
Kapitel 30
Unter meinen Füßen knacken Zweige, Äste schlagen mir ins Gesicht und Wurzeln bleiben an meinen Beinen kleben wie zäher Honig. Über meinen lauten Herzschlag kann ich nur meinen hektischen Atem hören und das Brennen in meinen Waden spüren. Mir tut alles weh und wenn wir nicht bald anhalten, übergebe ich mich vielleicht noch.
„Zoeä, bitte bitte, lass hier in der Nähe Wasser sein", murmle ich vor mich hin, während ich Amber um einen dornigen Busch herum zerre und dabei selber fast hinfalle.
Meine Gabe nimmt jedoch nur den Wald um uns herum war, Bäume, Büsche, Blumen, Gräser. In der Erde unter uns ist auch Feuchtigkeit, aber bis ich die heraufgeholt habe, sind die Irrlichter längt über uns hergefallen. Ganz zu schweigen von den Soldaten, die hinter uns her keuchen und ebenfalls vor den Irrlichtern fliehen.
Amber japst hinter mir nach Luft, als wolle sie etwas sagen, quietscht jedoch nur wie eine kochende Teekanne. „Oh Götter, eines hat mich gestreift, mein Rücken brennt, aua."
„Was?", frage ich über meine Schulter und versuche mich nach Amber umzudrehen, ohne mich wirklich nach Amber umzudrehen. Als Resultat laufe ich fast gegen einen Baumstamm und werde nur von dem Gefühl von fester Rinde vor mir gewarnt.
„Die Irrlichter spucken mit Feuer nach uns", brüllt Amber zurück und zuckt zusammen, als irgendetwas dicht hinter uns faucht. „Zoeä und alle sieben Sonnensucher, wehe, wir sterben hier jetzt."
Ich will erwidern, dass Amber mal nicht so dramatisch sein soll, aber das wäre eine Lüge, weil ich genau das gleiche denke. Immerhin sind hinter uns Soldaten und Irrlichter und wer auch immer den Anderen zuerst ausschaltet, wird uns weiterhin als Beute ansehen. Und nirgends fühle ich Wasser! Wie kann das in einem Wald denn sein?!
Wir springen über einen trockenen Bachlauf, was nur ein göttlicher Witz sein kann, und brechen uns fast die Knöchel, als wir in einem Wurzelnest landen.
Abrupt bleibe ich stehen, als ich das sanfte Kribbeln von Wasser wahrnehme. Es ist kaum mehr als ein Wispern in meinem Hinterkopf, aber ich werde mich in meiner jetzigen Situation sicher nicht beschweren.
„Oh Zoeä, danke danke danke." Ich packe Ambers Hand fester und renne so schnell mich meine erschöpften Beine tragen auf das Gefühl von Wasser zu. Mein Atem klingt weiterhin wie ein alter Esel und die Übelkeit kriecht bereits meinen Hals hoch, aber mit dem Wasser in greifbarer Nähe schlucke ich die Erschöpfung hinunter und kämpfe mich weiter.
Ein neues Feuer taucht in meiner Wahrnehmung auf und ich reagiere nicht schnell genug, um dem Feuerball auszuweichen, der mich am Arm streift. Ich mache ein verwundetes Geräusch und wanke für zwei Schritte, während die Sonne auf meiner Haut erblüht.
Amber kann nichts sagen, weil sie selber schnauft wie ein Lastochse, aber sie drückt meine Hand und ich erinnere mich daran, dass ihr Rücken ebenfalls etwas abbekommen hat. Wurde dann auch ihr Rucksack getroffen? Brennt immer noch Kleidung auf ihrem Körper?
Zwischen den Irrlichtern und dem stärker werdenden Gefühl von Wasser bleibt mir kein Raum, um mit meiner Gabe Amber zu überprüfen, aber ich kann keinen Rauch riechen und das muss für den Moment reichen.
Endlich brechen wir zwischen den Bäumen hervor und bleiben vor einem Tümpel stehen. Er ist kaum größer als eine Badewanne und bei weitem nicht so tief, aber er muss jetzt ausreichen.
Ich gebe mir einen Moment, zwei, um auf die Knie gestützt nach Luft zu schnappen und die seltsame Leichtigkeit meines Körpers zu ignorieren, der jetzt, wo wir stehen, so fest wie ein Windhauch zu sein scheint.
