Kapitel 11
Die zwei Tage nach den Prüfungen sind ein Wirrwarr aus müden Morgen und ruhigen Stunden im kleinen Hof.
Amber und ich streifen durch die vertrauten Gänge, zeigen auf die Stelle, wo Amber im zweiten Jahr versehentlich eine übergroße Rose wachsen ließ, und schwelgen in alten Erinnerungen.
Es ist ein seltsames Gefühl in der Schule zu sein, aber nicht im Unterricht zu sitzen. Amber und ich klettern in der ersten Nacht nach den Prüfungen auf das Dach, wickeln uns in drei Decken und beobachten die Sterne.
Ich habe eine Flamme mitgebracht, die ich zwischen uns in der Luft halte und deren Wärme uns zur Hälfte wärmt. Es ist eine windstille Nacht, der Schnee glänzt auf den Bergen um uns herum und am Eingang des kleinen Tals, in dem die Schule liegt, taucht irgendwann ein funkelnde Naturgeist auf.
Amber quetscht mir fast das Blut im Arm ab, während wir beide den Wolf beobachten, dessen Fell weiß wie der Schnee ist und in dem Eiszapfen hängen. Mit jedem Schritt klirren sie leise, während die silbern leuchtenden Augen über die Schule streifen.
„Der ist ja wunderschön", haucht Amber verzückt und japst nach Luft, als der Wolf mit einem gewaltigen Satz zu einem schneebedeckten Busch springt und sich noch in der Luft in wirbelnde Schneeflocken auflöst, die langsam zu Boden sinken.
„Das werde ich vermissen", sagt Amber unvermittelt und seufzt schwer.
„Was, nachts auf dem Dach zu sitzen?", frage ich sie und halte meine Hand unter die Flamme, um meine Finger aufzuwärmen.
Amber schüttelt den Kopf und greift in ihren Deckenkokon, um ihn wieder zurechtzurücken. „Dass ich mir sicher genug vorkomme, um nachts die Sterne anzustarren. Und dass mitten auf dem Dach, wo man uns sofort sieht."
„Du kannst dir immer den höchsten Baum suchen und von dort den Mond anheulen", widerspreche ich halb im Scherz, auch wenn ich zu verstehen meine, was Amber meint.
Sie schnaubt belustigt und wirft mir einen entsprechenden Blick zu. „Sicher, ich werde es vermissen, den Mond anzuheulen", grinst sie mit roten Wangen. Ihre Nase ist ebenfalls rot angelaufen, nur ihre Lippen haben Farbe verloren. „Nein, ich meine eigentlich, das alles hier."
Sie schiebt eine Hand aus ihren Decken und beschreibt einen großen Kreis um uns herum. „Die Schule. Die Vertrautheit. Dass ich genau weiß, wo ich morgen sein werde und was ich machen werde." Sie seufzt und zieht ihre Hand zurück unter die Decken. „Ich schätze, dass ich es vermissen werde, meinen Platz in der Welt zu kennen."
„Das ist aber sehr tiefgründig für dich", sage ich, ehe ich mich stoppen kann, und weil es so ungewohnt ist, Amber so ernst zu sehen.
Meine Freundin verdreht die Augen und kickt ihren Fuß in meine Richtung, trifft jedoch nur das Dach. „Du bist auch nicht geheimnisvoller als ein Storch, der auf einem Bein steht."
Darüber muss ich lachen und Amber sieht mich mit zuckenden Lippen an, ehe sie ebenfalls loskichert.
„Aber ich verstehe schon, was du meinst", sage ich, als wir uns wieder beruhigt haben. „Wenn wir die Schule verlassen gibt es niemanden mehr, der einem Struktur gibt, du bist auf einmal für dich selbst verantwortlich. Ich finde es auch irgendwie gruselig, wie viel Freiheiten ich auf einmal habe. Im Grunde hält mich nichts davon ab, einfach nach Weidentrauer zu gehen und den königlichen Palast anzuzünden."
„Das müssen wir unbedingt auf unsere Liste setzen", sagt Amber im Scherz, zumindest hoffe ich, dass sie nicht wirklich den Palast verbrennen will, und nickt bestätigend. „Und das mit den Freiheiten finde ich auch gruselig. Kannst du dir vorstellen von einem Tag auf den anderen niemanden mehr zu haben, der dir sagt, was du machen sollst? Niemand hat mehr Macht über dich und die ganze Welt steht dir offen."
