Kᴀᴘɪᴛᴇʟ 23
Ich zeige es nicht, doch ich bin schockiert von all dem, was Claire gerade erzählt hat. Niemals im Leben hätte ich gedacht, dass diese Entführung mit meiner Vergangenheit und meinem Ursprung verwoben ist und, dass ich hier inmitten dieser kriminellen Organisation, meine mir unbekannte Tante kennenlernen würde. Anfangs, als ich in der Waldhütte bei David aufgewacht bin, habe ich lediglich gedacht, dass die Organisation meine Gabe als Waffe einsetzen will.
„Lory und ich, wir waren ein Herz und eine Seele", beginnt Claire und massiert sich die Schläfen, während ihr kraftloser Blick auf mir ruht. „Sie war nur zwei Jahre jünger als ich, und doch war sie so viel klüger und schöner und talentierter - aber ich habe sie nie beneidet. Nein, im Gegenteil", eine Träne sickert an Claires Wange hinab, „Ich habe sie mehr geliebt als alles andere auf dieser Welt. Ich hätte alles für sie getan."
„Und dann wurde bei ihr der Gehirntumor diagnostiziert", stelle ich fest und bemerke, wie schwach und kläglich meine Stimme doch klingt.
Claire nickt gedankenverloren. „Ja, sie war damals schwanger mit dir, als sie die Nachricht erhalten hat. Aber nicht nur sie hat diesen seltenen Tumor", Claire lächelt bitter. „Bei mir wurde er im gleichen Jahr diagnostiziert. Ich war damals frisch verheiratet... wohl wissend, welchen Beruf mein Mann hat. Aber ich liebe ihn weißt du. Manchmal kann man nichts dagegen tun."
Ich lächel leicht und stelle verärgert über mich selber fest, dass sich Davids wunderschöne Augen in meine Gedanken geschlichen haben. Rasch verbanne ich dieses Bild aus meinem Kopf.
„Er hat alles für mich getan, alles. Er hat Experimente durchgeführt, Medikamente geschmuggelt, Forschungsprojekte, die vom Staat nicht genehmigt wurden, durchgeführt. Natürlich ist Claire zu mir gegangen, um hier Hilfe zu bekommen... doch das alles hat nicht geholfen. Am Tag deiner Geburt starb sie aufgrund ihres Tumors, mit ganz viel Glück hast du jedoch überlebt."
„Was geschah noch? In...in der Nacht meiner Geburt?" Meine Stimme zittert. „Du hast gesagt, dass in dieser Nacht alles begonnen hat. Was hat begonnen?"
Ich entdecke ein trauriges Glitzern in Claires Augen, was jedoch noch im selben Moment wieder verschwindet und von Müdigkeit ersetzt wird.
„Die Wahrheit. Du denkst, unsere Seelen sehnen sich nach der Wahrheit, oder?" Ich runzele die Stirn und nicke kaum merklich. Die Mundwinkel meiner Tante zucken und im selben Moment zerrt meine Seele in mir wie ein tollwütiges Tier, sodass ich die Zähne fest zusammen beisse.
„Doch das stimmt nicht ganz", fährt Claire fort. „Denn unsere Seelen lesen Andere nicht, um sie zu verletzen und zu zerstören. sie tun es, weil sie nach etwas suchen. Und jetzt", sie hält kurz inne, „haben sie es gefunden."
„Was ist es?", frage ich ungeduldig. „Wonach hat meine Seele so lange gesucht?" Claire blickt hinter mich, als könne sie dort etwas sehen.
„Nach ihr", erklingt eine ruhige Stimme hinter mir und ich fahre herum. Mit langsamen Schritten tritt David aus dem Halbdunkel hervor, seine Augen sind stürmisch und dunkel und ein leichtes Lächeln ziert seine Lippen.
Völlig perplex reiße ich den Mund auf, bekomme jedoch kein Wort heraus.
Was hat das alles zu bedeuten?
„Deine Seele hat nach Claire gesucht", erklärt David und tritt noch näher an mich heran, ohne auch nur einmal den Blick von mir zu nehmen. „So ist es doch, Claire, oder?" Seine Stimme klingt finster und ich meine Tränen in Claires Augen zu erkennen.
„Du solltest ihr die ganze Wahrheit erzählen", sagt David leise, als seine Augen zu der still vor sich hin weinenden Seelenleserin huschen. An mich gerichtet fügt er hinzu: „Du willst die Wahrheit doch kennen, Eileen?" Ich wage es nicht zu nicken, doch alles in mir schreit "Ja! Ich will die Wahrheit!"