Die Soldaten kommen kurz nach uns durch die Bäume und schaffen es gerade so nicht in uns hineinzurennen. Einer trampelt durch den Tümpel und wenn mein Hals nicht kurzzeitig eine Wüste wäre, würde ich ihn anschnauzen, dass er nicht unser kostbares Wasser verspritzen soll.
Und dann, immer noch mechanisch summend, tauchen die Irrlichter auf. Sie halten nicht an oder bremsen ab, sondern fangen nur aufgeregt zu blinken an.
Amber schlägt mir von ihrem Platz auf dem Boden, wo sie halb liegt, gegen das Schienbein und ich brauche keine weitere Aufforderung, ehe ich mit meiner Gabe nach dem Wasser greife und es wie einen seltsamen Vorhang über meinen Kopf in die Höhe ziehe.
Die Irrlichter zeigen sich auch davon unbeeindruckt. Das erste ist mir so nah, dass ich die flirrende Hitze auf meinem Gesicht und meiner Brust spüren kann, als würde ich direkt vor einem Feuer stehen.
Ich schlucke eine neue Welle Übelkeit hinunter und lasse das Wasser auf die Irrlichter platschen. Mit einem erstaunlich befriedigenden Zischen erlöschen die leuchtenden und brennenden Kügel und hinterlassen schwebende, dampfende Aschekugeln.
Ich versuche sie auseinander reißen zu lassen, aber meine Gabe scheint von ihnen abzurutschen. Amber liegt hyperventilierend auf dem Boden und die Soldaten glotzen uns nur dumm an.
Also reiße ich dem nächstbesten Soldaten das Schwert aus seinem Gürtel und mache mich selbst daran die Irrlichter zu zertrümmern, solange sie nur harmlose Aschehaufen sind. Das Letzte fängt gerade zu glühen an, als ich bei ihm angelangt bin, und rieselt zu Boden, ehe es wieder Feuer fangen kann.
Erschöpft stehe ich inmitten des Ascheregens und versuche nicht ohnmächtig zu werden. Mein Körper ist schwer und leicht zugleich, mir ist seltsam heiß kalt und in meinen Ohren rauscht das Meer. Mir ist zudem auch noch zittrig und die Übelkeit versucht sich weiterhin einen Weg aus meinem Hals zu erkämpfen.
„Hattet ihr echt nichts besseres zu tun", durchbricht Amber die Stille und starrt die Soldaten nieder, die genauso erschöpft wirken wie wir. „Als bei uns aufzutauchen, während Irrlichter in der Nähe sind? Habt ihr keine Augen im Kopf? Welcher Idiot denkt sich denn, hey, wisst ihr, was jetzt eine grandiose Idee wäre? Diese Begabten da einzufangen, während keine drei Schritte entfernt ein Irrlichtschwarm steht! Habt ihr Stroh in der Birne?!"
Während Amber die Soldaten weiter durch den Dreck zieht und sich selbst auf die Beine, lasse ich mich außerhalb der Irrlichtüberreste auf den Boden fallen und lege meinen pochenden Kopf auf meinen angezogenen Knien ab.
Von wegen, das werden zwei langweilige und friedliche Wochen. Wir laufen zwar am Rand des Himmelswaldes und obwohl rechts neben uns schon das große Grasland zu sehen ist, trifft man hier immer noch auf Soldaten. Vermutlich haben sie auch die Verwunschenen Berge besetzt und die Kleinen Inseln des Westlichen Meeres und vielleicht haben sie auch schon ein Lager auf dem Meeresgrund aufgeschlagen, weil sie offenbar überall sind!
„Das reicht jetzt, Verfluchte!", unterbricht ein Soldat Ambers Tirade und tritt mit erhobenem Kinn vor die anderen. Er ist groß und muskulös und wirkt nicht so, als würde er jemals über irgendetwas nachdenken. „Euer Versuch, durch unsere Rettung Sympathie zu erzielen, ist armselig offensichtlich. Ich schlage vor, dass ihr Beide euch nicht mehr regt, ihr schiebt das Unausweichliche nur auf."
Verwirrt sehe ich zu Amber, der der Mund offensteht und die Augenbrauen immer höher wandern, und versuche nicht einmal zu verstehen, woher der Soldat diese Ansprache hat.
