Kapitel 10
„Die Armen", meint Amber mitleidig, während wir die Schüler beobachten, die vor Mrs. Hillsons Zimmer darauf warten, dass sie aufgerufen werden. „Mit der würde ich keine halbe Kerbe über meine Zukunft reden wollen."
„Wieso, sie ist doch so unglaublich nett", murmle ich und rutsche auf dem harten Stuhl herum. Allmählich schlafen mein Hintern und meine Beine ein, ganz besonders, wenn ich hier noch eine Weile warten muss.
Amber schaut alarmiert auf, als sich die Tür zu Mr. Rautenbergers Raum öffnet. Herauskommt kommt ein Junge, der einen ganzen Stapel Blätter vor sich balanciert und unter dem Gewicht ein wenig wankt.
„Wieso gibt der Rautenberger uns denn so viel Papierkram?", brummt Amber missmutig, während der Junge aus dem Weg tritt und erstmal die Hälfte seiner Blätter verliert. „Ich meine, reicht es denn nicht, dass er uns im Unterricht schon unter Merkblättern über verschiedene Pflanzen begräbt, muss er das hier auch noch weitermachen? Wir reden doch eigentlich nur, müssen wir wirklich einen Aufsatz mit dreißig Seiten schreiben?"
Ich zucke mit den Schultern und spähe zu dem Unterrichtszimmer, in dem Miss Rautenberger sitzt. Die Schlange hat sich nicht weiterbewegt, seitdem ich das letzte Mal hingeschaut habe, wenn möglich sind eher mehr Schüler dazugekommen. Dabei sind wir in meinem Jahrgang gerade mal 19 Schüler.
„Sag mir lieber, was die drei Goldenen Regeln sind", wechselt Amber dann plötzlich das Thema und wendet sich erwartungsvoll mir zu. Heute hat sie ihre Haare und Zweige zu einem großen Dutt zusammengebunden, auch wenn ich nicht weiß, wie sie das schafft, ohne ihre Zweige zu zerstören. Sie hat sogar mit dem blauen Band eine Schleife gebunden, die über ihren Kopf späht und gut zu ihrem weiten, blauen Rock passt.
„Was für drei Goldene Regeln?", mache ich verwirrt und blinzle sie wie eine Eule an. Wovon redet sie?
„Du kennst die Goldenen Regeln nicht?" Amber schnappt nach Luft und legt sich eine Hand aufs Herz. „Dabei sind sie doch so wichtig! Ich gebe dir einen Tipp: Man braucht sie, um in der Gegenwart eines Lehrers nicht auszuflippen."
„Du hast sie dir ausgedacht", geht mir auf und kurz bin ich versucht, Amber auf den Arm zu hauen. Sie hat mich erschreckt und so wie sie grinst weiß sie das auch genau.
Ich trete ihr stattdessen gegen das Schienbein.
„Aua", macht Amber und holt zischend Luft, während sie sich übers Bein reibt. Einer ihrer Zweige zuckt, als wolle er mir aus Rache ins Gesicht hauen. „War das nötig?"
„Absolut", gebe ich nur zurück und schüttle den Kopf über sie. „Was sind jetzt diese Goldenen Regeln?"
Amber zuckt mit den Schultern und grinst mich fröhlich an. „Keine Ahnung, soweit habe ich mir das nicht überlegt", grinst sie und kichert über mich, als ich die Augen über sie verdrehe.
„Du bist eine Idiotin", grummle ich und verschränke die Arme.
„Und deine beste Freundin", ergänzt Amber und klimpert übertrieben mit den Wimpern. „Gib zu, für meinen einzigartigen Sinn für Humor liebst du mich erst recht."
„Sicher nicht."
„Oh, sieh an, ich bin ja an der Reihe", bemerkt Amber und springt auf, als sich eine Lücke in der Schlange auftut. „Tut mir wirklich leid, dass ich unser sehr spannendes Gespräch unterbrechen muss, aber die Pflicht ruft."
„Seit wann folgst du irgendeiner Pflicht?", rufe ich ihr hinterher, als sie sich in die Lücke drängelt und kurz darauf im Zimmer verschwindet.
Seufzend lehne ich mich zurück und mache mich darauf gefasst, dass das Warten jetzt noch langweiliger wird.
Allerdings hat mich die Langeweile kaum gepikst, als mich auch schon Miss Rautenberger ruft.