„Ich...ich wäre in dieser Nacht auch gestorben, Eileen", flüstert Claire und wischt sich ein paar Tränen aus dem Augenwinkel. „Die Gehirnkrankheit lag in unserer Familie und wir lagen beide in dieser Nacht im Sterben, aber ich... wollte leben. Ich war damals eine Kämpferin. Eine Kämpferin, die nichts sehnlicher wollte als das Leben. Am...", ihre Stimme bricht und sie räuspert sich, ehe sie fortfährt, „Am Tag deiner Geburt war ich dabei. Da waren nur du, deine Mutter, ein Arzt, zwei Krankenschwestern und ich. Es war die Hölle, alles war außer Kontrolle. Lory lag im Sterben. Ich lag im Sterben. Du lagst im Sterben, weil deine Mutter zu schwach war. Überall waren Schreie, Befehle, Rufe, Tränen, Blut..."
Ich spüre, wie David an mich heran tritt und mir seine Hand auf die Schultern legt. Ich bin wie betäubt, alles dreht sich und doch ist mein Blick ungewöhnlich klar.
„Aber ich, ich wollte leben." Claire lacht bitter. „Ich wollte nur das. Ich weiß bis heute nicht wie, aber auf irgendeine Weise, hat meine Seele in meinem Körper geschrien. Ich habe sie gehört. Sie war so schwach, ich war schließlich schon halbtot. In dem Moment, als du auf die Welt gebracht wurdest, kam Davids Mutter, mit David in den Armen, in den Raum, um nachzusehen, was hier los war. Und diesen Moment hat meine Seele ausgenutzt. Sie hat die Anwesenheit von zwei jungen Kleinkindern, frisch und lebendig, gespürt und hat diese jungen, unschuldigen Seelen ergriffen. Zuerst warst du dran, Eileen. Meine Seele hat sich in deine Seele gebohrt, hat Stücke und Fetzen herausgerissen, um sie in sich selber zu ergänzen und hat alte, kaputte Teile ihrer selbst in deiner Seele eingesetzt. Sie hat deine Verletzlichkeit genutzt, um an Leben, an Kraft zu gelangen. Das alles nur, weil ich nicht sterben wollte. Bei David hat sie bloß an der Fassade gekratzt. Seine Seele war stärker und konnte sich gegen mich wehren, weshalb meine Seele aufgegeben hat. Ihr Hunger war dank deiner Seele schließlich schon fast komplett gestillt. Seitdem hat Davids Seele Mauern errichtet, um sich vor Seelenlesern zu schützen. Er war immerhin erst ein Kind und war noch verformbar. Es ist wie, wenn ein Kind von klein auf mit einem Hund zuhause lebt. Es entwickelt dadurch höchstwahrscheinlich keine Allergie gegen Hundehaare. Genauso ist es mit seiner Seele. Dadurch, dass er schon von klein auf von einer anderen Seele konfrontiert wurde, konnte er eine gewisse Immunität aufbauen. Das ist der wahre Grund, wieso wir seine Seele nicht lesen können."
Claire schluckt und scheint in meinen Augen nach einer Antwort zu suchen, doch ich fühle mich, als wäre ich betäubt. Davids Hand streichelt mir leicht über den Rücken.
„Und seit dem sind wir zwei Seelenleser?", frage ich mit monotoner Stimme.
Claire nickt schwach. „Ja. Denn seit dem sind unsere Seelen gespalten. Ich trage Teile deiner Seele in mir und du trägst Teile von mir in deiner Seele. Wir haben zersplitterte Seelen."
Unwillkürlich schießen mir Strophen eines Liedes, das ich vor langer Zeit gehört habe, in den Kopf.
Pain inflicted upon my fractured soul. No hope. I'm paralyzed.
„Was ich damals aber noch nicht wusste, ist, dass unsere Seelen nach ihren verlorenen Bruchstücken suchen würden. Sie würden so lange danach suchen, würden fremde Seelen durchbohren und durchströmen, bis sie wieder ganz sind. Rastlos, bis an unser Lebensende."
„Das ist also der Grund, wieso meine Seele bei dir noch gieriger und unbändiger wird", murmele ich, eher zu mir selber. „Weil sie endlich ihre verlorenen Stücke gefunden hat und an sich reißen will."
Ich hebe den Kopf, um an die Decke zu starren.
„Und jetzt?", frage ich leise. „Was passiert jetzt, wo unsere Seelen zueinander gefunden haben?"