„Zuallererst Mal, du übergroße Schnecke, wir haben uns gerettet und sicher nicht euch, denn wie ich schon sagte, wer ist denn so dumm und greift an, obwohl Irrlichter in der Nähe sind? Irrlichter vor allem!!" Amber scheint mehr Luft übrig zu haben als ich, denn sie wirft sogar empört die Arme in die Luft, während sie widerspricht. „Dabei lernt doch jedes kleine Kind, dass man sich nicht mit Irrlichtern anlegt! Ernsthaft, wie ungebildet seid ihr?"
Aus dem Augenwinkel sehe ich ein Flimmern und als ich rüber schaue, fangen einige Irrlichtreste bereits wieder Feuer und formen sich zu Kugeln zusammen.
Oh verdammt.
„Wir müssen hier weg", unterbreche ich die Diskussion zwischen Amber und dem Soldaten, die sich jetzt ernsthaft darüber streiten, ob Irrlichter Teil der Ausbildung eines Soldaten sind. Was in Ambers Kopf vorgeht, werde ich wohl nie verstehen, denn welcher normale Begabte würde mit den Soldaten diskutieren, anstatt vor ihnen zu fliehen?
„Ihr bleibt gefälligst hier", beharrt der Soldat mit den leeren Gedanken und schaut die anderen Soldaten böse an, weil sie sich bisher nur im Hintergrund halten.
Amber reißt der Geduldsfaden und sie greift in ihre Samentasche. Mein Herz macht vor Panik bei dieser Bewegung einen Sprung und ich stolpere auf sie zu, um sie von was auch immer sie vorhat abzuhalten. Meine beste Freundin schüttelt mich jedoch nur ab, als wäre ich eine lästige Fliege, und wirft die Samen vor sich mit Wucht auf den Boden.
Ein anderer Soldat tritt vor, die Hände beruhigend erhoben. Sein kurzer Zopf wippt, als er zwischen dem ersten Soldaten und Amber hin und hersieht, und tief Luft holt.
Doch ehe er auch nur ein Wort sagen kann, schlingen sich auf einmal dünne Äste um seinen Brustkorb und schnüren ihn ein. Knochen knacken fürchterlich und dann sackt der Soldat zusammen.
Mit aufgerissenen Augen schlingt er die Arme um sich selbst und fällt dann auf die Knie. Durch den grauen Stoff seines Hemdes dringt Blut und bildet immer größere Punkte. Der Soldat macht ein röchelndes Geräusch und kippt dann vornüber. Er schnappt nach Luft und dann spuckt er Blut aus und als er eine zitternde Hand an seinen Mund hebt, glänzt sie rot –
Ich wende mich ab und muss erneut meine Übelkeit hinunter kämpfen. Fast habe ich das Gefühl, selber Blut zu schmecken, und muss würgen.
Die anderen Soldaten brechen in Chaos aus. Zwei ziehen ihre Waffen und deuten damit auf Amber, während der Rest neben dem Verletzten zu Boden fällt und panisch versucht seine Blutungen zu stoppen.
Amber steht starr dar, die weiten Augen auf den Soldaten gerichtet, der noch immer im Würgegriff der Äste ist, die aus Ambers Samen wachsen. Es bilden sich jetzt auch kleine Zweige mit grünen Blättern und geschlossenen Blütenknospen, die im Kontrast zu den feuchten Atemzügen des sterbenden Soldaten fast schon grausam aussehen.
Ich will etwas sagen, doch mir kommt nur ein Krächzen heraus. Also packe ich erneut Amber bei der Hand, lasse die Erde die Irrlichtrest tief, tief vergraben und verschwinde, solange mich meine Beine noch tragen.
„Warum hast du das getan?", frage ich Amber.
Wir sind eine halbe Kerbe durch den Wald geeilt, bis unsere Füße den Dienst verweigert haben. Jetzt sitzen wir in der Wurzelhöhle einer alten Eiche und sehen uns nicht an.
Meine beste Freundin schaut auf ihre Hände, als sähe sie diese zum ersten Mal, und zuckt halbherzig mit den Schultern. „Mir sind die Sicherungen durchgebrannt."
Ich schnaube und fixiere meinen Blick auf den abgebrochenen Ast einer Buche. „Bei dir ist mehr als nur das durchgebrannt. Verdammt Amber! Eine fettere Zielscheibe hättest du uns nicht auf den Rücken malen können, oder?"
