, doch das ist gar nicht so einfach. Seine Hand fühlt sich weich an, als ob dieser Mann noch nie körperlich gearbeitet hätte. Eine ungeahnte Gänsehaut überkommt mich, eine die zweifelsohne unangebracht ist und sich doch ziemlich gut anfühlt.
„Wir haben uns ja noch nicht unterhalten", erwidert er trocken und mit einem charmanten Lächeln auf den Lippen, dass es im krassen Kontrast zu seinen Worten steht, was ich nicht so recht deuten kann.
Ich lächele einfach, lasse seine Hand los und hoffe, dass sie nicht zu nass war. Doch er lässt sich nichts anmerken und führt mich mit einer freundlichen Geste durch den kurzen Flur zu seinem Büro. Das sehr spartanisch eingerichtet ist, was ich gar nicht so von Anwälten kenne. Denn die meisten stopfen ihr Büro so derart mit Büchern, Auszeichnungen und Prestigeobjekten voll, dass es die meisten fast erschlägt, wenn sie den Raum betreten. Aber dieser hier, ist eine Offenbarung.
Die weißen Wände sind leer, bis auf ein großes Bild, das eine Blumenwiese darstellt, dass das Büro dominiert. Seine Auszeichnung, dass er in Oxford promoviert hat, geht fast gänzlich unter. Genau wie der stilistisch schlicht gehaltene gläserne Schreibtisch und den ergonomisch geformten Sessel, der dahinter steht.
Ein Regal aus warmen Eichenholz ist mit ein paar Fachbüchern und ein, zwei moderne Skulpturen bestückt, sodass es ein harmonisches Grundkonzept ergibt. Nur der braune Ledersessel vor dem Schreibtisch, auf den ich mich setze, fügt sich nicht wirklich in das Gesamtbild hinein, aber er ist wirklich sehr bequem.
„Darf ich Ihnen ein Glas Wasser anbieten?", fragt er galant. Ich nicke und sehe ihm zu, wie er die schlanke Glaskaraffe in die Hand nimmt und mir ein Glas einschenkt. Den schwarzen Anzug, den er trägt, wirkt nicht zu protzig, obwohl er einen guten Sitz hat und teuer aussieht. Auch dieses Konzept wirkt harmonisch auf mich, denke ich, als er sich zu mir umdreht und ich das weiß Hemd und die schwarze Krawatte bemerke, die er trägt. Angel ist keine vierzig und sieht verdammt gut aus.
„Vielen Dank", sage ich und nehme das Glas an mich. Er setzt sich mir gegenüber und überfliegt meinen Lebenslauf, den ich zuvor seiner Sekretärin geschickt habe, was mir die Chance gibt einen Schluck zu nehmen und mich zu sammeln.
Denn noch immer macht mich das alles hier ziemlich unsicher. Ich schwitze leicht und dass, obwohl es merklich kühler geworden ist.
Mein Herz hämmert immer noch gegen meine Brust und ich fühle mich innerlich so aufgekratzt, als hätte ich zehn Espresso getrunken.
„Sie haben ihren Abschluss erst vorheriges Jahr gemacht", sagt er und sieht mich kurz an, ehe er die Zeilen weiter überfliegt, „und haben in einer Kanzlei in Miami gearbeitet. Hat es Ihnen dort nicht mehr gefallen, oder wieso suchen Sie nun hier in Culiacán eine neue Arbeit?" Seine Stimme klingt genauso, wie sich seine Hände anfühlen. Weich und freundlich. Ich atme tief durch und lächle, bevor ich ihm antworte.
„Nun, ich habe hier meine Familie. Mein Großvater ist kürzlich verstorben und ich ... na ja, es hat mich daran erinnert, was wirklich im Leben zählt", antworte ich. Angel nickt und macht sich Notizen. Er schreibt mit links, was mich schmunzeln lässt. Ich habe als Kind mit rechts und links geschrieben, aber irgendwann habe ich nur noch mit der rechten Hand geschrieben. Aber ich weiß noch, wie viele mich deswegen aufgezogen haben und die Lehrer waren auch nicht wirklich davon begeistert gewesen.
„Dann sind Sie ein familiärer Mensch?", fragt er und sieht mich an, dabei wandert eine Braue nach oben, „Wie Sie vielleicht wissen, habe ich mich auf Familienrechte spezialisiert", sagt er, ohne den Blick von mir zu nehmen.