In dem eigentlichen Klassenraum wurden alle anderen Tische an die Wand geschoben, um in der Mitte Platz für einen einzigen Tisch zu machen. An diesem sitzt Miss Rautenberger, einen Stapel Broschüren vor sich und ein breites Lächeln auf dem Gesicht.
Sie trägt hellgrünes Kleid, das vor ihrer dunklen Haut zu leuchten scheint. Ihre schwarzen Haare hat sie unter einem Kranz aus Stoffblumen versteckt und eigentlich sieht sie überhaupt nicht so aus, als wäre sie hier zum unterrichten.
„Wanda, komm doch, komm", sagt Miss Rautenberger und winkt mich energisch zu sich. Aus den Papierstapeln zieht sie mit erstaunlicher Schnelligkeit eine Liste herauszieht und harkt meinen Namen ab.
„Also, Wanda", sie strahlt mich an und legt die Liste wieder beiseite, um ihre Hände auf dem Papier zu verschränken und sich leicht vorzubeugen. „Hast du schon Pläne, was du nach deinem Schulabschluss machen willst?"
„Ja, habe ich", erwidere ich und kratze mich am Ellenbogen. Es macht mich nervös, so unverwandt von der Lehrerin angeschaut zu werden, noch dazu, wenn sie mich so anstrahlt, als hätte ich ihr Erstgeborenes aus einem Feuer gerettet. „Amber und ich wollen für eine Weile zu meinen Eltern gehen und dann zu ihren. Und danach wollten wir ein wenig die Welt bereisen, weil wir bisher ja nie wirklich aus dieser Ecke des Landes herausgekommen sind."
„Das habe ich auch gemacht", sagt Miss Rautenberger und nickt bestätigend, was ihren Kranz aus Stoffblumen flattern lässt. „Allerdings alleine, sodass es weniger lustig als vielmehr anstrengend war. Ich finde es sehr gut, dass ihr nicht alleine reist, ich habe mir damals viel zu viele Gedanken um meine Sicherheit machen müssen, das passiert euch sicher nicht, weil ihr ja einander habt."
Ich nicke mit einem Lächeln und bin milde beeindruckt, wie schnell sie auf einmal reden kann. Im Unterricht war sie bisher auch sehr energisch, aber nie so sehr wie jetzt.
„Gut, hast du dir auch schon Gedanken gemacht, wohin du willst, wenn ihr mit eurer Reise fertig seid?", fragt Miss Rautenberger und sieht mich erwartungsvoll an. Aus der Nähe fällt mir auf, dass sie nach frischem Regen und irgendwie auch nach Schnee riecht, was sicher mit ihrer Begabung zu tun hat.
„Ähm", mache ich und zucke mit den Schultern. Die Lehrerin schaut mich noch immer ununterbrochen an, sodass ich jetzt doch meinen Blick abwende, weil es allmählich unangenehm wird. „Nein, nicht wirklich. Ich denke mal, dass ich eine Weile bei meiner Familie bleiben will, aber davon abgesehen habe ich keine größeren Ideen."
Miss Rautenberger nickt ernst und senkt endlich ihren Blick, um ihre Unmengen von Broschüren durchzugehen. „Das verstehe ich, ich würde auch gerne näher bei meiner Familie leben, aber sie leben hinter den Verwunschenen Bergen, was will man machen?"
Ich weiß nicht, ob oder was ich darauf erwidern kann, deswegen sage ich gar nichts. Miss Rautenberger stört sich daran nicht, sondern legt mehrere Broschüren vor mir ab.
„Hier, ich habe dir ein paar Broschüren über Geheime Dörfer in der Umgebung rausgesucht, denn deine Familie lebt doch hier, nicht wahr?" Sie wartet kaum mein Nicken ab, ehe sie auch schon weiterredet. „Das Bekannteste ist natürlich Schieferbruch, direkt bei Himmelsteich, aber es gibt noch einige kleinere, auch hinter dem Himmelswald und am Meer, wirklich sehr hübsch dort. Außerdem sind hier auch die Aufnahmebedingungen der einzelnen Dörfer aufgeführt und wie sie organisiert sind."
„Okay", mache ich ein wenig überfordert und starre die Broschüren an. Soll ich die jetzt wirklich alle durchgehen?
„Und wenn du lieber in ein wenig mehr Abgeschiedenheit leben willst habe ich hier auch noch eine über Nützliche Hinweise bei der Wahl eines Verstecks." Miss Rautenbergers Berg an Broschüren scheint unerschöpflich zu sein und mein eigener wächst mit jedem Satz an.