„Was hätte ich denn sonst machen sollen?" Ambers Stimme ist bitter, aber auch leise und bei weitem nicht so energisch wie bei ihrem Streit mit dem großen Soldaten. Sie ballt ihre Hände zu Fäusten und versteckt sie unter ihren Achseln, als wären sie dreckig. „Wir, eigentlich hast du uns allen das Leben gerettet und diese Arroganten meinten, sie können uns jetzt einfach gefangen nehmen? Weil wir durch den Wald laufen?"
Sie zögert und späht aus dem Augenwinkel zu mir, aber nur so kurz, dass ich es fast verpasst hätte. „Und dann habe ich gesehen, wie sich die Irrlichter wieder regen, und habe Panik bekommen und dieser Idiot hat immer noch mit mir diskutiert und der andere wollte sich auch noch einschalten und – Ich wollte ihm nur kurz die Luft abschnüren, ich hatte nicht vor, ihm sämtliche Knochen zu brechen und an seinem eigenen Blut ersticken zu lassen."
Gegen Ende ist ihre Stimme ganz leise und sie schaut fast schon beschämt zu Boden.
Ich seufze schwer und lehne meine Schulter an ihre. „Ja, es war komisch, dass dieser eine Soldat so viel diskutieren wollte. Aber ich finde es dennoch nicht in Ordnung, dass du sie angegriffen hast."
Amber erstarrt für einen langen Moment und sieht dann langsam, mit abgehackten Bewegungen zu mir. Ihr Gesicht sieht fassungslos aus und ihr steht der Mund leicht offen.
„Du findest es nicht in Ordnung?", wiederholt sie ungläubig und schnaubt dann. „Tja, tut mir wahnsinnig leid, dass ich nicht jedes Mal nach deiner Erlaubnis frage, bevor ich meine Gabe benutzen. Tut mir auch furchtbar leid, dass ich mich nur selbst verteidigt habe, während diese Soldaten uns ohne das geringste Zögern zu unserem Henker geführt hätten!"
„Amber, wir hatten es doch schon mal darüber", beginne ich müde und erschöpft, eigentlich nicht bereit jetzt noch mit Amber über unsere moralischen Werte und Vorstellungen zu reden.
„Wanda, es geht hier um UNS!", platzt Amber dazwischen und sieht mich fassungslos an. „Wir sind diejenigen, die grundlos gejagt und gemeuchelt werden! Wir müssen jedes Mal Angst um unser Leben haben, wenn wir einen verdammten Fuß vor die Tür setzen!"
„Ja, aber -", beginne ich, doch Amber lässt mich gar nicht ausreden.
„Nein, kein aber!" Sie atmet heftig und Tränen glitzern in ihren Augen. „Wie kannst du ernsthaft die Leute verteidigen, die uns umbringen?! Wie kannst du mit dir selbst leben? Ich verstehe es nicht, Wanda. Diese Leute töten uns, sie jagen uns, sie machen unser Leben zum Albtraum! Wie kannst du mir da vorwerfen, dass ich ihnen diesen widerlichen Gefallen erwidere, wenn ich einen von diesen verlogenen Mistkerlen treffe?!"
Ich bin überrumpelt von Ambers Wut, die mir so offenkundig wie nur selten ins Gesicht schlägt. Also bleibe ich still und suche nach den richtigen Worten, während Amber zu weinen anfängt und trotzdem stumm bleibt. Es ist bedrückend leise um uns.
„Ich möchte wirklich nicht sagen, dass ich kein Problem damit habe, dass die Soldaten uns jagen, oder dass ich es gut heiße." Meine Stimme ist ganz klein und ich würde gerne lauter reden, aber Ambers Wut sitzt mir noch wie Holzsplitter unter der Haut und ein Fels liegt mir auf der Brust. Ich kann nicht so tief atmen, wie ich will, und fühle mich deswegen furchtbar.
Amber schnieft als Reaktion nur, rührt sich sonst aber nicht.
„Aber ich muss auch daran denken, wie die restlichen Soldaten und Unbegabten reagieren werden, wenn wir jeden von ihnen töten, dem wir begegnen. Die werden sicher nicht weniger Rache für ihre Liebsten haben wollen als du und das trägt doch auch dazu bei, das alles am laufen zu halten." Ich halte inne und kaue unsicher auf meiner Unterlippe. „Gewalt kann man nicht mit noch mehr Gewalt bekämpfen. Ich mein, man kann es schon, aber dabei gewinnt doch niemand."
