Kᴀᴘɪᴛᴇʟ 27
Die graue Straße vor uns wird in warmes, gelbes Licht getaucht, als sich meine Augen blinzelnd öffnen und für einen Moment ratlos aus dem Autofenster starren.
Ohne den Blick vom Asphalt und den bunten Häusern am Straßenrand zu nehmen, richte ich mich auf und verziehe das Gesicht. Behutsam betaste ich meinen Nacken, der nach meiner seltsam verenkten Schlafhaltung höllisch schmerzt. Laut seufzend lehne ich mich zurück und lasse den Blick durch das Auto schweifen. Während Julietts Hände am Steuer ruhen, starren ihre Augen erschöpft auf die Straße, ohne auch nur ein einziges Mal zu blinzeln.
„Du bist bestimmt total müde, Juliett“, sage ich augenblicklich und blicke zur Seite, um dem links von mir schlafenden Louis durch die Haare zu streicheln. „Ich kann dich jetzt ablösen, wenn du willst“, biete ich an, denn Julietts matter Gesichtsausdruck spricht Bände.
„Ich erinnere dich ja nur ungerne daran, aber vorhin hast du mir noch erzählt, dass du vor zwei Jahren bei deiner Fahrprüfung durchgefallen bist“, meint David, der links von Louis, ebenfalls auf der Rückbank, sitzt und sich verschlafen die Augen reibt, ehe er mir beinahe schon frech zu zwinkert.
„Dass du fährst, halte ich auch für keine gute Idee“, kommt es von Nora, die neben Juliett im Beifahrersitz nun ebenfalls aus dem Reich der Träume erwacht.
Genervt stöhne ich und blicke Juliett mitfühlend an. „Ich kann wirklich fahren“, beharre ich auf meinen Vorschlag, als ich ihre schläfrigen Augen erblicke, die nicht einmal mehr die Energie haben, ihr typisches spöttisches Juliett-Funkeln aufzusetzen. Sie lächelt gequält.
Nach einem scheinbar ewigen hin und her setzt sich Nora anstelle von Juliett ans Steuer und nur wenige Sekunden später höre ich ihren regelmäßigen Atem, der von einem kaum hörbaren Schnarchen begleitet wird.
All die Anspannung, die mich nachts in meinen Gedanken verfolgt hat, ist nun an diesem sonnigen Morgen wie verflogen, denn die satten, friedlichen Farbtöne, die sich vor uns ausbreiten, lassen mich alles vergessen. Mein Atem setzt beinahe aus, als meine Augen aus dem Seitenfenster den Ort erblicken, den ich so lange nicht mehr gesehen habe.
Das Rapsfeld.
Ich bin immer wieder erstaunt, was für eine Wirkung dieses riesige Feld voller gelber Blüten auf mich hat, denn als sich die morgendlichen Sonnenstrahlen sanft auf die leicht hügelige Wiese legen und dieses Blumenfeld in einen wunderschönen Gelbton tauchen, werde ich von einem Schwall an Emotionen überwältigt, von denen ich nicht einmal wusste, dass sie überhaupt in mir schlummern.
Ein breites Lächeln bildet sich auf meinen Lippen, begleitet von einem Tränenschleier, der sich über meine Iris legt und das Feld nur noch wie verschwommene, gelbe Farbkleckse wirken lässt.
Ich spüre Davids Blick auf mir, woraufhin ich meinen Kopf zu ihm drehe.
„Das sieht aus, als wäre die Welt in Honig getunkt worden“, sage ich leise, als wären meine Worte etwas Verbotenes, etwas Geheimes
Die hellen, frischen Strahlen erfüllen das gesamte Auto und lassen Davids dunkle Augen golden leuchten. Auch er scheint den Zauber dieses Lichts zu spüren, scheint die Magie dieser warmen Strahlen in seinem Inneren zu fühlen, denn auch seine Lippen werden von einem Lächeln umspielt, das mehr sagt als tausend Worte.
„Ja, wie flüssiger Honig“, wiederholt David meine Worte, so behutsam, als wären sie mehr wert als jedes Gold dieser Welt.
