Kᴀᴘɪᴛᴇʟ 2
„Hey, Eileen!"
Ich halte mir mein Handy ans Ohr, um Noras schallende Stimme zu hören.
Steht sie etwa schon vor der Haustür und wartet darauf, dass ich herunter komme?
Ich habe sie nun seit zwei Tagen nicht gesehen, doch jetzt, wo Freitagnachmittag ist, fahre ich endlich zu ihr, um dort für drei Tage zu bleiben.
„Hallo, Nora. Stehst du schon vor der Tür?", frage ich nervös, da ich meine Sachen noch nicht gepackt habe.
„Nein, ich bin noch zu Hause" Sie räuspert sich. „Es ist bloß so: Louis hat im Kindergarten ein Fest, bei dem alle Eltern kommen sollen und er hat sich so gefreut, dass ich komme. Jonathan hat sich bereit erklärt, dich abzuholen, weil er nicht unbedingt zu dem Fest muss. Ist das in Ordnung?"
„Natürlich ist das in Ordnung", erwidere ich, erleichtert, dass ich noch Zeit habe. „Wo holt er mich ab? Hier bei mir zu Hause?"
„Nein, wenn das ok ist, holt er dich um halb vier auf seinem Heimweg von der Arbeit neben dem Café ab. Das wäre praktischer für ihn."
„Alles klar. Viel Spaß auf dem Fest!"
Nora lacht. „Hmm...Das Fest besteht daraus, dass wir zu Kindermusik tanzen und danach basteln. Das ruft nicht gerade nach Spaß!"
Ich grinse, versuche jedoch ernst zu bleiben.
„Kein Wunder, dass Jonathan mich lieber abholt, als selber dahin zu kommen", stelle ich schmunzelnd fest und höre Nora leise lachen.
„Dann bis später!", sagt Nora letztendlich, ehe sie auflegt und ich mein Handy auf den Tisch lege. Eilig laufe ich zum Bad, um die letzten Sachen in meinen Rucksack zu stopfen.
Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass ich in einer halben Stunde beim Café sein muss.
Ich greife meinen Hausschlüssel und werfe mir meinen Mantel über.
Draußen scheint die Nachmittagssonne leicht auf meine Haut, doch warm ist sie nicht wirklich. Die frische Luft kühlt meinen Hals aus, weshalb ich den Kragen hoch ziehe.
Einige Menschen befinden sich auf den Straßen, sie lachen und unterhalten sich, glücklich, weil Wochenende ist.
Ich hasse Menschenmengen. In ihnen ist es so schwer, meine Seele unter Kontrolle zu bringen, vor allem jetzt.
Ich versuche Blickkontakte zu vermeiden und die Menschen schnell zu überholen. Ich entdecke einen Mann, der Malerklamotten trägt. Sie sind voller Farbe und ich sehe ihm die Erleichterung an, dass Wochenende ist.
Er scheint es so eilig wie ich zu haben.
Ich blicke auf die Uhr, als ich das Café erblicke und stelle erleichtert fest, dass Jonathan erst in zehn Minuten hier sein wird. Unschlüssig bleibe ich vor dem Eingang stehen und winke Kyla zu, die heute Nachmittagsschicht hat.
Es ist so verdammt kalt. Ich versuche meine Gedanken zu sortieren und mich von den vielen vorbeigehenden Menschen abzulenken.
Eine Frau sitzt auf den Stufen neben dem Friseur und scheint nachzudenken. Schnell blicke ich weg, um nicht auf den Gedanken zu kommen, ihre Seele zu lesen.
Ich beginne wieder meine Lippe blutig zu beißen und verfluche mich selber für diese dumme Angewohnheit. Wieso kann ich nicht einfach aufhören?
Aber es gibt vieles, dass ich gerne aufhören würde.
„Eileen."
Ich zucke zusammen und drehe mich in die Richtung aus der die tiefe Stimme kommt. Jonathan. Erleichtert entspanne ich mich wieder und lache verlegen.
„Wieso bist du so verschreckt?", fragt Jonathan, während er mich kurz umarmt.