„Also willst du sagen, dass meine Reaktion übertrieben war und ich jetzt die Schuld dafür trage, dass die Unbegabten uns hassen?" Ambers Stimme wird gegen Ende hoch und sie fängt erneut zu weinen an, während sie sich zusammenrollt.
„Nein nein, das meine ich nicht", erwidere ich sofort und strecke meine Arme zögerlich nach ihr aus. Sie ignoriert meine Umarmungseinladung und schaut zusätzlich von mir weg. „Du bist dafür natürlich nicht verantwortlich, das hat doch alles lange, lange vor uns begonnen. Aber, ich sage das nicht, weil ich dich hasse oder dich für einen schlechten Menschen halte. Aber mit solchen Taten trägst du auch nicht dazu bei, dass diese Hetzjagd eines Tages aufhört."
Ich warte, ob Amber etwas darauf sagt, doch sie rollt sich nur noch mehr zusammen und versteckt ihr Gesicht hinter ihren Händen. Meine Hand, die ich behutsam auf ihrer Schulter ablege, schüttelt sie zwar nicht ab, aber sie ignoriert mich dennoch.
Ich verkneife mir ein Seufzen, lehne meinen Kopf gegen die verwachsenen Wurzeln und versuche selbst nicht zu weinen.
Die nächsten paar Tage, während wir dem Ende des Himmelswaldes immer näher kommen, sind ein so drastischer Unterschied zu den ersten zwei, dass ich mir nicht sicher bin, ob ich sie nur geträumt habe.
Amber ignoriert mich, man kann es nicht anders sagen. Sie redet nur das notwendigste mit mir, aber schaut mich sonst nicht an oder geht auf meine Gesprächsversuche ein.
Es trifft mich tiefer als ich zugeben will, dass sie mir so offensichtlich die kalte Schulter zeigt, auch wenn es mich nicht überrascht. Bei dem Thema Soldaten war sie schon immer angespannt und die kleinste Kritik führt immer zu großen Streitereien.
Ich habe nur nicht damit gerechnet, dass sie mich ignoriert, weil ich gesagt habe, dass ich Mord nicht toll finde.
Und es ängstigt mich auch ein wenig. Amber hat einen anderen Menschen einfach so umgebracht, scheinbar versehentlich. Die Kraft, die nötig ist, um jemandem die Rippen zu brechen, will ich mir gar nicht erst vorstellen.
Und noch mehr schäme ich mich, dass ich nicht dazwischen geschritten bin. Dass ich einfach nur daneben stand und Amber habe diskutieren lassen, ohne mir zu denken, dass das eskaliert. Bin ich damit genauso schuldig wie Amber? Oder macht es mich erst schuldig, weil ich nicht geholfen, sondern einfach weggerannt bin wie ein Feigling?
Ich sitze an unserem abendlichen Feuer, kreme meine verbrannte Haut mit destillierter Strohblume ein und grüble darüber nach, wie ich diese Stille durchbrechen kann. Sonderlich viel fällt mir dazu nicht ein, denn ich weiß nicht einmal genau, wovon sich Amber angegriffen fühlt.
Ist es ihr unangenehm, dass ich sie daran erinnert habe, dass Soldaten keine gesichtslosen Monster sind? Fühlt sie sich von mir verraten, weil ich ihre Meinung nicht vollkommen unterstütze? Oder sind ihr die letzten Wochen einfach zu viel und sie versucht sich vor allem zu verstecken?
Was es auch ist, ich wünsche mir, dass sie mit mir darüber redet.
Ich reiche ihr die kleine Glasflasche und sie nimmt sie mir ab, dreht sie einen Moment in den Händen, ehe sie sie mir wiedergibt und mir zudem den Rücken zudreht.
Im ersten Moment denke ich, dass sie mich erneut ignoriert, obwohl ich nur ihren verbrannten Rücken behandeln will. Dann geht mir auf, dass sie ja schlecht selber an ihren Rücken drankommt und das jetzt ihre stumme Bitte an mich ist, ihr den Rücken einzusalben.
