
26
Ich glaube an dich!
~Ivette
Gebannt blicke ich auf den kleinen Zettel, der in dem Fallschirm gesteckt hat. In dem Sponsorengeschenk, in meinem ersten Sponsorengeschenk. Der Zettel steckte dort drin. Zusammen mit der kleinen Tube. Der Salbe, die mir hoffentlich das Leben rettet, denn heute morgen bin ich noch schwächer aufgewacht, als ich es gestern schon war.
Sofort kommt mir das Gesicht von dem Jungen aus 10 in den Kopf. Denn gestern Abend war er dort oben zu sehen. Am Himmel. Also war es seine Kanone. Ich weiß nicht, ob ihn Clove oder Marvel getötet hat. Und ich will es auch nicht wissen. Ich möchte nicht wieder ein schlechtes Gewissen haben, dass ich in jemanden verliebt bin, der Blut an seinen Händen hat. Der Menschen, ja Kinder getötet hat.
Ich möchte es nicht akzeptieren, aber er ist ein Mörder. Und ich werde auch zur Mörderin werden müssen, wenn ich gewinnen will.
Ich öffne die kleine Tube und schmiere mir die gelbe Salbe vorsichtig auf meinen Hals.
Es brennt furchtbar, aber dennoch höre ich nicht auf, denn diese Salbe ist meine letzte Hoffnung.
Anschließend erhebe ich mich, da ich dringend Wasser brauche. An meinen trockenen Hals habe ich mich bereits gewöhnt, an den Schwindel durch den Wassermangel jedoch nicht. Ich fühle mich schwach und krank, gehe aber dennoch mehrere Stunden lang in eine Richtung, das Messer stets bereit in der Hand.
Ich denke an Ivette. Sie ist eine gebrechliche, junge Frau, die ihre Familie verloren hat. Sie hat es geschafft zu gewinnen. Also kann ich es auch. Ich kann nicht nur, ich MUSS.
Ich muss, für meinen Vater.
Ich setze wieder meinen entschlossenen Gesichtsausdruck auf, innerlich schreie ich jedoch. Alles schmerzt, ich habe Durst und Hunger, mir ist schwindelig.
Sterben wäre soviel einfacher.
So viel schmerzloser.
Ich bin so ein Feigling! Ich darf jetzt nicht locker lassen! Ich bin dem Ziel schon so nah, das ganze Leiden darf nicht umsonst gewesen sein...und mein Vater!
Sterben kommt nicht infrage!
Und Ivette glaubt an mich, sie sieht Chancen, dass ich gewinne!
Mehrere Stunden lang quäle ich mich durch den Wald. Jeder Schritt, jeder Atemzug tut weh und ich bin müde. Dennoch gehe ich weiter, denn ich habe neue Hoffnung geschöpft. Zwei Karrieros sind bereits tot. Es leben nur noch neun Tribute. Ich bin eine dieser neun. Ich KANN gewinnen!
Starr blicke nach vorne, meine Willenskraft treibt mich voran.
Mit der rechten Hand umklammere ich mein Messer, das einzige was mir noch übrig geblieben ist. Meine Blutung am Hals hat gestoppt, aber dennoch fällt mir das Atmen schwer, da ich ganz klar innere Verletzungen habe.
Ich frage mich, ob in der Arena außer dem Fluss noch ein anderes Gewässer existiert.
Ich habe keine Ahnung, ob ich in die richtige Richtung gehe, ich kann es nur hoffen.
Es ist dennoch sehr unwahrscheinlich, dass ich innerhalb der nächsten Tage auf Wasser stoße. Ich kaue auf meinen zersprungenen Lippen und pflücke währendessen ein paar Beeren, aus denen ich den Saft heraussauge.
Während diesen vielen Stunden des Gehens habe ich Zeit. Zeit nachzudenken. Über alles. Ich denke an meine Mutter, an meinen Vater. Oder an das Mädchen aus meiner Klasse, das mich immer geärgert hat. An meinen Nachbarn, der mit vierzehn Jahren in die Hungerspiele musste und schon beim ersten Blutbad gestorben ist. An Kalia, das Mädchen, das Sonnenaufgänge liebt und mit dem ich nur ein paar Worte gewechselt habe. An den Jungen aus Distrikt 10, der gestern gestorben ist und mir somit das Leben gerettet hat.
Eine kleine, salzige Träne sickert an meiner Wange hinab. Ich wische sie verbittert weg.
Tränen helfen nicht, sie bringen all diese Leute nicht zu mir.
Aber Gefühle kann man nicht aufhalten. Der Schmerz ist immer da. Immer. Und ich weiß, dass ich mit dem Schmerz in mir sterben werde. Denn diesen Schmerz, dieses unendliche Leiden, was meinen Körper verzehrt, werde ich nie vergessen können.
Ein Rascheln ertönt hinter mir und ich mache mir nicht mal mehr die Mühe mich umzudrehen. Wer oder was auch immer wird mich töten, wenn es seine Absicht ist. Egal, ob ich mich umdrehe oder nicht.
Das Rascheln wird lauter und die Angst übernimmt die komplette Kontrolle über meinen Körper. Ich kann mich nicht mehr zusammenreißen und fahre schreiend herum.