Ich schaudere angesichts der überwältigend großen Möglichkeiten und ziehe meine Decken höher, bis sie meine Ohren berühren. „Darauf hätte man uns vorbereiten sollen", murmle ich und unterdrücke ein Gähnen. „Wie kommt man damit klar, dass man auf einmal ganz alleine für sein Leben verantwortlich ist und es niemanden mehr gibt, der einem eine Richtung vorgibt?"
Zwei Tage später wache ich mit der Sonne auf und bleibe in meinem Bett liegen, anstatt sofort aufzustehen.
„Heute ist mein letzter Tag", sage ich mir und lausche, wie meine Stimme von den Wänden verschluckt wird. „Morgen bin ich schon von den Bergen runter. Und in ein paar Tagen bin ich bei meiner Familie."
Es klingt auch nicht realer, wenn ich es ausspreche. Es fühlt sich auch nicht realer an, dass ich heute die Schule verlassen und mich in die weite Welt aufmachen werde.
„Heute werde ich die Schule abschließen", sage ich laut und verziehe das Gesicht. Auch wenn ich schon lange weiß, dass ich heute gehen werde, fühlt es sich dennoch eher wie ein Traum an als wie die Wirklichkeit.
„Ich kann nicht glauben, dass ich wirklich gehe", murmle ich und schwinge mich mit einem Seufzen aus dem Bett.
Es ist noch niemand im Bad am Ende unseres Trackts, sodass ich leise vor mich hinsingen kann, ohne dass sich jemand über die schiefen Töne beschwert, während ich mich in die Badewanne kauere.
Mit noch nassen Haaren gehe ich zurück in mein Zimmer und habe schon robuste Kleidung in der Hand, als ich es mir anders überlege. Ich lege die Kleider auf meinem Bett ab und ziehe stattdessen das gelbe Kleid an, dass ich zuletzt im Herbst getragen habe, als wir Hanrocks Tag gefeiert haben.
Amber platzt in mein Zimmer, noch in ihren Schlafsachen, und blinzelt überrascht, als sie mich sieht. Ihre Haare sehen aus wie eine Wolke, die sich an ihren Kopf gehängt hat, während ihre Äste herausstehen wie verirrte Blitze. „Du bist schon wach?", sagt sie überrascht und wirft einen Blick aus dem Fenster, als hätte sie sich in der Zeit geirrt.
„Ich bin schon eine ganze Weile wach", erwidere ich und seufze tief, als ich meine Lernunterlagen zusammensuche. Es ist eine dicke Mappe, aber ich habe keinen Platz, um alle Unterlagen aus den neun Jahren zu behalten.
„Oh, du packst schon?" Amber ist scheinbar von allem überrascht, was ich heute Morgen mache, als würde sie mich zum ersten Mal treffe. Vielleicht ist sie aber auch noch nicht wirklich wach und ihr Kopf arbeitet noch nicht mit voller Geschwindigkeit. „Ich habe noch nicht einmal angefangen."
„Ich habe gestern Abend schon angefangen." Mit meiner Sammlung getrockneter Wildkräuter in den Händen zucke ich mit den Schultern und lege das selbst gemachte Büchlein in meine Tasche. „Ich wollte den ganzen Stress nicht heute haben, weil ich meinen letzten Tag genießen will."
Amber glotzt mich aus großen Augen an, als würde ich in einer anderen Sprache sprechen. Aus der Nähe fallen mir ihre Blüten auf, die seltsam zerknautscht aussehen, und die Spitzen von einem roten Band, das in einer Locke und einer Astgabel festhängt.
„Hast du schon Hunger?", frage ich Amber und wiege mein Geschichtsbuch in den Händen. Es ist wirklich schwer, wenn ich es mit mir nehme tut mir sicher der Rücken nach kurzer Zeit weh. Aber ich will es auch nicht hier lassen. „Ich hätte Hunger, aber wenn du noch warten willst geht das auch klar, dann kann ich noch packen."