Ich rutsche näher an Amber heran und schiebe beinahe schon schüchtern ihre Haare und Zweige beiseite. Es ist nicht das erste Mal, dass ich Ambers Rücken sehe, aber es fühlt sich trotzdem komisch an. Hier sitze ich und reibe ihre rote und viel zu warme Haut ein, obwohl ich nicht mehr weiß, wann ich sie das letzte Mal zum lachen gebracht habe.
Und wie hat sie es in den letzten Tagen nur geschafft an alle Stellen zu kommen ohne dabei die Hälfte der Tinktur zu verschütten? Und wieso fällt mir das jetzt erst auf?
Ich seufze stumm und versuche mich darauf zu konzentrieren, wie das Armband mit meinen Holzperlen das Licht des Feuers auffängt und leicht schimmert.
Auf einmal flackert das Feuer, obwohl kein Wind weht.
Für einen Moment muss ich wieder an die Irrlichter denken und dass sie uns erneut gefunden haben, obwohl ich sie wortwörtlich begraben habe –
Ein kleiner Feuergeist springt aus den Flammen und schaut sich verwundert um. Ihre Augen brennen rot und kleine Flammen züngeln an den Rändern ihrer ascheschwarzen Schuppen.
Amber nickt dem Geist zu, als wäre es eine tagtägliche Sache, dass Naturgeister aus dem Feuer hüpfen, und legt ihren Kopf wieder auf ihren angezogenen Knien ab. Ihre Waldaugen sind halb geschlossen und ihr ganzes Gesicht ist so entspannt, dass ich mir fast unsicher bin, ob die letzten Tage wirklich passiert sind.
Die Eidechse dreht sich einmal um sich selbst, ehe sie sich Amber zuwendet und ein Geräusch wie ein kochender Teekessel macht.
Amber öffnet wieder ein Auge und lächelt mit ihrem halben Mund. „Nein, wir sind in der Nähe des Himmelswaldes. Der nächste Tempel von Igna steht in Himmelsteich, der Siedlung am See." Sie hält inne, um den Naturgeist intensiv anzuschauen, während er zurückstarrt und nur seine kleine, gelbe Zunge herausschnellen lässt.
Dann lacht sie kurz auf und schüttelt den Kopf. „Ja, denen sind wir vor ein paar Tagen auch begegnet. Eigentlich lustig, dass sich hier gerade so viele Feuerwesen auf einmal herumtreiben."
Der Feuergeist lässt erneut seine Zunge herausschnellen, ehe er sich umdreht und zurück ins Feuer watschelt, das ihn schneller verschluckt als ich blinzeln kann.
„Was war das denn?", traue ich mich zu fragen, als der stille Moment sich unangenehm ausdehnt.
Amber zuckt mit den Schultern, was mich daran erinnert, dass ich ja eigentlich ihre Verbrennung einsalben wollte. „Er hat sich verirrt und hat kurz gesagt, dass er für Igna ein paar Irrlichter überprüfen soll. Was weiß ich, was er damit wirklich meint. Naturgeister können sich als so verwirrend ausdrücken."
„Seit wann kannst du mit Naturgeistern reden?", frage ich verwirrt. Bisher habe ich immer angenommen, dass sie sich nur zusammenreimt, was diese sagen, aber sie kann sie anscheinend verstehen? Konnte sie das schon immer?
Amber dreht sich tatsächlich zu mir um, um mich verwirrt anzuschauen. Ehe sie den Mund öffnen kann, wird der erste friedliche Moment seit Tagen unterbrochen.
Es beginnt mit einem Fuchs, der laut jammernd an unserem Feuer vorbeirennt. Ihm dicht auf sind eine Gruppe bronze angemalter Menschen, die etwas verdecktes tragen, und schneller dem Fuchs hinterher gerannt sind, als ich begreifen kann, dass sie da sind.
Und dann tauchen schon wieder Soldaten auf.
Es bleibt uns keine Zeit mehr, Ambers verräterische Haare abzudecken, oder uns irgendwie darauf vorbereiten, ehe sie vor uns zum stehen kommen.
„Habt ihr gesehen, in welche Richtung diese Verfluchten verschwunden sind?", keucht uns einer der Soldaten an, während er sich auf seine Knie stützt und tief Luft holt.
Ambers Rückenmuskeln versteifen sich unter meinen Fingern und ich kneife ihr warnend in die Schultern. Vielleicht sind sie ja so abgelenkt von ihrer Jagd, dass sie uns nicht genauer anschauen.