„Gut, hast du dir auch schon Gedanken, wie du dein Leben leben willst? Das unterscheidet sich natürlich, wenn du in einem Dorf lebst oder alleine, das versteht sich ja von selbst, aber viele Schüler haben keine wirkliche Idee, bis sie keine Schüler mehr sind."
„Ähm", mache ich erneut und kräusle die Nase. „Nein, ich weiß es auch noch nicht. Meine Ziele im Leben sind eher bescheiden, ich will einfach nur meine Ruhe haben und möglichst keinem Soldaten begegnen."
Miss Rautenbergers Lächeln wird weicher und mitfühlender und sie drückt überraschend meine Hand. „Das verstehe ich sehr gut, Wanda. Ich bin mir sicher, dass es jedem von uns so gut." Sie lächelt mich erneut so weich an, ehe sie meine Hand loslässt und ihre Hände miteinander verschränkt.
„Nun, ich kann dir natürlich nicht wirklich dabei helfen, denn nur du alleine weißt, was dich begeistert und was du willst. Aber -" Sie zieht wenig überraschend eine weitere Broschüre hervor und drückt sie mir in die Hand. „- ich kann dir das hier geben. Das ist eine Art Selbsttest, ein Quiz. Du kreuzt ein paar Fragen an und am Ende hast du hoffentlich einige Anregungen gefunden, ob du zum Beispiel in einer Schule aushelfen willst oder dich vielleicht als eine der Schwalben in eine Stadt der Unbegabten schleichst."
„Danke", sage ich und versuche mich an einem Lächeln, auch wenn ich allmählich wirklich den Gedanken bekomme, dass es zu jedem nur erdenklichen Thema hier eine Broschüre gibt.
„Nun, das wäre alles von meiner Seite, hast du noch irgendwelche Fragen, bei denen ich dir helfen kann?" Miss Rautenbergers Gesicht wechselt von ihrem weichen Lächeln zu ihrem vorherigen breiten Lächeln und sie sieht mich wieder so unangenehm aufmerksam an.
Ich zögere einen Moment und warte, dass mir eine Frage einfällt. „Ähm, im Moment fällt mir gerade nichts ein", sage ich und zucke mit den Schultern. „Aber wenn mir später etwas einfallen sollte, könnte ich Ihnen dann schreiben?"
„Aber sicher", nickt Miss Rautenberger energisch. „Ich bekomme Briefe von Schülern, die teilweise schon vor Jahren abgegangen sind, aber sich trotzdem unsicher sind, wie sie sich am besten in einem bestimmten Geheimen Dorf nähern, um aufgenommen zu werden. Das ist Teil meines Berufes und ich freue mich, wenn ich einem von euch helfen kann."
Ich nicke, ein wenig erleichtert, dass ich nicht die Erste bin, die diese Idee hatte. „Gut, dann werde ich an Sie denken, wenn etwas aufkommt."
„Mach das", strahlt mich die Lehrerin an und drückt erneut meine Hände. „Dann wünsche ich dir alles Gute für deine Zukunft und vielleicht schreiben wir uns ja mal. Vielleicht sehen wir uns auch mal, wenn deine Brüder hier sind."
„Ja, vielleicht. Vielen Dank auf jeden Fall und Ihnen auch alles Gute", sage ich artig und sammle meine Broschüren ein. Miss Rautenberger ist so nett mir die Tür aufzuhalten, denn meine Arme sind ja voll.
Draußen wartet schon Amber auf mich und wir machen uns auf den Weg zu unseren Zimmern, beide beladen mit Papieren.
Eine Woche und einen Tag später fangen die Prüfungen endlich an.
Ich schlinge am Morgen eilig mein Frühstück herunter, während ich im Geiste alle essbaren Kräuter durchgehe und versuche, mir nebenher noch die Jahreszahlen aller wichtigen Gesetzesänderungen einzuprägen.
Amber ist nicht weniger gestresst. Ihr Brost liegt vergessen vor ihr, während sie leise murmelnd ihre Zusammenfassungen über magische Wesen und ihre Besonderheiten durchgeht.
Nach dem Frühstück eilen wir zu unseren Zimmern, um unsere Zusammenfassungen abzulegen, ehe wir zu unserer ersten Prüfung rennen.
Mrs. Hillson steht vorne und nach einigen kurzen Begrüßungsworten zündet sie eine große Kerze an und teilt die Blätter aus.