Amber erwacht aus ihrer Trance, schüttelt sich wie ein nasser Hund und lächelt mir mit geschlossenem Mund zu. „Nein, wir können ruhig schon gehen, es sind dann immerhin nicht so viele Leute da." Und damit dreht sie sich um und geht zurück in ihr Zimmer, um sich umzuziehen.
Ich räume meine Lernsachen in meine Tasche und staple alles auf meinem Schreibtisch, was ich nicht mitnehmen möchte und dafür später wegwerfen werde. Ein wenig schmerzt es mich, denn allein vom flüchtigen Durchblättern erinnere ich mich an so viele Stunden und einige waren sogar spaßig, weil mir Amber Blödsinn ins Ohr gezischt hat, während der Lehrer vorne stand und nichts mitbekommen hat.
Aber leider habe ich nicht den Platz, um alles mit mir durch die Welt zu tragen, an dem mein Herz hängt.
Ich käme meine Haare erneut und binde sie in einen Knoten hoch, den ich mit einer Haarnadel feststecke. Fast bin ich versucht mir die Lippen rot anzumalen, allerdings kommt es mir dann zu viel vor, vor allem wenn ich die Einzige bin.
Amber taucht wieder auf, vollständig angezogen und mit gebürsteten und bandfreien Haaren. Sie hat sich ebenfalls herausgeputzt und trägt einen Anzug, der so tiefblau ist, dass er schwarz wirkt, und zudem bei jeder Bewegung wie Wasser schimmert.
„Schick schick", kommentiere ich, als wir uns auf den Weg zum Speisezimmer machen. Dabei kommen wir an noch mehr Leuten aus unserem Jahrgang vorbei, von denen sich viele ebenfalls in Schale geworfen haben. Ich bin erleichtert, dass wir nicht die einzigen sind, die sich für ihren letzten Tag besonders fühlen wollen.
Im Speisezimmer bekommen wir neugierige Blicke von den jüngeren Jahrgängen ab, doch wir ignorieren sie. Irgendwie landen wir alle an den gleichen Tischen, obwohl wir uns normalerweise nicht so viel Mühe geben, die Mahlzeiten miteinander zu verbringen.
„Oh wunderbar", murmelt Amber, die wie üblich genervt ist von zu vielen Menschen um sie herum, und macht ein finsteres Gesicht, als ich eine Schale mit Rührei und Speck vor ihr abstelle. „Wollen wir jetzt noch eine bewegende Abschiedsrede halten und dabei ein paar Tränen verdrücken oder reicht unsere Solidarität dafür nicht?"
Ich stupse sie mit dem Ellbogen in die Seite und sie sieht finster zu mir. „Sei nicht so grummelig", weise ich sie zurecht und lächle, als sie ihre Nase in meine Richtung kräuselt. „Es ist unser letzter Tag. Fang jetzt bitte keinen Streit an."
„Nur, weil du mich so nett gefragt hast", grummelt Amber weiter, schweigt dann aber und pflastert sich ein Lächeln aufs Gesicht, als uns ein Mädchen anspricht, mit dem wir in den letzten Jahren kaum ein Wort gewechselt haben.
Nach dem Frühstück gehen Amber und ich zurück auf unsere Zimmer. Amber erzählt auf dem Weg von dem Kopfschmuck, den ihre Eltern vor Jahren gebastelt haben, als ihnen langweilig war und dann Amber vermacht haben. „Ich muss ja gut für meinen Schulabschluss aussehen", sagt sie, ehe die Tür hinter ihr zuschlägt.
Ich nutze die freie Zeit bis zur Zeugnisverleihung, um weiter meine Sachen zusammenzupacken. Die Schulsachen, von denen ich mich nicht trennen kann, beanspruchen den meisten Platz und meine Kleidung kann ich in die Lücken stopfen. Übrig bleiben nur einige Kleinigkeit, die sich im Lauf der Jahre angesammelt haben.
Ich nehme den grauen Stein in die Hand, der in der Mitte durchgebrochen ist und sein violett schillerndes Inneres enthüllt. Auf einem Ausflug durch die Berge vor drei Jahren hat meine Gruppe diesen Stein gefunden und wir haben ein kleines Wettrennen zurück zur Schule veranstaltet. Ich habe gewonnen, indem ich Gegenwind für alle außer mich erzeugt und den Schnee für mich zu Eis gepresst habe, sodass ich quasi vor die Türen der Schule geschlittert bin.