Dumme Aktion. Sehr dumme Aktion.
Falls mich der Verursacher des Raschelns davor noch nicht bemerkt hat, weiß er nach diesem Schrei definitiv, dass ich hier bin.
Das habe ich mal wieder sehr toll gemacht.
Das Rascheln wird schneller und lauter. Meine Augen huschen panisch hin und hier, meine Beine fühlen sich an, als wären sie am Boden festgekettet.
Die Büsche teilen sich und jemand kommt auf mich zugerannt. Blutüberströmt und mit einem wirren Blick. Ich muss zweimal Schauen, um zu realisieren, wer das ist.
"Was zum... ? Papa?", flüstere ich atemlos. Eine Welle der Verwirrung überschwemmt mich. Ich stehe einfach nur da.
Mein Vater blickt mich an. Verzweifelt suche ich in den Augen meines Vaters nach Sanftheit und Liebe, nach seinem Vater-Blick. Aber dort ist nichts. Nur Wahnsinn.
Sein ganzer Körper ist zerschunden und ich entdecke Eiter aus seinen Wunden hinauslaufen.
Er wankt kurz, dann entblößt er seine Zähne. Blut. Schon wieder.
Ein Lachen entkommt seiner Kehle und ich trete einen Schritt weg von ihm.
Das ist nicht mein Vater. Er sitzt zu Hause vor dem Fernseher und schaut sich das an, aber DAS ist er nicht.
Und wenn doch? Wenn die Spielmacher ihn extra in die Arena geschmissen haben? Was ist, wenn ich ihn jetzt sterben lasse, dann gewinne und zu Hause feststelle, dass er tot ist? Dass die Person, für die ich das alles durchstehe tot ist, weil ich sie nicht gerettet habe?
Mein Magen dreht sich beinahe um, als mein Vater den Mund öffnet und sich übergibt. Blut. Schon wieder.
Selbst wenn es mein Vater ist, kann ich ihn nicht mehr retten. Nicht mehr.
Ich kann das nicht mehr mitansehen. Es ist zu viel. Nicht mein Vater... bitte nicht er.
Er blickt mich an. Seine wahnsinnigen Augen funkeln mich an und er grinst. Er läuft auf mich zu und flätscht mit seinen Zähnen, wie ein tollwütiges Tier.
Er springt vor, um mich zu töten. Das ist klar. Ob diese Person mein Vater ist oder nicht spielt keine Rolle, denn er ist es nicht mehr. Seine Seele wurde erobert, er ist nicht mehr er. Ich ramme meinem Vater das Messer ins Herz.
Schmerz erfüllt seine Augen und er röchelt etwas.
"Es tut mir leid", flüstert er, seine Augen sind plötzlich nicht mehr verwirrt, sondern klar. Er lächelt leicht. Dann kippt er um.
Der Boden erschüttert bei seinem Aufprall, Blut sickert aus seinem Körper. Und ich stehe einfach nur da. Denn auf einmal wird es mir klar. Das WAR mein Vater. Mein echter Vater. Ich habe soeben meinen geliebten Vater getötet, der für mich sein Leben geben würde, der für mich da war, als meine Mutter es nicht war. Er, der Mann, dem ich alles verdanke. Er ist tot. Und ich trage Schuld an seinem Tod. Ich bin die Mörderin.
Leere umfängt mich. Ich kann nicht mehr fühlen. Ich habe getötet.
Ich bin eine Mörderin.
Ich bin ein egoistisches Stück Dreck, das es nicht verdient zu überleben. Ich habe meinen Vater getötet, nur um selber weiterzuleben. Ich habe lieber getötet, als selber zu sterben.
Ich schließe meine Augen und schreie. So laut ich kann.
Ich schreie den Schmerz des Verlustes und meinen Hass hinaus. Meinen unendlichen Hass auf die Spielmacher, dass sie meinem Vater so etwas antun konnten. Aber vor allem Hass auf mich selber. Denn ich habe meinen Vater getötet. Ich bin egoistisch und nichts wert. Ich verdiene den Tod. Nicht einfach nur den Tod. Der Tod wäre eher eine Erlösung für mich. Nein, ich verdiene einen qualvollen, langsamen Tod. Einen Tod, der mich leiden lässt. Ja, denn Leiden habe ich verdient.
Mein Schrei verklingt in der Stille, in dieser friedlichen Stille.
"Wieso?", schreie ich verbittert und voller Wut. "Wieso er?"
Ich lehne mich an einen Baumstamm und schließe die Augen, um mich ein wenig zu beruhigen.
Und dann warte ich. Ich weiß nicht auf was, wahrscheinlich auf die Karrieros, die mein Leben endlich beenden sollen.
Oder ich warte darauf, dass mein Körper endlich austrocknet und sich der ewigen Ruhe hingibt.
Denn einmal mehr wird mir klar, dass das hier zu viel ist.
Zu viel für ein sechzehn-jähriges Mädchen.
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Hallöchen <3 Ich weiß, es ist spät, aber ich hoffe euch gefällt mein Kapitel trotzdem.
Gute Nacht und frohe Osterfeiertage :›
Melody
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