Am liebsten würde ich Nora zurufen, das Auto anzuhalten. Ich würde aussteigen und losrennen, auf das Feld zu, durch die gelben Blüten, die sich in die Unendlichkeit ausstrecken. Ich würde so schnell rennen wie noch nie, ich würde der Sonne immer näher kommen, um in ihrem graziösen Licht heller zu erstrahlen, als jemals zuvor. Vielleicht, ja vielleicht würde David sogar mitrennen. Dann wäre ich nicht mehr alleine in meinem Gefühl der Freiheit. Dann wären wir gemeinsam in dieser Unendlichkeit.
Und in Davids Blick sehe etwas, das mein Herz höher schlagen lässt. Etwas, das mich mit Wärme erfüllt. Denn in seiner im Licht glühenden Iris ist das Gefühl, das soeben durch meine Adern strömt. Diese Sehnsucht nach Freiheit, nach dem Licht. Zum ersten Mal habe ich das Gefühl verstanden zu werden, nicht mehr alleine zu sein mit meinen kindischen und surrealen Träumen, über die die Welt nur lachen würde.
David beugt sich leicht über den zwischen uns schlafenden Louis, ohne den Blick von mir und der Morgensonne zu lösen. „Wir könnten jetzt einfach aussteigen und losrennen“, spricht er flüsternd seine Gedanken aus, die gleichzeitig auch meine Gedanken sind, und seine Stimme voller sehnsüchtiger Erwartung erzittern lassen. „Irgendwohin. Egal wohin, hauptsache weg von hier.“
„Ja!“, will ich rufen, so laut, dass die ganze Welt es hören kann. „Ja, lass uns durch diese Felder rennen bis wir mit dem Horizont verschwimmen.“
„Bald“, erwidere ich stattdessen flüsternd, ohne meinen Blick von seinen ehrlichen, sehnsüchtigen Augen zu lösen, die mich in ihren Bann ziehen. „Bald können wir durch die Felder rennen bis wir mit dem Horizont verschwimmen. Bald.“
***
„Nein, wir müssen links abbiegen!“, schimpft Juliett genervt, während ihre Finger angespannt gegen die Autofensterscheibe trommeln. Nach ihrem kleinen Nickerchen scheint sie wieder ganz die Alte zu sein.
Nora nickt entschuldigend und reißt das Steuer herum, sodass das Auto quietschend in die Nebenstraße einbiegt.
Inzwischen haben wir Berrow hinter uns gelassen und schlittern über kaum befahrene Landstraßen, die einzig und allein von weiten Feldern und einsamen, nebeligen Nadelwäldern umgeben sind.
„Ich habe Hunger“, jammert Louis neben mir unaufhörlich, doch ich kann nichts anderes tun, als ihm liebevoll übers Haar zu streichen, während Nora uns vom Steuer aus hilflose Blicke zuwirft.
Niemand der Anwesenden ist sonderlich gesprächig, was mir nur Recht ist, da ich die meiste Zeit nur stumm aus dem Fenster blicke und die Sicht auf die Natur genieße. Dieser Anblick der wunderschönen Nadelwälder, dessen Spitzen von Nebeldunst umhüllt werden, und Felder, deren Horizont mit dem wolkenlosen Himmel verschwimmt, erscheint mir auf einmal wie das kostbarste dieser Welt, nachdem ich eine viel zu lange Zeit in einem Gebäude eingesperrt war, ohne Hoffnung auf Entkommen.
„Wir sind bald da“, verrät uns Nora mit einem Blick auf ihr Navi und ein erleichtertes Seufzen erklingt in der ganzen Runde. Selbst Davids finsteres Gesicht hellt sich auf, was mir ein Lächeln auf die Lippen zaubert. Seine Schultern straffen sich und unsere Blicke kreuzen sich wie durch Zufall, doch unsere verlegenen Blicke sind Beweis genug, dass es sich um alles andere als einen Zufall handelt. Denn wenn ich auf dieser mehrstündigen Autofahrt nicht gerade sehnsüchtig aus dem Fenster geblickt habe, habe ich David unauffällig von der beobachtet, habe seine nachdenklichen Blicke, seinen angespannten Kiefer und natürlich sein Lächeln betrachtet, wenn er bemerkt hat, dass ich ihn anblicke.
Das unglaublich große Verlangen, meine Arme um ihn zu schlingen, meine Fingerspitzen über jede Stelle seines Gesichts zu streichen, und in diese unglaublich dunklen Augen, in denen die Nacht leuchtet, zu blicken, wird einzig und allein von Louis vereitelt, der nichts ahnend zwischen uns sitzt und hungrig vor sich hin jammert.
