Kᴀᴘɪᴛᴇʟ 9
Schmerz.
„Du hast uns zerbrochen!", rufen sie, die Stimmen. Sie erklingen von überall her, dröhnen in meinem Kopf und erfüllen mich mit unglaublichem Schmerz. Nicht ihre Stimmen schmerzen, auch nicht ihr Hass. Nein, einzig und allein der Fakt, dass sie die Wahrheit sagen, zerstört mich. Denn ich habe sie zerbrochen, ich habe ihnen Schmerzen zugefügt. So vielen Menschen.
„Sie haben es verdient", flüstert meine Seele tief in mir, sodass ich zusammenzucke.
Ich renne. Einfach nur weg, irgendwo hin, wo ich alleine bin. Weg von den Stimmen, weg von meiner Seele. Doch ich bin niemals alleine.
„Du hast uns zerbrochen!", rufen die Stimmen unaufhörlich.
„Sie haben es verdient", wiederholt meine Seele wispernd.
Ich falle. Schmerz erfüllt meinen Körper und meine Lunge schreit panisch nach Luft. Ich bin niemals allein. Niemals. Obwohl es das ist, wonach ich mich am meisten sehne.
Ruhe. Frieden. Schutz.
Schutz vor meiner eigenen Seele.
***
Panik durchflutet mich und ich reiße meine Augen auf. Nach Luft ringend blicke ich mich um, ohne Orientierung oder Zeitgefühl. Ich fühle mich verloren und schutzlos, beinahe in Todesangst. Schwer keuchend richte ich mich auf der harten Matratze auf und umschlinge meine Beine mit meinen Armen. Mir ist unglaublich kalt.
Wo bin ich? Welcher Tag ist heute? Was zur Hölle ist passiert?
Um nicht in Tränen auszubrechen schließe ich meine Augen für einen Moment, stelle mir ein sonnendurchflutetes Rapsfeld vor. Die gelben Blüten beruhigen mich und erinnern mich an Zuhause und an Nora. Diese Erinnerungen schmerzen. So sehr.
Schließlich wage ich es, meine Augen zu öffnen, woraufhin ich mich schlagartig wieder an meine Lage erinnere. Es ist wie ein Schlag in die Magengrube, der mir Tränen in die Augen treibt. Ich sitze auf der Matratze in dem vergitterten Raum meines Entführers. Und gestern bin ich fast geflohen. Wäre die verdammte Haustür nicht verschlossen gewesen.
„Du bist wach", erklingt Davids kühle Stimme plötzlich und ich fahre herum. Er steht in der Tür und betrachtet mich. Ich schweige trotzig und mustere ihn unauffällig, wobei mir auffällt, dass er heute kein schwarzes, sondern ein dunkelblaues Shirt trägt. Er steht wohl nicht so auf knallige Farben...
Langsam tritt er auf mich zu. Meine Hände beginnen zu schwitzen, während ich mir große Mühe gebe, nicht zurück zu weichen. Nach wenigen Schritten sitzt David schon neben mir auf der Matratze. Seine Nähe ist beunruhigend, weshalb ich unauffällig zu der hintersten Ecke der Matratze rutsche und ihn erwartungsvoll anblicke.
„Heute wirst du mir wieder etwas über deine Gabe erzählen", erklärt er mir, während er sich gedankenverloren durch die dunkelbraunen Haare streicht.
„Und was, wenn ich..."
„Du wirst mir alle Fragen beantworten", unterbricht mich David augenblicklich und lächelt amüsiert. „Denn du wirst sogar belohnt. Und am Ende der Woche, wenn du mir alle Fragen beantwortet hast", David hält theatralisch inne, „werde ich dich freilassen. Sieh es als ... den Hauptgewinn."