Seine blonden Haare sind verwuschelt und seine haselnuss-braunen Augen erforschen mich besorgt.
Ich zucke mit den Schultern, denn ich weiß es schließlich selber nicht.
Jonathan grinst mich an und bedeutet mir, ihm zu folgen.
„Ich habe in der Innenstadt geparkt, weil ich noch etwas besorgt habe", meint er und streicht gedankenverloren über sein eng anliegendes Hemd.
Ich nicke.
Meine Hände zittern leicht, doch ich versuche, mir nicht anmerken zu lassen, wie kalt mir ist.
Ich fühle mich unwohl.
Meine Seele versucht nach irgendjemandem zu greifen, doch ich schaffe es, sie von Jonathan abzulenken. Das würde mir Nora niemals verzeihen.
Still stapfen wir über die vollen Straßen, auf denen sich die Leute, trotz der Kälte, nur so tummeln.
Meine Augen huschen hin und her und versuchen nicht zu lange auf einer Person zu verweilen.
Dennoch bleibt mein Blick an dem Maler hängen, den ich bereits vor zehn Minuten gesehen habe. Er geht zügig über die Straße, sein breites Lächeln ist immernoch auf seinen Lippen.
Er nickt jemandem zu und ich kann mich nicht davon abhalten, neugierig nach der Person zu blicken. Es ist die Frau, die vorhin auf den Stufen des Friseurs saß. Sie stackst nun auf ihren braunen Wildlederstiefeln an dem Mann vorbei und nickt kaum merklich zurück.
Dann verschwindet er in der Menge.
„Jonathan", sage ich nun und richte mich an ihn, um mich abzulenken.
„Nora hat mir vorgestern im Café erzählt, dass ihr jetzt verlobt seid! Ich bin...sprachlos,...ich freue mich so für euch!" Ich merke wie mir wieder Tränen in die Augen treten, doch ich wische sie schnell und unauffällig weg.
Jonathan dreht sich zu mir und betrachtet mich mit seinen braunen Augen. „Ja", ist alles, was er sagt. Lächelnd nickt er.
Ich grinse ihn an und klopfe ihm leicht auf die Schultern.
„Weißt du, ich habe schon lange diesen Moment erwartet", füge ich lachend hinzu und nähere mich verschwörerisch seinem Ohr. „Ich habe jeden Tag gehofft, diese Nachricht zu erhalten und jetzt ist es endlich so weit!" Aufgeregt blicke ich ihn an. Er grinst und legt seinen Arm um meine Schultern. „Jaja, Eileen...jetzt ist es soweit."
Mein Blick schweift über die Menschenmassen und ich entdecke wieder die Frau, die den Maler begrüßt hat. Zielstrebig steuert sie auf einen älteren Mann zu, der ihr zu nickt.
Seltsam. Warum nicken sich alle zu?
Ich verkrampfte mich und spüre Jonathans Blick auf mir. Er scheint sich zu fragen, was mit mir los ist, aber dennoch schweigt er.
Die Frau verschwindet in einer Kneipe und der ältere Mann schlendert gemütlich über den Gehsteig.
Ich wende mich ab und konzentriere mich auf meine Füße, die regelmäßig auf dem Asphalt auftreten.
„Mein Auto steht dort hinten", meint Jonathan und deutet in Richtung der Hauptstraße. Ich nicke und kaue wieder auf meinen Lippen herum. „Los, komm", sagt er, weil ich langsamer geworden bin, und zieht mich etwas abseits der Bordsteinkante. Doch ich starre ununterbrochen auf die andere Straßenseite. Der ältere Mann ist stehengeblieben.
Er blickt mich an.
Mein Herz setzt einmal aus und Verwirrung macht sich in meinem Kopf breit. Was will er? Wieso nicken sich die Leute zu? Warum blickt er mich an?
Seine Augen bohren sich in meine, ich kann bis hier hin sehen, dass sie dunkelbraun sind. Meine Seele verrenkt sich und streckt sich, um an ihn zu gelangen und die Wahrheit zu erfahren, doch er ist zu weit weg.
„Eileen", drängt Jonathan und ich schüttele den Kopf, um meine Paranoia loszuwerden. „Ich komme", sage ich hastig und wende mich vom Mann ab.