David räuspert sich, ohne seine Augen auch nur für einen Moment von mir zu lösen, was mich gleichzeitig nervös und glücklich stimmt. Sein Blick mag von außen dunkel scheinen, doch inzwischen kenne ich ihn schon gut genug, um die Sterne in ihm leuchten zu sehen.
Doch was mein Herz vor allem zum Flattern bringt, ist dieser Ausdruck in seiner Iris, als würde er etwas unglaublich Wertvolles ansehen. Als wäre ich etwas Wertvolles.
Ich war noch nie jemand, der sich im Spiegel angeblickt hat und das, was dort zu sehen war, gehasst hat. Ich habe mich noch nie für hässlich gehalten, hatte noch nie das Gefühl, nicht hübsch genug zu sein. Aber dennoch habe ich es nie für möglich gehalten, dass mich jemand ansehen und etwas besonderes in mir sehen könnte. Denn alles was ich sehe, wenn ich in den Spiegel blicke, ist eine gewöhnliche junge Frau, mit einem gewöhnlichen Charakter und einem gewöhnlichen Leben.
Bis auf den Fakt, dass ich bis vor kurzem Seelen lesen konnte, entführt worden bin nun auf der Flucht vor einem rachdurstigen Kriminellen bin...
Ich verkneife mir ein Lachen, denn mein ganzes Leben kommt mir auf einmal so absurd, so surreal vor. Konnte ich wirklich mal Seelen lesen? Es kommt mir vor, als wäre es nur ein böser Traum gewesen, der eine seltsame Leere in meinem Kopf hinterlassen hat. Wie aus einer anderen Welt.
„Endlich!“, durchdringt Julietts Ruf meine unaufhörlich fließenden Gedanken, woraufhin ich meinen Blick von David löse, um Julietts ausgestrecktem Finger zu folgen.
„Herzlich willkommen in Dover“, sagt sie feierlich, während Nora das Auto an einem Schild vorbei lenkt. „In wenigen Minuten werden wir die Küste erreichen, von wo aus wir mit der Fähre überall hinkommen können.“ Auch wenn Julietts Worte ungewöhnlich fröhlich klingen, sind sie wie ein Schlag ins Gesicht. Denn natürlich war mir bewusst, dass wir weg müssen, sehr weit weg. Aber erst jetzt wird mir klar, was das bedeutet. Nie wieder einen Morgenkaffee in meiner Wohnung trinken, nie wieder das Rapsfeld betrachten, nie wieder mit Kayla im Café quatschen.
„Claire hat gesagt, dass ihr Mann verstehen wird, wieso sie es getan hat. Vielleicht ist er nicht so rachsüchtig wie wir denken und wir können einfach zurück nach Berrow fahren und...“, werfe ich fast schon verzweifelt in die Runde, doch Juliett unterbricht mich grob. „Du kennst den Chef nicht.“ Obwohl ich ihr Gesicht nicht sehen kann, da sie auf dem Beifahrersitz sitzt, weiß ich, dass ihr Gesichtsausdruck finster ist. „Er hat das alles nur für sie gemacht. Nur für sie.“
Ihre Stimme ist lauter geworden, weshalb ich kaum merklich zurückschrecke. „Ihm ist egal, ob Claire diese Entscheidung getroffen hat oder du. Er will, dass du stirbst. Er will, dass wir alle sterben.“
Die Atmosphäre im Auto verdüstert sich augenblicklich und ich stelle fest, dass meine Hand, Louis' kleine Finger fest umschließt. Seine großen, unschuldigen Augen blicken ängstlich zu mir hoch. Ich schlucke und suche nach tröstenden Worten, doch mein Mund ist wie ausgetrocknet.
Ich wende den Blick ab, um aus dem Fenster zu sehen und schäme mich noch in diesem Moment dafür, dass ich zu feige bin, den angsterfüllten Augen meines Neffen entgegen zu blicken.
Einzelne bunte Fischerhäuser sind am Wegrand zu sehen, doch wir sind größtenteils von Sonnenblumenfeldern umgeben, deren Schönheit ich unter anderen Umständen vielleicht bewundert hätte. Doch jetzt erscheinen sie mir scheinheilig, als würden sie bloß von der Angst ablenken wollen.