Mein Herzschlag rast unaufhörlich und tatsächlich beginne ich neue Hoffnung zu schöpfen. Vielleicht bin ich zu misstrauisch gegenüber den Menschen. Vielleicht lässt er mich wirklich frei, obwohl ich die ganze Zeit an seiner Glaubwürdigkeit gezweifelt habe. Es muss einfach wahr sein.
Ich nicke hastig, denn ich weiß, dass ich die besten Chancen habe, wenn ich Davids Anweisungen eins zu eins folge.
„Die heutige Belohnung ist ..." Schon wieder spannt David mich auf die Folter und grinst als er mein aufgeregtes Gesicht sieht. „Ein kurzer Waldspaziergang. Mit mir natürlich, aber das versteht sich wahrscheinlich von selber. Ich werde dich schließlich nicht alleine rausgehen lassen."
Es ist nur eine Kleinigkeit, nur eine winzige Belohnung, doch trotzdem blühen meine Augen auf. Es ist für mich qualvoll, tagelang eingesperrt zu sein, nicht die friedliche Natur zu sehen oder wenigstens einen frischen Atemzug zu machen. Daher ist diese Belohnung für mich wie ein Geschenk des Himmels.
In meinem Kopf stelle ich mir bereits vor, wie ich dort im Wald stehe, in völliger Stille. Wie ich die Einsamkeit genießen kann. Sogar ohne meine Seele, die immer noch ängstlich in meinem Inneren zurückgezogen ist.
„Weißt du, David. Es gibt einen Grund, wieso ich deine Gesellschaft sehr schätze", sage ich und kann mir das Lächeln nicht verkneifen. David hebt fragend eine Augenbraue. „Es ist erfrischend für mich, dass meine Seele mich nicht ständig bedrängt und dazu zwingt andere Menschen zu verletzen. Sie ist in jeder Hinsicht grausam", fahre ich unbeirrt fort und entdecke in Davids Augen für einen Moment Verständnis.
„Du scheinst die Einsamkeit in der Natur zu lieben", stellt er trocken fest und mustert mich nachdenklich. „Wieso sonst solltest du dich so über diese lächerliche Belohnung freuen? An was liegt das, Eileen?" Er nähert sich mit funkelnden Augen meinem Gesicht, sodass ich schlucken muss.
„Du bist zu neugierig", flüstere ich und werfe ihm einen missbilligenden Blick zu. „Du solltest dich nicht in fremde Angelegenheiten mischen. Und jetzt frag endlich deine verdammten Fragen."
Davids Augen werden zu schmalen Schlitzen und er lacht leise. „Du willst mir gerade also vorwerfen, dass ich mich in Dinge einmische, die mich nichts angehen?", raunt er bedrohlich, jedoch immernoch mit einem Lächeln auf den Lippen. „Obwohl du diejenige bist, die täglich in die Seelen anderer eindringt und dort Dinge sieht, die nicht für ihr Auge bestimmt sind?"
„Ich tue das nicht freiwillig."
„Man hat immer eine Wahl, Eileen", sagt David scharf und distanziert, woraufhin ich unwillkürlich zusammenzucke.
„Achja? Man hat immer eine Wahl? Das glaube ich kaum. Oder hat mich jemand gefragt, ob ich diese Gabe haben will? Nein. Niemand hat mich gefragt. Ich habe diese Gabe einfach, ohne jegliche Kontrolle. Meine Seele handelt nicht nach meinem Willen, sie handelt einzig und allein aus Instinkt. Und aus Gier."
Meine Hände haben sich zu Fäusten geballt und meine Stimme ist lauter geworden. Ich spüre, wie mir Hitze ins Gesicht steigt und weiß ganz genau, dass meine Wangen gerötet sind. Doch es kümmert mich nicht, denn die Verbitterung in mir siegt gegen die Verlegenheit.