Jonathans kleines Auto steht auf einem kleinen Parkplatz, auf dem alle Plätze besetzt sind. Ich öffne die blaue Autotür, an der der Lack schon etwas abgeht und lehne mich seufzend zurück. Nachdem Jonathan die Tür geschlossen hat, spüre ich die wohlige Wärme der Autoheizung. „Oh Gott, ist das schön warm", murmele ich und Jonathan lacht, während er den Motor startet. „Da war wohl jemandem kalt."
Wir nehmen einen anderen Weg, sodass ich nicht mehr den Mann sehen kann, der mich beobachtet hat. Zum Glück.
Langsam entspanne ich mich ein wenig und kann dank der Radiomusik und dem Blick aus dem dreckigen Autofenster alle Geschehnisse der letzten Tage vergessen. Ein wenig zumindest.
Ich spüre Jonathans Blick auf mir, während ich gedankenverloren auf die Straßen blicke. Er scheint wohl auch zu merken, dass irgendwas los ist.
„Ich finde es toll, dass du über's Wochenende zu uns kommst", sagt er jedoch und lächelt mich an. „Louis hat schon die ganze Zeit davon geredet, wie sehr er sich über deinen Besuch freut!" Ich lächele bei dem Gedanken an meinen kleinen Neffen. Und seine Eltern heiraten bald.
„Habt ihr ihm gesagt, dass ihr heiratet?", frage ich und merke, dass Jonathan sich abwendet.
„Nein."
Wir schweigen. Besonders gesprächig sind wir wohl nicht. Jonathans braune Augen leuchten ein wenig in der Sonne und ich grinse. Meine Schwester hat echt einen außerordentlich guten Geschmack, was Männer angibt. Ich kann mir ein leises Kichern nicht unterdrücken, woraufhin Jonathan mich nur verwirrt angrinst.
Das Auto kurvt über eine breite Straße, ein wenig außerhalb der Stadt, nur eine halbe Stunde vom Strand entfernt. Ich freue mich besonders auf dieses Wochenende, weil es von Noras Haus näher zum Strand ist, als von meiner Stadtwohnung. Ich war ewig lang nicht mehr am Meer.
„So. Da wären wir."
Das Auto bleibt stehen, nachdem es an einem Rapsfeld vorbei gefahren ist. Die unendlichen Weiten der gelben Blüten zaubern mir ein Lächeln auf die Lippen.
Ich öffne die Autotür und werde sofort wieder von der Kälte erschlagen. Ich schlinge meinen Mantel fest um mich und sprinte über den Schotterweg zu dem Haus. Ohne auf Jonathan zu warten, der anscheinend kein Problem mit der Kälte hat, fasse ich unter die Topfpflanze, unter der sich ein Ersatzschlüssel befindet.
Ich reiße die Tür auf und betrete erleichtert das Haus. Der knarzende Parkettboden fühlt sich gut an. Mein Blick schweift über das dunkelgrüne Sofa, das sich gegenüber vom großen Fenster befindet. Daneben steht ein kleiner Holz-Tisch auf einem Kuschelteppich. Ich hänge meinen Mantel über einen Ständer und gehe an Jonathan, der gerade das Haus betritt, vorbei zur Wendeltreppe.
„Ich gehe in mein Zimmer", rufe ich Jonathan zu und trampele über die Stufen, wie ich es schon getan habe, als nur Nora und ich hier gelebt haben. Erst seit einiger Zeit bin ich aus- und Jonathan eingezogen.
Aber mein altes Zimmer habe ich behalten. Als ich es betrete, macht sich ein Glücksgefühl in mir breit, ich fühle mich wie ein fünfjähriges Kind, dass sich auf Süßigkeiten freut.
Mein breites Bett steht direkt neben der kleinen Kleiderkommode. Das Dachbodenfenster lässt die goldene Nachmittagssonne auf den weißen Bettlaken glitzern.
Ich seufze und stelle meinen Rucksack ab. Die Kleider in die Kommode einzuräumen ist unnötig, weshalb ich einfach nur meine Jogginghose, einen dunkelroten Pulli und schwarze Kuschelsocken aus dem Rucksack fische und ihn anschließend unter mein Bett schiebe.