Amber hat sich später beschwert, dass ich sie absichtlich hinfallen ließ, aber ich habe nicht einmal bemerkt, wie sie durch den Schnee in eine kleine Felsspalte getreten und umgefallen ist.
Oder diese Muschelkette. In meinem ersten Jahr haben wir im Herbst einen Ausflug ans Meer gemacht und dort Muscheln gesammelt, Möwen gejagt und sind in die Wellen gesprungen. Ein Junge hat für alle Muschelketten gebastelt.
Und zwei Jahre später kam er einfach nicht mehr zur Schule. Das Gerücht ging um, dass Soldaten seine Familie erwischt hätten. Die Lehrer haben dazu nichts gesagt und so getan, als wäre er nicht einmal auf unserer Schule gewesen.
„Götter, wie deprimierend", murmle ich und lasse die Muschelkette durch meine Finger gleiten.
Ich habe seit Jahren nicht mehr an diesen Jungen gedacht, aber trotzdem kann ich mich noch daran erinnern, wie er bei diesem Ausflug in die Wellen gefallen ist und lachend wieder herauskam, während die Lehrer ihn zurechtgewiesen haben. Damals kam er mir irgendwie sehr alt vor, aber im Nachhinein kommt er mir so jung vor. Viel zu jung, um wirklich von Soldaten erwischt zu werden.
Ich atme tief durch und schiebe die Gedanken an den Jungen beiseite, denn sonst starre ich für den Rest des Tages ins Nichts und denke über jemanden nach, den ich kaum kenne. Stattdessen gehe ich die anderen Erinnerungsstücke durch: eine kleine Statur von Zoeä, die ich mal selbst gebastelt haben, als wir eine Motivwoche hatten, ein Bild von einem Sonnenblumenfeld, das mir Amber mal gemalt hat, und ein kleines besticktes Kissen, das mir meine Eltern zum Schulstar geschenkt haben, als ich starkes Heimweh hatte.
Ich finde noch ein paar Lücken, in die ich die Andenken stopfen kann, auch wenn das Kissen ein wenig herausschaut, und sehe mich dann in meinem Zimmer um.
Es war zuletzt so leer, als ich vor neun Jahren hier eingezogen bin. Und jetzt ziehe ich aus und nichts erinnert mehr daran, dass ich einmal hier war.
Ich schüttle den Kopf und mache mich auf den Weg zu Amber, damit wir zur Zeugnisverleihe gehen können. Der Abschied pflanzt mir komische Gedanken in den Kopf und ich habe nicht vor, mir meinen letzten Tag von mir selbst ruinieren zu lassen.
Ambers Zimmer ist das reinste Chaos, während sie von einer Ecke in die andere wirbelt, Hemden und Bücher unter die Arme geklemmt, und dabei fast eine Pflanze umstößt, die auf ihrem Fensterbrett steht.
Ich helfe ihr kurz ihre Schulbücher in mehrere Taschen zu packen, ehe wir uns erneut auf den Weg zum Speisezimmer machen.
Wir sind eine der Ersten und müssen sogar noch mithelfen, die Tische an die Seite zu räumen und eine lange Stuhlreihe nach der anderen aufzustellen. Ich entschuldige mich kurz in den kleinen Innenhof, in dem ein leichter Wind weht, und nehme ihn mit hinein, damit ich die Stühle nicht selbst tragen muss.
Amber lacht kurz über mich, weil der Wind mit dem Saum meines Kleides spielt und sie das offenbar witzig findet. Ich räche mich, indem ich den Wind wie zufällig in ihre Richtung schicke und sie dabei zu Boden drücke, während die Stühle, mit denen sie sich abgemüht hat, von ihm an ihre Posten gerückt werden.
„Wanda, das sind meine guten Kleider", meckert Amber, stellt sich wieder auf ihre Beine und klopft ihren Anzug ab, als hätte ich sie in ein riesiges Spinnennetz geschubst.