Ich trinke einen Schluck Wasser und stelle das Glas wieder auf den Untersetzer, der aus einer runden Filzplatte besteht, die seine Initialen tragen.
Vielleicht ist er doch ein wenig eingebildet, aber in einer praktischen Art und Weise.
„Das würde ich sagen, ja. Familie ist das, was einen zu dem macht, was man ist", erwidere ich und frage mich, ob ich vor einigen Monaten auch so geantwortet hätte.
Ich glaube nicht, denn es war mir ganz recht nicht so nahe bei meiner Familie zu sein. Aber jetzt? Ich wüsste nicht, was ich ohne sie getan hätte. Mein Herz zieht sich schmerzhaft zusammen und stolpert ein paar Schläge lang, ehe es sich wieder einkriegt.
„Sehr gut."
Ich runzle die Stirn und weiß nicht, was er damit meint. Doch ich versuche mich nicht verunsichern zu lassen, atme ruhig und gleichmäßig weiter und versuche so ehrlich zu antworten, wie ich nur kann. Das restliche Gespräch verläuft ganz okay, doch als er mich auf die Zeitspanne zwischen Juli und jetzt anspricht, stocke ich kurz.
Denn ich kann ihm ja nicht ins Gesicht sagen, dass ich dort von einem Psychopathen, der bei der DEA arbeitet, als seine persönliche Geisel festgehalten wurde.
Ich kann nur hoffen, dass er mir meine Antwort, dass ich mich um den Wiederaufbau meines Elternhauses und der der Bar meines Vaters gekümmert habe, was absoluter Blödsinn ist, aber es ist das einzige, was mir auf die Schnelle eingefallen ist. So viel zu meinen instinktiven Antworten, denke ich und verdrehe innerlich die Augen.
Keine dreißig Minuten später verlasse ich die Kanzlei und habe ein gemischtes Gefühl, aber ich habe mich verdammt gut geschlagen, denke ich.
Auf dem Nachhauseweg laufe ich Santiago in die Arme, der aus einem Zuckerwarenladen herausspaziert kommt und mich nicht gesehen hat, denn er sieht mich mehr als überrascht an.
„Rosa, was machst du hier?", stottert er und sieht sich kurz um, ehe er mich anlächelt. Doch es erreicht seine blauen Augen nicht, in denen ein wahrer Sturm an Gefühlen tobt. Aber es sind so viele, dass ich sie nicht richtig deuten kann.
„Ich hatte ein Vorstellungsgespräch", sage ich und ringe mir ein Lächeln ab. Denn ich bin mir nicht sicher, ob es wirklich so gut gelaufen ist, wie ich es im Gefühl habe. Aber hey, nicht alles funktioniert beim ersten Mal.
„Wow, Glückwunsch", meint er und grinst mich an. Jetzt sieht er wieder so aus, wie ich ihn in Erinnerung habe, sodass ich meine Zweifel ihm gegenüber beiseiteschiebe und mich von seiner positiven Ausstrahlung anstecken lasse.
„Danke, aber es ist noch nicht in trockenen Tüchern", antworte ich. Tiago winkt ab und hakt sich bei mir ein, was mich leicht aus dem Konzept bringt. Doch er bemerkt es nicht, oder übergeht es gekonnt, um mich nicht in meiner Angst zu bestärken. Und nach einigen Sekunden fühlt es sich auch nicht mehr seltsam an.
Er lädt mich auf einen Kaffee ein und da es in dieser Ecke einige Läden gibt, setzen wir uns ins nächste und bestellen uns ein kleines Frühstück.
Tiago erzählt von Zuhause, wie es mit Papa und Pepe läuft, dass sie sich bestens verstehen und dennoch ab und zu aneinander geraten.
Ich lache und höre ihm gerne zu, denn Tiago einer der besten Geschichtenerzähler, den ich kenne. Bei ihm klingt auch die langweiligste Geschichte wie ein fantastisches Abenteuer und genau das brauche ich jetzt.
„Und wie geht es dir so?", fragt er nachdem, er eine Stunde geredet hat. Ich lehne mich in den gemütlichen Korbstuhl und genieße die warmen Sonnenstrahlen auf meinem Gesicht. Auch wenn es langsam Winter wird, sind die Temperaturen immer noch angenehm, was vor allem an den Sonnenstrahlen liegt, die mich an Wange und Stirn treffen.