Claire lächelt. „Jetzt gebe ich dir das zurück, was ich dir vor genau zwanzig Jahren weggenommen habe."
Mein Gesicht bleibt reglos, doch meine Seele schreit.
Ja. Endlich. Endlich bin ich wieder ganz.
„Und was bedeutet das für dich, Claire?", fragt David, dessen über meinen Rücken streichende Hand mitten in der Bewegung verharrt ist. „Wenn du ihr ihre Seelenstücke zurück gibst, bist du nichts mehr. Dann hast du nichts mehr, außer deinen eigenen schwachen und fast toten Seelenfetzen."
„So soll es sein", sagt Claire leise. „So sollte es eigentlich schon vor zwanzig Jahren sein."
„Meine Gabe ist zwar schrecklich und qualvoll, aber ich möchte lieber weiterhin mit ihr leben, als deinen Tod zu verschulden", durchbreche ich schließlich die Stille, doch Claire schüttelnd sanft lächelnd den Kopf.
„Du verstehst es nicht, oder? Es ist unvermeidbar. Hörst du denn nicht das Schreien deiner Seele?"
Doch, ich höre es.
„Sie ziehen sich an und wir haben die Kontrolle über sie verloren. Sie werden kollidieren, sich miteinander verweben. Und ich", sie lächelt, „werde diese Kollision nicht überleben."
Wut keimt in mir auf. „Aber..."
„Eileen! Ich bin todkrank. Ich werde sterben. So oder so. Das, was meine Seele vor zwanzig Jahren getan hat, hat meinen Tod und meine Krankheit nur aufgeschoben. Willst du es nicht? Den Frieden in deinem Kopf, eine Seele, die nicht rastlos und immer suchend ist? Willst du nicht das Leben, das du eigentlich haben solltest?"
„Aber dein Mann?", meine Stimme klingt schwach, „Der Chef? Was ist mit ihm?"
Ein verträumter Blick erscheint auf Claires Gesicht. „Brad wird es verstehen." Ihre Augen richten sich auf David.
„David, gehe zur Seite. Gleich werden wir unseren Seelen freien Lauf lassen, ihnen die komplette Kontrolle überlassen." David blickt zu mir und ich spüre neben der großen Angst auch Wärme in meinem Herzen aufkeimen. Seine rauen Fingerspitzen berühren meine Wange und er lehnt sich vor, um seine Lippen federleicht über meine streifen zu lassen. Dann macht er einige Schritte von mir weg und hinterlässt in mir ein zartes, wunderschönes Gefühl.
Gib mir ihre Seele. Ich will endlich das, was mir zusteht.
Meine Seele ist schon lange kein Flüstern mehr, sondern ein hohler, kehliger Schrei, der meine Blutbahnen erfüllt.
Das dämmrige Licht lässt all das wie einen Traum wirken. Es gibt keinen Ausweg aus diesen kalten, grausamen Wänden, die mir in der Finsternis wie die Schatten dunkler Seelen vorkommen. Ich will nicht der Grund von Claires Tod sein. Auch wenn sie Schuld ist, auch wenn sie die Frau des Mannes ist, der mir und Nora all das angetan hat – sie ist immer noch meine Tante. Die Schwester meiner Mutter, die am Tag meiner Geburt gestorben ist. Die Mutter, die ich, obwohl ich sie nie kennengelernt habe, liebe.
„Eileen.“ Claires Stimme erklingt so klar in meinem Kopf, als würde sie in ihm sitzen. „Du musst dich jetzt entspannen. Du musst aufhören, deine Seele zu unterdrücken, musst ihr die gesamte Kontrolle überlassen, sonst zehrt es an deinen Kräften. Und du wirst noch einiges an Kraft brauchen.“ Ich höre eindeutig Angst in ihren Worten, die von einem Schlucken gefolgt werden.
„Es wird wehtun.“ Ich balle meine Fäuste und werfe David einen panischen Blick zu, den er mit Hilflosigkeit in den Augen erwidert.
„Und jetzt lass los. Gib dich deiner Seele hin.“
Ich zittere, spüre das Zerren und Flehen meiner Seele.
Und dann lasse ich sie los. Ich überlasse ihr die Kontrolle und die Macht. Meine Gedanken, meine Gefühle und alles, was mich ausmacht, liegt nun nicht mehr in meinen Händen. Einzig und allein die nackte Angst bleibt zurück.
Die Angst, mich selber zu verlieren.
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