Zu meiner Überraschung kommentiert David meine Wut nicht mit einer fiesen Bemerkung, sondern schweigt vielsagend. Doch auch, wenn er meinen Wutausbruch wortlos quittiert, weiß ich, dass er mir nicht zustimmt. Bereits mehrere Male hat er sich mir gegenüber grob über meine Gabe geäußert, versucht, mich zu verunsichern. Ja, er glaubt fest daran, dass ich eine Wahl habe, dass ich all die Menschen freiwillig verletze. Er hat überhaupt keine Ahnung davon, wie schwer es für mich ist, mich selber zu kontrollieren.
„Ich stelle jetzt meine Fragen", sagt er leise, um die unangenehme Stille zu durchbrechen, woraufhin ich schwach nicke.
Unsicherheit verankert sich in mir und bildet einen Knoten in meinem Bauch.
Was, wenn ich seine Fragen nicht beantworten kann? Weil ich die Antwort schlichtweg selber nicht kenne?
„Hast du eine Ahnung, wieso du diese Gabe hast?", fährt David schnell fort, sodass meinen Zweifeln keine Zeit bleibt.
„Nein", erwidere ich, ohne zu zögern, denn es ist nichts als die Wahrheit. Ich habe keinen Schimmer, wieso ich Seelen lesen kann.
Mit dieser Antwort scheint David bereits gerechnet zu haben, denn er stöhnt leise auf. „Denkst du, dass es andere Menschen gibt, die ebenfalls Seelen lesen?", fährt er fort. Scheinbar eine seiner gewöhnlichen Fragen, doch irgendwas in seinen Augen gibt mir ein seltsames Gefühl.
„Ich weiß es nicht. Vielleicht", meine ich und beobachte jede Zuckung in Davids Gesicht.
Irgendetwas sagt mir, dass er nicht einfach nur so fragt.
Doch nichts an seiner Mimik deutet darauf hin, dass er etwas darüber verschweigt, weshalb ich den Gedanken schnell verwerfe.
Davids Augen wirken nachdenklich, seine Augenbrauen sind zusammengezogen und seine Lippen aufeinandergepresst. Seine Hände klopfen nervös auf die Matratze ein.
„Du musst mich überraschen, Eileen. Ohne ausführliche Antworten gibt es auch keine Belohnung", drängt David.
Aber was, wenn ich keine Antworten geben kann? Weil ich sie selber nicht weiß?
„Ich weiß nichts über meine Seele, David", versuche ich ihm meine Lage begreiflich zu machen und raufe meine Haare.
Aber ich weiß, wie sich das Gefühl anfühlt, wenn ich eine Seele verletze. Vielleicht reicht es David als Antwort.
„Ich kann dir aber erzählen, wie sich meine Seele anfühlt. Und, was mich jedes Mal dazu bringt, diesem Drang des Seelenlesens nachzugehen", schlage ich vor und entdecke ein neugieriges Schimmern in Davids Augen, was mich zufrieden stimmt.
„Dann sag mal", fordert er mich gespielt desinteressiert zum Reden auf, doch ich weiß, dass er in Wirklichkeit seine Neugier bloß versteckt.
„Meine Seele ist, wie eine Stimme in meinem Kopf. Einerseits habe ich das Gefühl, dass sie jemand anderes ist, da sie bösartig und skrupellos ist, aber andererseits weiß ich, dass sie irgendwie ein Teil von mir ist. Vielleicht widerspiegelt sie meine bösen Gedanken.", fange ich an und streiche mir gedankenverloren über den Handrücken. Davids Augen sind auf mich fokussiert, doch ich versuche sie auszublenden.
„Sie ist wie...", ich suche nach den richtigen Worten, „wie Wasser. Sie strömt durch mich hindurch, immer und überall." Meine Blick verschwimmt in der unbestimmten Ferne.