Die Morgensonne malt helle Muster an die Wand, während wir Fragen zu dem jahrhundertalten Konflikt zwischen Unbegabten und Begabten beantworten. Amber sitzt zwei Plätze von mir und gelegentlich kann ich sie fluchen hören.
Nach der Prüfung, die ganze vier Kerben ging, tut mein Arm und Kopf weh. Uns bleibt allerdings nicht wirklich Zeit, um durchzuatmen, denn wir müssen bereits in die nächste Prüfung zu Pflanzenkunde, die allerdings deutlich kürzer ist. Wir müssen danach nicht einmal das Gewächshaus verlassen, denn im Bibliotheksteil haben wir unsere Leseprobe, in der wir einen Text fehlerfrei abschreiben und ihn anschließend laut vortragen müssen.
Ich breche nach dem ersten Satz in Husten aus, weil mein Hals so angespannt ist, und als ich endlich wieder aufhören kann ist mein Gesicht nicht nur vor Luftmangel rot.
Bis zum Mittagessen ist von meinen Nerven nicht mehr allzu viel übrig und in meinem Bauch gähnt ein Loch. Wir holen uns jede eine Portion Nudeln mit Kastanien und Sahnesoße, ehe wir uns in den überfüllten kleinen Hof zurückziehen. Dort fragen wir uns gegenseitig die Definition eines gleichseitigen Dreiecks ab, während wir im stehen essen.
Dann rennen wir in unsere Mathematik-Prüfung, direkt gefolgt von der letzten schriftlichen Prüfung über Unbegabte. Ich schreibe alles zu ihren Gesetzen hin, was mir einfällt, gebe mir Mühe, dabei nicht einzuschlafen, und atme erleichtert auf, als ich endlich meine Prüfungsblätter abgebe.
Jetzt steht morgen nur noch die praktische Prüfung an und dann haben wir zwei ganze Tage frei, ehe die Ergebnisse verkündet werden. Zwei ganze Tage, um uns von dem Prüfungsstress zu erholen und tief durchzuatmen.
Amber wartet vor dem Saal auf mich und harkt sich bei mir unter, als wir zusammen in Richtung des nördlichen Tracks schlendern, weil wir beide zu müde sind für schnelleres Laufen.
„Und was sagt dir dein Gefühl?", will Amber wissen, als wir in den nächsten Gang einbiegen, und unterdrückt mit wenig Erfolg ein Gähnen. Ihre Augen sind halb geschlossen und sie sieht aus, als würde sie gleich einschlafen.
„Dass mir alles weh tut und ich gerade unsicher bin, ob man Pfefferminz wirklich essen kann", fällt mir ein und ich bleibe abrupt stehen. „Kann man Pfefferminze essen? Ja, oder? Das ist nur der Nach-Prüfungs-Stress, der mich gerade zweifeln lässt."
Amber drückt meinem Arm beruhigend und zieht mich weiter. „Ja, man kann Pfefferminz essen. Beruhig dich, du fällst schon nicht durch."
„Das sagst du so einfach", murmle ich und verrenke mich, um einer entgegenkommenden Schülergruppe Platz zu machen, ohne dabei Amber loszulassen. „Aber eine gute Note kann sich mit nur minimalem Punktunterschied in eine schlechte verwandeln und dann -"
„Du brauchst diese Note nie wieder", fällt mir Amber ins Wort und sieht mich streng an. „Die sagt nur aus, wie gut du alleine klar kommst und ob man dich zu deiner eigenen Sicherheit in ein Dorf eingliedern muss oder nicht. Es ist nicht so, als ob davon deine finanzielle Zukunft abhängen würde."
„Ja, schon, aber -", probiere ich es erneut, doch wieder fällt mir Amber ins Wort.
„Kein Aber", sagt sie streng und hält mir einen Finger vor den Mund. „Wir haben die schriftlichen Prüfungen hinter uns gebracht, unser Bestes gegeben und das muss reichen. Und jetzt entspannen wir uns gefälligst, bevor wir uns morgen unserer letzten Prüfung stellen müssen."
Ich habe wie ein Stein geschlafen und bin trotzdem noch müde, als ich am Frühstückstisch erscheine. Mein ganzer Körper ist müde, als wäre ich die Himmelsberge hoch und runter gerannt, anstatt brav in meinen Prüfungen zu sitzen.
„Morgen", gähne ich Amber an, als ich mich mit meinem voll beladenen Tablett neben ihr fallen lasse. „War schon eine Gruppe dran?"