Ich verdrehe die Augen über sie, spare mir eine Antwort und steige mit Hilfe des Windes, den ich mir in den Rücken pusten lasse, auf einen Tisch. Von hier habe ich einen besseren Überblick und sehe eher, wo noch Stühle fehlen.
Die Lehrer und jüngeren Schüler, die noch nie eine Abschlusszeremonie gesehen haben und sich verstohlen mit neugierigen Augen umsehen, lassen überrascht die verbliebenen Stühle los, als ich den Wind durch den Raum schicke und ihnen die Arbeit abnehme. Amber murmelt etwas von Angeben, was ich großzügig ignoriere.
Als alle Stühle stehen springe ich von dem Tisch und der Wind bremst mich ab, sodass ich elegant zu Boden schwebe.
„Du bist so eine Angeberin", wiederholt Amber und verdreht die Augen über mich.
„Danke, ich übe es schon lange", gebe ich bescheiden zurück, klopfe mir imaginären Staub vom Rock und lasse den Wind frei. Er verliert sich im Saal und ein kleiner Teil schwebt durch ein geöffnetes Fenster hinaus.
Amber und ich setzen uns in die mittleren Reihen, während sich der Saal langsam mit Schülern und Lehrern und einigen Eltern füllt, die mit stolzem Gesicht neben ihren Kindern stehen. Ich sehe mich um, entdecke aber weder meine Eltern noch die von Amber.
„Meine kommen nicht, das haben sie geschrieben", erinnert sich Amber und dreht sich zu dem freien Fleck vorne. „Für sie ist der Weg zu lange, zumal ich ja nicht direkt zu ihnen gehe und sie nicht so lange von Daheim wegwollen."
„Ohne Bäume um sich fühlen sie sich einfach unvollständig", necke ich sie und Amber tätschelt freundschaftlich meine Augenbrauen, was sich eher wie ein abgeschwächtes Hauen anfühlt, ein verstecktes Lächeln in den Mundwinkeln.
„Sicher, Wandalein, wenn dir diese Illusion nachts Frieden schenkt", sagt sie gönnerhaft und grinst breit, was überrascht wird, als auf einmal Miss Catrin den Saal betritt.
Sofort wird es stumm und alle Augen richten sich erwartungsvoll auf sie.
Die Schulleiterin lächelt in die Runde und nickt vereinzelten Leuten zu, wobei ihre gläsernen Ohrringe in Form von Schwalben glänzen. Sie hat ihre üblichen braunen Kleider gegen ein weinrotes Kleid getauscht, das sich so sehr um ihre Füße kringelt, dass ich mich frage, wie sie beim Laufen nicht stolpert.
„Ich begrüße alle Schüler, Eltern und Lehrer herzlich zur Zeugnisvergabe unserer diesjährigen Abgänger!" Sie klatscht mit einem breiten Strahlen und verneigt sich sogar leicht, als wären wir Adelige. Wir klatschen ebenfalls, auch wenn ich mir komisch dabei vorkomme, mir selbst zu applaudieren.
„Ich kann mit Stolz verkünden, dass die letzten neun Jahre nicht umsonst waren. Kein einziger Schüler ist durchgefallen und bei keinem einzigen haben wir uns Sorgen gemacht, ob er oder sie die Prüfungen bestehen könnte." Miss Catrin hält wieder inne, um erneut kurz zu klatschen.
„Ich werde jetzt die Zeugnisse herausgeben und ich bitte die Schüler nach vorne zu kommen, wenn sie aufgerufen werden." Mr. Bram, der einen Stapel Blätter in den Händen hält, tritt neben sie und lächelt leicht gequält. Allerdings sieht er immer so aus, egal, ob er nur durch den Gang läuft oder unterrichtet. Daran ändert auch sein brauner, karierter Anzug samt kleinem Hut nichts.
Nervosität breitet sich wie ein herumwuselnder Insektenschwarm in mir aus. Ich zupfe an meinen Haaren, streiche mein Kleid und verknotet dann meine Hände in meinem Schoß, damit sie nicht so unruhig durch die Luft schwirren.
Während Miss Catrin die Zeugnisse verteilt und wir bei jedem Schüler laut klatschen kann ich nicht verhindern mir zu wünschen, dass ich meines schon hätte. Ich möchte nicht vor allen Augen nach vorne gehen, Miss Catrin die Hand schütteln und mich dann beklatschen lassen, es kommt mir irgendwie so übertrieben vor.