Bevor ich mit meinen bequemen Klamotten wieder nach unten gehe, binde ich mir meine Haare zu einem Zopf zusammen und wasche mir die wenige Maskara von den Wimpern ab.
„Also. Was machen wir jetzt?", frage ich schließlich, als ich mich neben Jonathan an den Küchentisch gesetzt habe. Er betrachtet mich kurz und zuckt mit den Schultern.
„Komm schon", sage ich nörgelnd zu meinem 24- jährigen Fast - Schwager.
„Wann kommen Nora und Louis zurück?", frage ich und Jonathan dreht sich grinsend zu mir. „Tja...das Fest dauert bis abends. Also muss Nora wohl bis abends zu Kindermusik tanzen."
Ich schüttele mich vor Lachen, während ich sie mir mitten unter Kleinkindern vorstelle.
„Wie geht es dir so?", fragt Jonathan schließlich und sieht mir ernst in die Augen.
Meine Seele flüstert wieder, streckt sich nach Jonathan, doch ich ziehe sie zurück. Mein Lachen ist wie weggewischt. Der Druck zerrt an meinen Nerven und ich verspüre Müdigkeit.
Es scheint, als würde auf einmal die ganze Last auf mich niedersacken, mich auf den Boden drücken.
Zeig ihm die Wahrheit, zeige ihm alles, zeige ihm...
„Eileen?" Jonathans Augen schimmern nervös, als ich meinen Kopf erschöpft auf dem Küchentisch ablege und versuche regelmäßig zu atmen. Ich nehme seine Worte nur von Weitem wahr, denn meine Seele hat sich in mir breit gemacht, jeden Gedanken besetzt.
Wer bin ich? Was mache ich gerade?
Ich spüre Jonathans kalte Hand auf meiner Stirn.
„Los, ich bringe dich zu dir ins Zimmer. Du brauchst jetzt Ruhe", sagt Jonathan, ich höre Bedauern in seiner Stimme.
Ich bringe ein Nicken zu Stande und erhebe mich. Meine Gelenke fühlen sich alt und schwach und mein Kopf wiegt schwer auf meinen Schultern.
Jonathan legt seinen Arm unter meine Schultern und stützt mich, während wir langsam die Wendeltreppe hochgehen.
„Was ist nur los?", fragt er, eher zu sich selbst, weshalb ich schweige. Er darf nie erfahren, was wirklich los ist. Er öffnet die Tür und legt mich sanft auf dem Bett ab. Die weiche Matratze schmiegt sich an meinen Rücken und ich seufze.
Er setzt sich auf die Bettkante und blickt mich an.
Meine Seele sehnt sich immer noch nach seiner, sie schreit in meinem Kopf, auch, wenn ich eigentlich will, dass er noch hier bleibt.
„Kannst du...", entfährt es mir, heiser und kratzig. „Bitte rausgehen?"
Bittend und müde sehe ihm in die Augen, die ein wenig enttäuscht aussehen. Natürlich ist er enttäuscht, er muss jetzt bis Abends alleine unten sitzen. Entschuldigend greife ich nach seiner Hand und drücke sie leicht.
Er lächelt ein wenig und streicht mir über die Wade. Es fühlt sich gut an. „Los, schlaf ein bisschen!", meint er mit einem warmen Lächeln, bei dem seine Wangengrübchen zum Vorschein kommen. Überrascht über mich selber, ziehe ich meinen Fuß unter seiner Hand weg und kuschele mich in die Decke.
Ohne Jonathan zu sehen, spüre ich, wie der Druck seiner Seele nachlässt, was bedeuten muss, dass er runtergeht.
Entspannt schließe ich die Augen und atme gleichmäßig ein und aus. Der rhythmische Schlag meines Herzens pulsiert regelmäßig in meiner Brust und ich spüre die Müdigkeit der ganzen Arbeitswoche auf mir niedersacken.
Wie soll ich das durchhalten?
Wie soll ich so ein Leben überstehen?
Wie?
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