„Morgen", erwidert Amber, ohne von ihrem Haferschleim aufzuschauen und kippt sich noch mehr Honig darüber. Sie sieht unfairerweise völlig ausgeruht aus und hat sich sogar Ohrringe angezogen, die wie kleine Eisvögel geformt sind und fröhlich von ihren Ohren baumlen. „Momentan sind gerade die Gestaltwandler und die Puppenspieler dran, danach glaube ich alle Elementbeherrscher."
„Puppenspieler?", frage ich verwundert und greife nach dem Honig, um ihn über meinen eigenen Haferschleim zu gießen.
Amber wedelt nachlässig mit ihrem Löffel durch die Luft und verteilt fast Haferschleim über den Tisch. „Na, die Gaben, die zum Beispiel Tiere kontrollieren oder die Kräfte von magischen Tieren umleiten können und so. Wie ein Puppenspieler eben." Sie zuckt mit den Schultern und schiebt sich den Löffel in den Mund.
„Aha", mache ich und widme mich ebenfalls meinem Essen. Ambers definitiv nicht offizielle Kategorisierungen sind nichts, womit ich mich am frühen Morgen näher auseinandersetzen will.
Amber steht wieder auf, um sich weitere Scheiben Brot und eine Schale Früchte für uns beide zu holen, während ich sitzen bleibe und mich dem Rührei mit gebratenem Speck widme. Das hier ist eines meiner letzten Frühstücke, um die ich mich nicht selber kümmern muss, und ich möchte es genießen. Außerdem brauche ich sicher jedes bisschen Kraft für die Prüfung und da kann es nicht schaden, wenn ich mich jetzt ein wenig vollstopfe.
Amber kommt mit ihrer Beute zurück und schnaubt belustigt, als ich sofort nach einem Apfel greife und ihn kauend klein schneide.
„Man könnte meinen, dass du seit Tagen nichts mehr gegessen hast", macht sie sich über mich lustig.
Ich zucke mit den Schultern. „Ich genieße es eben, dass heute einer der letzten Tage ist, an dem ich noch nicht selbst für mein Essen verantwortlich bin", erwidere ich lediglich und bekomme dafür ein Augenrollen von Amber zurück.
„Das ist aber sehr dramatisch."
„Also passt es doch genau zu dir. Ich passe mich eben meinen Gesprächspartnern an."
„Sicher, Anyia. Soll ich dich jetzt auch als eine göttliche Quelle an Weisheit betrachten oder ist dafür dein Ego nicht groß genug?" Amber angelt sich mit ihrem Löffel ein Stück Speck von meinem Teller und ignoriert meinen empörten Blick, während sie genüsslich auf dem Fleisch kaut.
„Nur, wenn du dann endlich aufhörst, meinen Speck zu klauen."
Die praktische Prüfung findet im großen Hof statt.
Irgendjemand hat mehrere Feuer angezündet, um die sich alle Schüler bibbernd drängeln. Amber steht sogar so nahe an einem, dass ihre Zweige fast schon Feuer fangen. Ich stehe besorgt neben ihr und mache jede aufflackernde Flamme kleiner, damit sie ihr nichts antun können. Wir teilen uns zudem meinen Mantel, um unsere Körperwärme zu teilen.
Die zweite Gruppe hat vorhin den Hof geräumt, als meine Gruppe ankam, und ist im Gebäude verschwunden. Ich bin froh, dass wir keine Beobachter haben, das war mir gestern in der Bibliothek schon unangenehm. Es reicht doch völlig aus, dass mich meine Gruppe, was immerhin zehn Leute sind, dabei beobachten kann, wie ich mich bei der Prüfung schlage.
Amber steht in der Liste vor mir und mir graut es ein wenig, ihre Prüfung zu beobachten. Ich mache aus welchem Grund auch immer Sorgen um sie, was total überflüssig ist, denn wir haben oft genug miteinander trainiert, damit ich genau weiß, wie gut sie ihre Gabe unter Kontrolle hat. Sie wird sich vermutlich noch nicht einmal anstrengen müssen, um zu bestehen.
Gerade müht sich ein Mädchen mit der Prüfung ab. Im Grunde müssen wir eine Reihe von Hindernissen aus Eis überwinden und am Ende gegen einer der drei Lehrer aus den praktischen Stunden kämpfen. Das heißt aber auch, dass wir alle in der Kälte stehen müssen, bis wir dran sind, und meine Finger und Zehen verlieren bereits das Gefühl.