Dann wiederrum müssen wir auch irgendwie feiern, dass wir neun Jahre Lernen und Prüfungen hinter uns gebracht haben, also eigentlich wäre eine große Feier angemessener.
Amber springt mit einem Mal neben mir auf und strahlt mich kurz an, ehe sie unter lautem Applaus nach vorne läuft. Ich bemühe mich wieder in der Realität anzukommen und klatsche mir die Hände wund.
„Herzlichen Glückwunsch!", sagt Miss Catrin und strahlt meine beste Freundin an, ehe sie ihr das Zeugnis reicht.
Amber strahlt zurück und umarmt die Schulleiterin so schnell, dass man es sich auch einbilden könne. Dann stolziert sie zurück auf ihren Platz und wirkt dabei absolut zufrieden mit sich und der Welt.
„Schau mal", zischt sie, kaum dass sie wieder sitzt, und hält mir ihr Zeugnis hin. „Ich bin in Geschichte viel besser als erwartet, Wahnsinn, ich dachte, die alte Schreckschraube lässt mich absichtlich durchfallen."
Eine neue Runde Applaus brandet auf und das Blitzmädchen stolziert nach vorne, ein breites Lächeln auf dem Gesicht, während kleine Funken um sie herum knistern.
„Sie hasst dich doch nicht", zische ich zurück und klatsche höflich. Meine Hände fühlen sich allmählich taub an, obwohl wir schon fast fertig sind. „Du bist eine ihrer Lieblingsschülerinnen, wenn du gerade keine heftige Diskussion anfängst, die den Rest der Stunde andauert."
Amber schnaubt lächelnd. „Dabei ist das doch mein Lieblingsteil gewesen", sagt sie mit einem Zwinkern in ihren Augen.
„Wanda Viston", höre ich und springe automatisch von meinem Stuhl auf.
Ich dränge mich an Amber vorbei und bemühe mich dann schnell nach vorne zu kommen, ohne dabei zu rennen. Von allen Seiten lächeln mich Gesichter an und der Applaus brennt mir in den Ohren.
Vor Miss Catrin angekommen schüttle ich ihr die Hand und nehme dann mein Zeugnis entgegen. Miss Catrin lächelt mich stolz an und hebt ihren Zeigefinger, als ich mich abwenden will.
„Wanda ist nicht nur eine vorzügliche Schülerin gewesen, sondern hat auch als Jahrgangsbeste bestanden", verkündet sie und lächelt stolz in die Runde, während die Zuschauer erneut applaudieren.
Ich merke, wie mir der Mund aufklappt. „Jahrgangsbeste?", wiederhole ich und Miss Catrin nickt bestätigend. „Wahnsinn."
„Wenn du nach der Vergabe noch kurz bei meinem Büro vorbeischaust habe ich eine kleine Überraschung für dich, als Jahrgangsbeste." Miss Catrin nickt erneut, ehe sie ebenfalls zu klatschen anfängt, und ich mit warmem Gesicht zurück zu meinem Platz trotte.
„Du bist die Jahrgangsbeste!", ruft mir Amber entgegen und ich wedle mit einer Hand, als würde sie davon leiser werden. „Da hast du dir vollkommen umsonst Sorgen gemacht, du Lernmaschine."
Ich lächle verlegen und setze mich neben sie.
Miss Catrin verteilt die letzten Zeugnisse und steht dann mit Mr. Bram vorne, die Hände vor sich verschränkt.
„Bevor ihr euch jetzt in die große weite Welt aufmacht will ich ein paar Worte zum Abschluss verlieren", beginnt sie und jemand in der vorderen Reihe stöhnt übertrieben laut auf.
„Ja, Kevin, ich muss", sagt sie an ihn gewandt und verhaltenes Gelächter schwebt durch den Raum. „Ich beeile mich auch, versprochen. Ich wollte nur sagen, dass ich wirklich stolz auf euch alle bin. Ihr habt euch in den letzten neun Jahren von kleinen Kindern zu reifen Erwachsenen entwickelt, auch wenn einige von euch eine kindliche Seite behalten haben."