„Zuerst dachte ich wirklich, dass ich es nicht schaffe. Doch aufgeben ist für mich keine Option", sage ich und zwinkere ihm zu. Denn genau diese Worte hat er mir zu mir gesagt, als ich abhauen wollte.
Stattdessen habe ich mich Gandia gestellt und so das Leben meines Vaters und das von Guzman gerettet. Tiagos Lächeln erstirbt und er stopft sich hastig noch ein paar Nachos mit Käse in den Mund. Er kaut bedächtig langsam und meidet meinen Blick.
„Du musst dich nicht schuldig fühlen, Tiago. Du hast mich nicht dazu gezwungen das auf mich zu nehmen", sage ich und lege meine Hand auf seine.
Die plötzliche Berührung fühlt sich seltsam an, in mir will sich alles wieder verschließen, doch das lasse ich nicht länger zu. Ich muss nach vorne sehen. Er schluckt runter und sieht mich endlich an. Ich lächle, hoffe, dass er es erwidert, doch es passiert nichts.
„Ich muss mich bei dir entschuldigen, Rosa. Ich habe mich total beschissen verhalten", meint er und schüttelt den Kopf.
Ich erinnere mich noch gut daran, was er mir alles an den Kopf geworfen hat und auch, dass Guzman mir nicht gut tut. Das mag vielleicht sein, aber auch ich habe Seiten an mir, die andere verletzen und vor den Kopf stossen.
Aber bei Tiago geht es weiter, tiefer, denn er ... hat sich in mich verliebt. Und das ist schrecklich und es tut mir leid, dass ich seine Gefühle nicht erwidern kann. Ich kann aber auf ihn zugehen und ihm verzeihen, also verschränke ich unsere Finger miteinander und schaue ihm fest in die blauen Augen.
„Ich verzeihe dir, Tiago", sage ich und meine das ernst. Als er das hört, fällt von seinen Schultern ein gewaltiger Stein, denn seine Gesichtszüge hellen sich auf und er lächelt wieder.
„Und ich möchte mich bei dir bedanken. Dafür, dass du bei meiner Befreiung geholfen hast", füge ich hinzu und werde zum Ende hin leiser. Aber auch nur, weil es niemand anderen angeht.
„Dafür musst du mir nicht danken, du gehörst zu meiner Familie, Rosa", meint er.
Dankbar schaue ich ihn an und drücke seine Hand. Wir reden noch eine Weile, dann verabschieden wir uns und ich trete den Heimweg an.
Ich genieße den ausgedehnten Spaziergang und tauche in das Leben meiner Kindheit ein. Denn seitdem ich zum Studieren in die Staaten gezogen bin, hatte ich mir nie wirklich die Zeit für Spaziergänge genommen. Aber jetzt, jetzt fühlt es sich fantastisch an.
Innerlich ruhiger und erfrischt betrete ich das Loft und höre den Fernseher laufen, was mich stutzig macht. Bis jetzt habe ich nie gesehen, dass einer von beiden um diese Zeit vor der Glotze hängt. Aber als ich näher komme, erkenne ich, was sie da schauen. Es handelt sich um die Nachrichten, doch als Guzman mich bemerkt, schaltet er das Gerät sofort aus.
„Was soll das?", zische ich und habe keine Ahnung, was das zu bedeuten hat.
Sicher, wir haben seit unserem One-Night-Stand – oder was das auch immer zwischen uns war – nicht mehr miteinander geredet, doch das er den Fernseher gleich ausmacht, wenn ich komme, ist echt kindisch.
Er sieht mich an und ich weiß, dass etwas passiert sein muss. Denn die Panik in seinen ozeanblauen Tiefen spricht Bände.
„Was ist passiert?", frage ich unheilvoll.
Guzman schluckt, kratzt sich am Kopf, doch er antwortet mir nicht. Mein Herz scheint dieses Spiel ganz und gar nicht zu vertragen, denn es hämmert mit einer solchen Wucht gegen meine Rippen, dass ich mich frage, ob sie dem noch lange standhalten können. Doch als hätte Jesus meine Gedanken gehört, erscheint er wie aus dem Nichts und verkündet uns etwas, das alles auf den Kopf stellt und mein Leben erneut aus den Angeln hebt.
„Gandia, er ist tot!"
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Was meint ihr zu Rosas Entwicklung?
eure Amanda
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