„Sie hat eine echt coole Gabe", meint Amber leise und schaut beeindruckt, als das Mädchen einen weiteren Blitz vom Himmel herabschießen lässt, der die eisige Barriere vor ihr in kleine Einzelteile zerstört.
Ich nicke zustimmend und frage mich abwesend, ob ich mich nicht einfach ins Feuer stellen sollte. Mit meiner Gabe kann ich das Feuer abhalten und trotzdem wäre es nah genug, damit mir endlich nicht mehr so kalt wäre.
Das Mädchen klettert über das letzte Hindernis und stellt sich dann mit einem selbstbewussten Lächeln Mrs. Milson gegenüber. Über unseren Köpfen zucken Blitze zwischen den hellen Wolken hin und her und um den Körper des Mädchens kribbeln noch mehr. Es ist ein seltsames Gefühl Blitze ohne Sturmwinde oder dunkle Wolken wahrzunehmen. Übrig bleibt nur das wilde Kribbeln der Blitze ohne das weiche Gefühl der Winde, als wäre mir ein Fuß nur zur Hälfte eingeschlafen.
Mrs. Milson und das Mädchen werfen sich für nicht mal eine Viertelkerbe mit Feuer und Blitzen ab, ehe Mrs. Milson den Kampf für beendet erklärt.
Das Mädchen tritt mit einem zufriedenen Grinsen zurück zu den Feuern und einige gratulieren ihr leise. Eine junge Frau, die soweit ich weiß in der Küche arbeitet, tritt von einem anderen Feuer vor und setzt die zerstörten Hindernisse mit wenigen Handbewegungen wieder zusammen.
Nach dem Mädchen ist ein Junge dran, der Feuer spucken kann. Er kommt mit Leichtigkeit über die Hindernisse, nur mit dem Lehrer hat er ein paar Schwierigkeiten, da Mr. Bram seine Angriffe weiß, ehe er sie ausführen kann.
„Ich hoffe, ich muss nicht gegen ihn antreten", murmle ich Amber zu, als der Junge seine Prüfung abgeschlossen hat. Wieder formt die Küchenfrau die Hindernisse neu und Mr. Bram wird von Miss Milson abgelöst.
„Ich würde schon gerne gegen ihn kämpfen", meint Amber nachdenklich und zählt kurz die Leute vor sich durch. Dann muss sie lächeln. „Ich glaube, ich muss sogar gegen ihn antreten."
Rasch zähle ich auch die Leute durch, die vor mir dran sind. „Wenn ich mich nicht verzählt habe, dann muss ich gegen Miss Milson antreten", sage ich leise.
Vor uns wirbeln Winde einen Jungen von einem Hindernis zum nächsten, auch wenn es etwas seltsam aussieht, wie er da um sich selbst herumwirbelt, als würde er den Wind nicht selbst erschaffen.
Amber zählt rasch die Leute vor mir und runzelt dann die Stirn. „Ne, ich glaube, du hast dich verzählt", meint sie dann und mir bleibt das Herz stehen. „Ich glaube, du musst gegen ihre Mutter antreten."
Mein Herz entspannt sich und schlägt weiter und ich stoße die angehaltene Luft aus. „Mir egal, solange es nur nicht Mr. Bram ist."
Nach zwei weiteren Schülern ist Amber dran. Sie lächelt mir zu, schält sich aus meinem Mantel und stolziert dann, die Selbstsicherheit in Person, auf die Hindernisse zu.
Geduldig wartet sie auf das Startsignal, ehe sie in ihre Manteltasche greift und die Samen auf den Schnee wirft.
Ich runzle verwirrt die Stirn. Die Wärme von Ambers Gabe kenne ich bereits, aber irgendwie fühlt es sich nicht an, als hätte sie Sonnenblumenkerne geworfen. Irgendwie fühlen sich diese Pflanzen stabiler und holziger an, auch wenn ich absolut unsicher bin. Immerhin ist der einzige Baum, in dessen Nähe ich in den letzten neun Jahren war, die Eiche im kleinen Hof.
Ein leises Rumpeln unterbricht meine Gedanken. Erstaunt beobachte ich, wie Amber drei Tannen in die Höhe schießen lässt und dabei vollkommen entspannt aussieht. Der Schnee fliegt links und rechts beiseite und ich ducke mich unter einem Klumpen Schnee, der in unsere Richtung fliegt.
Dann wendet sich Amber den Hindernissen zu und nutzt die Wurzeln der Tannen, die über die eisigen Balken und Löcher im Schnee wachsen, bis Amber wie eine Brücker über sie laufen kann.