„Und jedes Mal, wenn ich in Reichweite eines Menschen, einer menschlichen Seele bin, überkommt mich diese schreckliche Gier. Dann beginnt meine Seele immer zu flüstern und mich zu manipulieren. Mit drängenden Worten erfüllt sie meinen kompletten Kopf, meine Gedanken kreisen dann nur um die eine Frage ... "Soll ich? Oder soll ich nicht?". Es ist möglich mich zusammenzureißen, die Zähne aufeinander zu beißen und die Person in Frieden zu lassen. So mache ich das bei meiner Schwester, bei meinem Neffen oder in dem Café, in dem ich arbeite. Aber manchmal"
Ich stocke. Langsam blinzele ich und blicke David direkt in die Augen. Ich kann nichts in ihnen lesen, außer Dunkelheit. Doch ich schaue nicht weg. „Manchmal", fahre ich leise fort, ohne den Blickkontakt abzubrechen, „kann ich nicht mehr. Manchmal schaffe ich es einfach nicht mehr, diesem Druck standzuhalten, die komplette Last auf mich zu nehmen, damit andere nicht wegen mir leiden müssen. Es geht einfach nicht immer." Ich schlucke, meine Hände schwitzen. „Und dann, wenn ich schwach werde, wenn ich beginne nachzugeben, stürzt meine Seele raus, um zu zerstören. Sie ist wie eine Wasserflut, die die Seele Anderer durchflutet. Ich kann nichts tun, außer zuzusehen und alles zu spüren. Denn jedes Mal, wenn meine Seele in die Gedanken von jemandem einbricht, seine Gefühle und Erinnerungen durchgräbt und ihm jedes Bild, jede Emotion offenbart, muss ich es mitansehen. Denn ich fühle alles, was diese Person fühlt. Den Schmerz, die Angst. Ich leide mit ihnen. Und deshalb", meine Stimme bricht, „deshalb liebe ich die Einsamkeit. Weil ich dort niemanden verletzen kann."
Und das war sie. Die pure Wahrheit. Ich weiß nicht, ob es klug war, ihm alles zu erzählen, was ich durch die Seele fühle, doch jetzt ist es zu spät. Und es fühlt sich befreiend an, als wäre ein Teil meiner Last von mir genommen worden.
Schweigend betrachtet David mich und nickt kaum merklich.
Dann erhebt er sich.
Als ich ihn fragend ansehe, lächelt er amüsiert. „Los jetzt. Oder willst du deine Belohnung etwa nicht haben?"
***
„Der Wald ist wirklich wunderschön", gestehe ich, als ich einen Moment stehen bleibe, um den Ausblick auf den kleinen Hügel zu genießen. Einige Nadelbäume zieren die leichte Steigung und ich frage mich sofort, in welchem Wald wir uns gerade befinden.
Sind wir in der Nähe der Stadt? Oder hat David mich, als ich bewusstlos war, an einen weit entfernten Ort gebracht?
Doch ich schweige und wage es nicht diese Fragen zu stellen. David würde sie sowieso nicht beantworten. „Ja, da hast du Recht. Der Wald ist schön", pflichtet David mir bei, woraufhin ich zusammenzucke, da er direkt hinter mir erschienen ist. Einen Moment stehen wir einfach nur da, während ich versuche den frischen Wind zu genießen, den ich später, wenn ich wieder im Zimmer eingesperrt bin, nicht mehr zu spüren bekomme.
Die Sonne sinkt bereits und taucht den Hügel in rosa Licht, wunderschön und warm hüllt es die Kiefern ein.
„Ich wünschte, ich könnte jetzt ein Foto machen", sage ich leise und bereue es sofort. Ich sollte David nicht so viel über mich erzählen, umso weniger er weiß, umso besser ist es.
Doch er schweigt nur.
Um die Stille zu brechen, drehe ich mich zu David, der gedankenverloren in die Ferne blickt. „Was macht ... diese Organisation, in der du bist?", frage ich vorsichtig und mustere David prüfend. „Außer Leute zu entführen und ihnen mit dem Tod zu drohen, meine ich."