Sie zwinkert Kevin zu und seine ganze Reihe kichert. „Ich werde euch alle vermissen, denn auch wenn ich euch nicht unterrichtet habe haben wir uns doch regelmäßig in meinem Büro getroffen. Ich habe euch alle sehr ins Herz geschlossen und es fällt mir ein wenig schwer, euch jetzt einfach gehen zu lassen. Aber ihr habt es lange genug hier ausgehalten und es wäre unfair von mir, euch noch länger hier einzusperren, wenn doch da draußen euer Leben auf euch wartet. Ich wünsche euch alles Gute und Liebe für eure Zukunft! Und vergesst nicht, dass ihr niemals alleine seid. Ihr mögt vielleicht denken, dass es niemanden gibt, dem ihr am Herzen legt. Da kann ich vehement widersprechen!"
Miss Catrin lächelt und verteilt dann Luftküsse durch den Raum, als müsse sie uns beweisen, dass sie uns mag. Amber tut so, als würde sie einen Luftkuss aus der Luft schnappen, und drückt ihre geschlossene Faust an ihre Brust.
„Und jetzt seid ihr endgültig frei! Wer mag kann bleiben, wir feiern eueren Schulabschluss heute Abend bis in die Nacht hinein. Dem Rest wünsche ich erneut alles Gute. Mögen die Götter immer über euch wachen und eure Schritte leiten."
Erneut applaudieren wir, während Miss Catrin sich leicht verbeugt und dann mit einem breiten Lächeln zurücktritt.
Amber schmeißt sich auf mein leeres Bett und sieht sich traurig in meinem leeren Zimmer um. Nur meine überquellende Tasche steht noch in der Mitte des Raumes; mein Stapel Schulunterlagen, die ich nicht mitnehmen kann, habe ich gerade eben in der Küche dem Feuer geopfert und alles andere habe ich eingepackt oder jüngeren Schülern vermacht, die mir auf dem Gang über den Weg gelaufen sind.
„Ich werde es hier vermissen", seufzt Amber schwer und schließt die Augen. Sie hat ihren schillernden Anzug gegen robuste, braune Kleidung gewechselt, die deutlich geeigneter ist, um durch Schneefelder zu marschieren.
Ich habe mich ebenfalls umgezogen und trage jetzt einfach und robuste Kleidung. Mein dicker Mantel liegt neben meiner Tasche und eine Mütze, die mir mein Vater mal gehäkelt hat, liegt daneben.
„Ich auch", sage ich und setze mich neben sie. „Schau mal, was mir Miss Catrin geschenkt hat."
Amber macht neugierig die Augen auf und sieht zu meinen geschlossenen Händen.
Ich drehe mich leicht in ihre Richtung und mache dann langsam die Hände auf.
Amber schnappt nach Luft und richtet sich eilig auf. „Sie hat dir Samen für Regenkelche gegeben?", fragt sie ungläubig und mustert den kleinen Hügel aus grauen Samen in meiner Handfläche. „Du hättest für den Rest deines Lebens ausgesorgt, wenn du es schaffst, die anzupflanzen."
„Ja, sie meinte, dass sie mir die Sorge um meine Familie nehmen wolle und weil ich zudem immer vorbildlich war und im Gegensatz zu dir nie Probleme verursacht habe wollte sie mir die als gutes Omen geben." Ich höre den Stolz aus meiner Stimme, aber ich habe auch jedes Recht, stolz zu sein.
Amber tut so, als hätten meine Worte sie verletzt, und lässt sich laut röchelnd und hustend wieder zurückfallen, eine Hand über die Augen gelegt. Ich zwicke sie leicht in die Seite und sie quietscht wie eine getretene Maus auf, ehe sie meine Hände von sich scheucht. Die Samen fallen mir dabei fast aus der Hand, weswegen ich sie vorsichtig zurück in die kleine Hülle schütte, in der mir Miss Catrin sie gegeben hat, und stecke die Hülle dann zwischen Hemden in meine Tasche.
Es klopft an meiner Zimmertür. Ich wechsle einen überraschten Blick mit Amber, ehe ich zur Tür gehe und sie aufmache.
Dort steht mein Vater, seine grünen Augen funkeln fröhlich und in seinem Haar schmelzen Schneereste.