„Nein, tut mir leid", sage ich so entspannt wie möglich, während ich Ambers Hemd wieder herunter ziehe und die kleine Glasflasche verstaue. Ansonsten haben wir nichts ausgepackt und sollten wir auffliegen, können wir jeden Moment fliehen. Sofern Amber nicht wieder eine göttliche Eingebung von Igna bekommt und Rachegöttin spielt.
„Verdammt", flucht der Soldat und will sich bereits abwenden, als sein Blick an Amber hängen bleibt.
Verdutzt schaut er ihre Haare an, ehe er sich umsieht und langsam zu einer Erkenntnis kommt, denn sein Gesicht verhärtet sich und er tritt mehrere Schritte zurück.
„Für wie blöd haltet ihr uns eigentlich?", beginnt er seine Tirade.
Mehr braucht Amber nicht. Sie wirft ihm eine Handvoll Blumensamen vor die Füße und bleckt die Zähne wie ein wildes Tier, als der Soldat auf einmal mit einer Pistole auf sie zielt.
Noch mehr Soldaten tauchen auf, Stimmen werden laut und dann schreien plötzlich drei Leute auf.
Ich reiße mich aus meiner Starre und sehe gerade noch die weiten Augen des ersten Soldaten, ehe er zu Boden stürzt. Ein Ast hat seine Brust durchbohrt und ich muss an den anderen Soldaten denken, den Amber versehentlich umgebracht hat. An diesem Angriff ist nichts versehentlich.
Ich fluche unterdrückt, versuche nicht zu tief einzuatmen, weil die Luft nach Blut stinkt, und zerre Amber hinter mir her. Das Feuer lasse ich für einen Moment auflodern, ehe ich uns tiefer in zwischen die Bäume führe.
Die Soldaten sind schon seit einigen Tagen verschwunden, aber in meinem Kopf sind sie immer noch.
Sobald ich die Augen schließe oder mich nicht ablenke, muss ich an die aufgerissenen Augen denke, an die blutigen Blätter und Äste, an den Schock in meinen Knochen, weil Amber ohne zu zögern ein fremdes Leben genommen hat.
Es fühlt sich an wie ein anderes Leben, als ich meine beste Freundin noch ohne Sorge angeschaut habe und mir keine Gedanken darüber gemacht habe, auf welche Weise sie den nächsten Soldaten töten wird.
Diese Gedanken fressen sich wie Gift durch meinen Kopf und ich sehne mich mit fast schon körperlichem Schmerz nach meiner Familie und unserer Höhle und unbeschwerten Sommertagen.
Wieso ist in den letzten Wochen auch alles so eskaliert?
Ich kann es nicht genießen, als wir endlich das große Grasland hinter uns lassen und die Verwunschenen Berge besteigen. Amber wechselt kaum mehr als die nötigen Worte mit mir und ich weiß nicht, wie ich zu unserem unbeschwerten Verhältnis zurückkommen kann. Es tut mir weh, dass meine beste Freundin und ich uns nicht verstehen, aber mir fällt auch kein Weg ein, wie ich dies ändern könnte.
Also beiße ich die Zähne zusammen und puste uns einen leichten Wind in den Rücken, damit uns der Aufstieg leichter fällt.
Und als wir die Lichtung erreichen, auf der die Baumhäuser wie aus meiner Erinnerung entsprungen scheinen, kann ich mich nicht einmal freuen, endlich an einem sicheren Ort zu sein.
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„Votet, weil wir niemanden gefressen haben?" – Die Irrlichter, noch sehr verwirrt über den Ausgang ihrer Jagd
Kennt ihr das, wenn ihr denkt, dass euer Buch eigentlich gar nicht so düster ist, aber dann lest ihr es dreimal und denkt "Hupsi, das ist doch anders geworden als gedacht?"
Ähm, postive Nachricht immerhin: Wir nähern uns in großen Schritten dem Ende. Und da ich die letzten paar Kapitel als eine Lesenacht veröffentlich werde, sind es auch nicht mehr allzu viele Wochen.
Wer ist schon alles aufgeregt dafür, wie es endet? Theorien sind erwünscht und werden enthusiastisch beantwortet.
P.S: Mir ist erst beim schreiben aufgefallen, wie unglaublich brutal Marks Tod ist. Ich habe noch keine Todesszene geschrieben, die so grausam war. Mir ist selber schlecht geworden.
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