Ich weiß, dass mein zweiter Satz nicht gerade der klügste war, wenn man bedenkt, dass ich gerade neben einem Entführer und vielleicht sogar Mörder stehe, doch ich kann es sowieso nicht mehr ungeschehen machen.
David löst seinen Blick von der Natur und durchbohrt mich mit einem Blick.
„Weißt du, manchmal ist Gewalt die einzige Lösung", erwidert er, ohne wirklich auf meine Frage einzugehen.
„Aber nur, wenn man sie für etwas Gutes einsetzt - was deine Organisation definitiv nicht macht", lasse ich mich nun auf seine Diskussion ein.
„Und wer entscheidet, was gut und böse ist?"
Ich schweige einen Moment. „Das entscheidet jeder für sich selber. Findest du denn, dass deine Organisation Gutes tut?"
David blickt mich an, zum ersten Mal sehe ich in seinen Augen nichts als Ehrlichkeit. Er schweigt. Also findet er seine Organisation wohl auch nicht gerade gut.
„Für mich hat sie Gutes getan", sagt David jedoch plötzlich, als ich bereits sein Schweigen akzeptiert habe und begonnen habe weiterzugehen.
Ich mustere ihn skeptisch und kann nicht verhindern, dass mich Neugier packt.
Was hat die Organisation wohl für ihn getan?
„Weißt du, Eileen. Es gibt da ein Zitat: 'Darum tu auf deine Sinne und betrachte es ordentlich. Je mehr du dich darin im Spiel übst, desto mehr denkst du daran im Ernst.' Es hat eigentlich eine andere Bedeutung, doch ich vergleiche es gerne mit der Menschheit. Die meisten Leute sind zu träge über alles nachzudenken und glauben das, was die Medien sie glauben lassen. Und die Leute wissen, dass sie manipuliert werden, natürlich wissen sie das, denn blöd sind sie keinesfalls. Bloß zu bequem. Sie denken, es ist ein Spiel, nichts Wichtiges. Und umso länger sie sich bewusst manipulieren lassen, desto eher beginnen sie es wirklich zu glauben." Er hält kurz inne, um mir einen vielsagenden Blick zuzuwerfen. „Deshalb bin ich mir sicher, Eileen, dass die meisten Menschen gut und böse in zwei feste Kategorien einteilen. Obwohl es noch so viele Schattierungen davon gibt."
Auch, wenn seine Gedanken wirklich beeindruckend wahr erscheinen, kann ich nicht anders als stehen zu bleiben und David verwundert anzublicken.
„Ich fasse es nicht. Du kennst Döbringer? Den Döbringer, der das berühmte Fechtbuch geschrieben hat? Und darf ich fragen, wieso du ein Zitat aus seinem Fechtbuch komplett aus dem Kontext reißt? Er meint dabei das Üben vom Fechtkampf, nicht die Manipulation der Medien", sage ich, gespielt aufgebracht, auch wenn ich ehrlich gesagt beeindruckt bin. Ich hätte keinesfalls gedacht, dass er dieses Zitat kennt.
Er scheint ebenfalls überrascht, denn er betrachtet mich erstaunt, während sich ein kleines Grinsen auf seine Lippen stiehlt.
„Du fechtest, Eileen? Ich habe dich zwar lange beschattet, aber das ist mir beim besten Willen nicht aufgefallen."
Ich lache mehr als ich wahrscheinlich sollte, denn ich weiß nicht, ob ich es wirklich lustig ist von jemandem ausspioniert zu werden.
„Ja, ich fechte. Das ist so ziemlich der einzige Ort an dem ich meine Aggressionen auslassen kann und zusätzlich noch Selbstkontrolle erlerne, die ich leider wegen meiner verdammten Seele definitiv brauche."
Und nun öffne ich mich wieder, obwohl ich es nicht sollte. Ich hasse mich dafür, dass ich meinem ENTFÜHRER Dinge über mich erzähle. Dennoch tue ich es. Warum auch immer.