„Papa!", rufe ich überrascht und werfe mich sofort in seine ausgebreiteten Arme. Er riecht nach feuchter Erde und Gebackenem und Schnee und ich drücke mein Gesicht glücklich gegen seine Schulter.
„Na, meine Große, ich freue mich auch. Bist du bereit?", fragt Papa und streicht mir über die Haare. Seine Hand ist größer als meine und ich komme mir wieder wie ein kleines Kind vor, aber auf die gute Art.
„Absolut", sage ich in seine Schulter herein und genieße es, ihn endlich vor mir zu haben. Zuletzt habe ich ihn vor fast einem Jahr gesehen, als die Schulpause geendet hat und ich mich zurück auf den Weg machen musste.
„Hallo Amber", sagt mein Vater über meine Schulter und ich lasse ihn widerwillig los.
„Hallo Fjedor", grinst Amber und winkt mit ihrem Zeugnis. „Ich bin viel besser erwartet, aber natürlich nicht so gut wie unsere Jahrgangbeste Wanda."
„Du bist Jahrgangsbeste?", macht Papa erstaunt und ich nicke mit einem verlegenen Lächeln. „Oh, ich bin so stolz auf dich."
„Danke", grinse ich und zucke mit den Schultern. „Ich bin selber überrascht."
Papa bestaunt mich weiterhin, während ich meinen Mantel und die Mütze anziehe und die schwere Tasche auf meinen Rücken wuchere. Ich sehe mich ein letztes Mal in meinem komplett leeren Zimmer um und sage leise meinen Abschied, ehe wir Amber in ihr Zimmer folgen, wo sie ihre Taschen einsammelt.
Dann machen wir uns auf den Weg Richtung Schultor und hören auf dem Gang noch die Überreste der Feier.
Amber und ich waren für eine Kerbe zwar dort, aber es ist zu laut und die Schule hat sogar Alkohol herausgegeben, weswegen nach einer halben Kerbe schon der Großteil betrunken war. Von irgendwoher kam eine Gruppe mit Geigen und einer Flöte und sie haben gerade angefangen zu spielen, als Amber und ich gegangen sind.
Diese Feier muss ich nicht erleben, um zu wissen, dass das nichts für mich ist. Außerdem will ich Heim zu meiner Familie und es kribbelt und knabbert an mir mit jedem Moment, den ich hier noch verbringe.
Auf dem Weg sehen wir die letzten Schüler aus den unteren Jahrgängen, die teilweise geblieben sind, weil sie unseren Abschied mitbekommen wollten. Viele sind schon gestern gegangen und mir ist noch gar nicht aufgefallen, wie leer sich die Schule anfühlt, wenn der Großteil der Räume unbenutzt ist.
Als wir vor dem Tor stehen fällt mir die drückende Leere in meiner Brust auf und ich bleibe stehen, um die Schule ein letztes Mal zu sehen. Sollte ich selber Kinder bekommen würde ich wohl wiederkommen, aber es wäre dennoch nicht so, wie es die letzten Jahre war.
Auf Wiedersehen, denke ich mir und winke dem Gebäude zu, auch wenn Amber mich dafür angrinst, als hätte ich eine Schraube locker. Danke für alles. Ich werde dich vermissen.
Amber mag sich über mich lustig machen, aber sie schnieft leise und ich weiß, dass sie der Abschied ebenfalls mitnimmt. Ich nehme ihre Hand in meine und drücke sie leicht.
Nach einem langen Moment drehen wir uns, ich harke mich bei Papa ein und wir machen uns auf den Weg nach Hause.
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„Votet und wir gehen vielleicht doch noch auf die Feier." - Amber, hasst Menschenmassen abgrundtief.
Wandas Abschiedsworte an ihre Schule waren bis gerade eben noch sehr viel schnulziger, aber ich mag schnulzig nicht so und deswegen habe ich es rausgestrichen.
Ich weiß, weltbewegende Entwicklung, die gesamte Menschheit schlägt deswegen Purzelbäume. Aber manchmal will man eben auch die langweiligen Dinge teilen und deswegen bekommt ihr sie jetzt.
Bitte doch. Habe ich gerne gemacht.
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