„Dort hinten ist das Meer, seht ihr?“, durchbricht seltsamerweise der sonst schweigsame David die Stille und ich kann nicht anders, als ihn anzublicken, um das erwartungsvolle Funkeln in seinen Pupillen zu sehen. Und tatsächlich. Weit hinten am Horizont, neben einigen wenigen Häusern, ist etwas Blaues, etwas Unendliches zu erkennen.
Mit jedem Meter steigt die Nervosität in dem Auto, denn nicht nur Louis zappelt unruhig hin und her, auch Juliett trommelt unaufhörlich gegen die Fensterscheibe, was mich gleichzeitig wahnsinnig und hibbelig macht.
Die Sonnenblumenfelder verschwimmen in meinem Blickwinkel, ich bin einzig und allein auf den winzigen blauen Streifen am Horizont fokussiert, der unsere Freiheit bedeutet.
Das Meer.
„Wenn wir uns beeilen, schaffen wir es noch auf die Fähre um elf Uhr dreißig nach Nordfrankreich“, meint Juliett mit einem Blick auf den zerfledderten Schiffsplan, der im Handschuhfach des Autos gesteckt hat.
Nora gibt noch mehr Gas, während alle Augenpaare nur auf diesem einen Punkt liegen. Die Zeit scheint stehen geblieben zu sein und ich frage mich unwillkürlich, ob hier überhaupt noch irgendjemand atmet, denn die hier herrschende Stille könnte nicht stiller sein.
Bald sind wir da. Mein Herzschlag pulsiert so schnell, dass ich mich wundere, wieso es mir noch nicht aus der Brust gesprungen ist. Ich suche in Davids sonst so ruhigem Gesicht nach Zuflucht vor meiner aufkeimenden Aufregung, doch seine Augen lodern wie noch nie.
Mehr und mehr Häuser am Straßenrand, umgeben von noch mehr Sonnenblumenfeldern.
Ich spüre Louis' Finger fest in Meinen und drehe meinen Kopf zu ihm, um ihm ein paar liebevolle Worte zuzuflüstern.
Das letzte, was mein Blick streift, sind Davids weit aufgerissene Augen und seine Lippen, die leise Worte formen.
Doch ich weiß nicht mehr, was er sagt, denn mein mein gesamter Körper wird plötzlich von einem gewaltigen Stoß erschüttert und ich werde nach vorne, gegen den Vordersitz geschleudert.
Schreie erklingen, das Auto schlittert mit quietschenden Reifen weiter, doch all das scheint weit weg zu sein, wie aus einer anderen Welt. Nicht echt. All das ist nicht echt. Louis' Finger werden von meinen fortgerissen, David verschwindet aus meiner verschwommenen Sicht.
Mein Kopf schmerzt und etwas warmes sickert an ihm entlang. Ich bin wie gelähmt, der Schmerz fühlt sich gleichzeitig grauenhaft echt und seltsam surreal an. Nicht echt. All das ist nicht echt.
Ich hebe meinen Kopf mit glasigem Blick leicht an, doch ich blicke nicht zu den Anderen.
Ich will sie nicht sehen, ich will nicht wissen, wie sie gerade aussehen. Ich will nicht mit der blutigen, toten Wahrheit konfrontiert werden, die ich all die Jahre der Welt offenbaren wollte. Ich hasse die Wahrheit. Ich will verdammt noch mal nichts sehen.
Meine Gedanken rasen, und doch kann ich nicht klar denken, denn alles, was ich in meinem Kopf höre, ist mein rasender Herzschlag. Ich spüre das Bedürfnis zu schreien, so laut ich kann. Denn wir sind fast da. Dort hinten ist die Freiheit zu sehen, dort hinten ist das Meer, das uns fort tragen sollte.
Ich weiß nicht, ob das Auto noch weiterschlittert oder ob es bereits zum Stehen gekommen ist. Ich weiß nicht, ob wir kopfüber sind oder nicht.
Die Stille nach dem Aufprall ist endgültig. Mein Herz hämmert gegen meine Brust, mein Körper fühlt sich so unglaublich schwer an. Bin ich tot? Die seltsame Stille in meinem Kopf ist zu laut, viel zu laut.
Ein Tränenschleier benetzt meine Iris, macht es mir unmöglich, scharf zu sehen, doch sie fließen unaufhörlich. Ja, alles, was meine müden Augen verschwommen wahrnehmen können, ist das satte Gelb der Sonnenblumen, die scheinheilig und friedlich am Wegrand vor sich hin blühen.
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