Mr. Bram, der am Ende auf sie wartet, lächelt sie anerkennend an und Amber macht sich stolz größer.
Dann werden ihre Gesichter konzentriert und sie sehen sich für einen Moment einfach nur an. Amber macht den ersten Schritt, indem sie eine Handvoll Samen auf den Lehrer wirft, der jedoch schon einen winzigen Moment, bevor sie in ihre Tasche greift, mehrere Schritte nach hinten gegangen ist.
Amber zieht eine Grimasse und rennt auf Mr. Bram zu. Die Sonnenblumen, die zwischen den Beiden stehen, zittern wie in einem unsichtbaren Wind, ehe sie eine Wolke aus Pollen abgeben.
Die Pollen fliegen direkt auf Mr. Bram zu und lassen ihn niesen. Er kneift die Augen zusammen und wedelt mit einer Hand durch die Pollenwolke. Amber wartet keinen Moment, reißt eine Sonnenblume aus dem Boden und eilt auf Mr. Bram zu.
Er versucht ihr auszuweichen und kickt ihr Schnee entgegen, dem sie mit einem Schritt zur Seite ausweicht.
Dann kann Mr. Bram wieder sehen und Amber lässt entmutig die Schultern sinken. Wieder sehen sich die Beiden für einen Moment einfach nur an.
Im gleichen Moment, in dem Amber versucht, die Sonnenblume um Mr. Bram zu schlingen, vermutlich um sie wie ein Seil um ihn wachsen zu lassen, kommt er ihr entgegen. Er duckt sich unter ihrem Arm, schlägt ihr mit einer überraschenden Handbewegung die Sonnenblume aus der Hand und kickt ihr einfach so die Beine unter dem Körper weg.
Amber landet im Schnee und schaut verwirrt zu Mr. Bram hoch. Er steht jetzt zwischen ihr und ihren Pflanzen und hält ihr lächelnd eine Hand hin. Irgendetwas sagt er auch, doch er ist so weit weg und so leise, dass ich ihn nicht verstehe. Aber vermutlich hat er die Prüfung für beendet erklärt.
Amber lässt sich von ihm auf die Beine helfen, ist jedoch sehr mürrisch, als sie wieder zurück zum Feuer kommt. Ich öffne meinen Mantel für sie und Amber drückt sich an mich. „Ich hätte gewinnen können", grummelt sie missmutig und verschränkt ihre Arme. Ihre Pflanzen hat sie wieder zu Samen werden lassen und in ihre Tasche gestopft.
„Du hast dich echt gut geschlagen", stimmt ich ihr halb zu, nur mäßig an dem nächsten Schüler interessiert. Vor mir sind nur vier andere Schüler und ich werde allmählich nervös. „Aber er kann deine Gedanken lesen, es ist super schwer, ihn zu überraschen."
„Ja ja", grummelt Amber.
Wir sagen nichts mehr, während wir zusehen, wie die nächsten vier Schüler geprüft werden. Amber schmollt und ich bekomme Lampenfieber.
Das Mädchen vor mir glättet die Erde wieder, die sie eben aufgeworfen, und während die Hindernisse repariert werden ruft Mrs. Milson mich auf, während sie den Platz ihrer Tochter einnimmt.
Ich atme tief durch, während mir Amber leise viel Erfolg wünscht und sich erneut aus meinem Mantel schält, balle die Fäuste und trete dann auf die Hindernisse zu.
Mir ist kalt und warm zugleich und ein bisschen schlecht auch. Ich nehme viel deutlicher als sonst die Kälte des Eis' auf meiner Haut und mit meiner Gabe wahr, als wäre ich aus der Wüste direkt in den Schnee gefallen.
Mrs. Milson nickt mir zu, zum Zeichen, dass die Prüfung beginnt.
Ich nehme mir einen Moment, um tief durchzuatmen und meine Umgebung wahrzunehmen. Wind ist leider noch immer keiner aufgekommen, dabei ist er so leicht zu lenken. Dafür habe ich Unmassen Schnee und Eis, mit denen ich arbeiten kann, und später auch das Feuer von Mrs. Milson. Und unter dem Schnee spüre ich die Erde. Sie ist zwar nicht viel wärmer als der Schnee, aber das heißt nicht, dass ich sie nicht nutzen kann.