„Aber deine Gedanken zu diesem Zitat sind gar nicht mal so daneben", gestehe ich David und erhalte von ihm ein zufriedenes Lächeln. „Auch, wenn ich immer noch der Meinung bin, dass deine Organisation nichts Gutes tut, wenn sie Menschen entführt und bedroht."
David zuckt nur mit den Achseln und auch in seinen Augen kann ich nichts lesen.
Die Stimmung ist ziemlich entspannt dafür, dass es sich um einen Entführer-Opfer-Spaziergang handelt. Wir unterhalten uns ein wenig, während ich versuche die frische Natur zu genießen. Wer weiß, wann ich das nächste Mal wieder nach draußen komme...
Auch in den nächsten Tagen zeigt sich, dass David, was die Belohnungen angeht, nicht gelogen hat. Jedes Mal, wenn ich ihm ein kleines Bisschen über meine Seele erzähle, erhalte ich meine Belohnung, die einen Spaziergang, eine doppelte Essensportion oder eine Möglichkeit ein wenig meiner liebsten Jazzmusik zu hören, beinhaltet.
Doch mit jedem weiteren Tag, mit jeder weiteren Belohnung steigen meine Angst und meine Zweifel. Denn ich weiß, dass ich David nicht vertrauen kann, eigentlich sollte dieses Misstrauen selbstverständlich sein. Er ist schließlich Mitglied einer gewalttätigen, skrupellosen Organisation, von der ich immer noch so gut wie nichts aus David herauskriegen konnte.
Jeden Abend, wenn ich auf meiner harten Matratze liege und versuche einzuschlafen, zähle ich die Tage. Die Tage bis zum Ende der Woche, wenn sich herausstellen wird, ob David sein Versprechen hält und mich freilässt. Ich will nicht naiv sein und versuche es mit allen Mitteln anzuzweifeln, doch ich ertappe mich immer wieder dabei, wie ich beginne David zu vertrauen. Wie ich beginne, ihm zu glauben, dass er mich gehen lässt, wenn ich seine Neugier stille.
Sechs Tage bin ich nun schon hier. Esse jeden Abend die Suppe, die David mir vorlegt, starre an die Wand, wenn ich eingesperrt bin oder erfreue mich an meinen kleinen Belohnungen, weil sie das Einzige sind, woran ich festhalten kann.
Diese sechs Tage fühlen sich wie eine Ewigkeit an. Denn noch vor einer Woche bin ich an dem Rapsfeld gestanden und habe den Frieden genossen. Der Frieden, der kurz darauf zerstört worden ist.
Ich schließe die Augen trotz der aufkommenden Erinnerungen. Ich muss ihnen entgegenblicken. Ich muss mit ihnen leben. Ich muss.
Der Mann steht vor mir. „Was auch immer ich jetzt mache, ich bitte Sie, Miss Walker. Bitte nehmen Sie es mir nicht persönlich." Eine Klinge blitzt auf.
Hass.
Meine Seele stürzt auf ihn, zerstört seine Gefühle, zerfetzt seine Gedanken. Schmerz. Schreie. Ich sehe alles, ich spüre alles. Es ist, als würden tonnenschwere Hagelkörner auf mich einprasseln. Als würde sein Schmerz uns beide niederreißen.
Ich kann nicht mehr. Die gähnende Leere in meinem Inneren wird mit nichts als Schmerz erfüllt.
Größere, schwerere Hagelkörner. Sie schlagen auf uns ein, drücken uns zu Boden. Schmerz. Überall Schmerz.
Ein Wimmern. Der Mann ist gebrochen. Wie jeder andere auch, dessen Seele meiner unterworfen war.
„Er hat es verdient", flüstert meine Seele, tief in mir, ihre Gier gestillt.
Und ich hasse sie. Ich hasse, hasse, hasse sie.
Denn niemand hat das verdient, was ich ihm angetan habe.
Niemand.
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