Ich mache einen Schritt vor und konzentriere mich auf das Eis, aus dem die Hindernisse gemacht wurden. Es glitzert in der Sonne und ich hatte in den letzten Jahren mehr als genug Gelegenheiten damit zu üben.
Ich schaffe das, sage ich mir in Gedanken, während ich mit meinen geistigen Händen nach dem Eis greife.
Und dann, ehe mir Zweifel aufkommen können, lasse ich alle Hindernisse einfach zerfallen und als losen Schnee zu Boden fallen. Die Löcher füllen sich und dann kann ich Mrs. Milson direkt in die Augen blicken.
Stolz auf mich selbst laufe ich auf sie und klopfe mir gedanklich selber auf die Schulter. Sicher, ich hätte auch jedes Hindernis einzeln auflösen können, aber das hätte viel zu lange gedauert. Und so komme ich dem Ende der Prüfung schneller entgegen und kann zudem ein wenig angeben.
Mrs. Milson lächelt mir zu, als ich vor ihr stehen bleibe. „Ich zähle bis drei und dann beginnt unser Übungskampf", sagt sie und nimmt ihre Hände aus den Taschen ihres Mantels.
Ich nicke.
„Eins, zwei, drei!", zählt sie ruhig, ehe ihre Hände so schnell in Flammen stehen, dass ich es fast nicht mitbekomme, und genauso schnell schießen sie auf mich zu.
Ich greife nach dem Eis unter mir und lasse es in die Höhe wachsen, sodass es einen Wall zwischen den Flammen und mir bildet. Sie verglühen mit einem Zischen und ein wenig Dampf.
Mrs. Milson holt tief Luft, bis sich ihre Burst deutlich wölbt, dann spuckt sie einen riesigen Storm Feuer aus. Die Flammen sind nicht mal mehr rot, sondern glühen blau, und fühlen sich so heiß an wie kein anders Feuer, das ich normalerweise um mich habe.
Ich warte nicht darauf, was es mit meiner Eiswand macht, sondern rette mich mit einem Schritt zur Seite und lasse die Erde unter Mrs. Milson aufbrechen, nur so tief, dass eine kleine Grube entsteht.
Mrs. Milson wackelt überrascht auf der sich bewegenden Erde, ehe sie zur Seite springt und mir dabei noch mehr blaues Feuer entgegenspuckt.
Ich kann nicht mehr rechtzeitig ausweichen, weswegen ich die Hand danach ausstrecke und mit angehaltenem Atem bete, dass es mich nicht gleich verbrennt.
Allerdings kann ich es so problemlos wie rotes Feuer aus der Luft pflücken und bin darüber selber überrascht, sodass ich einen Moment einfach nur verblüfft die blauen Flammen mustere, die über meiner Hand tanzen.
Mrs. Milson teilt meine Überraschung jedoch nicht, denn sie wirft schon wieder die nächsten Flammen nach mir, dieses Mal auf meine Füße.
Ich stampfe auf und der Schnee wellt sich, als wäre er flüssig. Die Welle läuft auf Mrs. Milson zu und schafft es, gleichzeitig die Flammen abzufangen und die Lehrerin umfallen zu lassen.
Während sie wieder auf die Beine kommt lasse ich das blaue Feuer anwachsen, bis fast so groß ist wie ich. Dann schleudere ich es auf Mrs. Milson und stampfe erneut auf.
Mrs. Milson spuckt eine Ladung Flammen auf den sich wellenden Schnee, der sich zischend zu Dampf auflöst, und hüllt ihren gesamten Arm in Flammen, mit denen sie meine Flammen abwehrt.
Ich versuche den Dampf zu greifen, doch er ist zu fein und ich zu ungeübt. Und während ich abgelenkt bin schafft es Mrs. Milson irgendwie neben mich und hält mir eine Flamme direkt ans Gesicht.
„Du hast dich wirklich ausgezeichnet geschlagen", lobt mich Mrs. Milson, lächelt außer Atem und lässt die Flamme erlöschen. „Die Prüfung ist beendet."
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„Drückt das Sternchen, denn ich brauche das gute Glück für die Prüfungen." - Wanda, sehr nervös über die Ergebnisse, obwohl sie diesen Noten später nicht wirklich braucht.
Na, wer hat Flashbacks zum Prüfungsstress bekommen? Ich musste an mein Abi denken und das ist nie angenehm.
Allerdings ist der Prüfungsstress in der Uni auch nicht besser, dabei habe ich bisher noch nicht mal eine geschrieben. Uni ist echt krass, Leuts.
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