Kᴀᴘɪᴛᴇʟ 19
Fassungslos erwidere ich Julietts Blick. Langsam schweifen meine Augen zu David, der bewegungslos hinter seiner Kameradin steht und jede meiner Bewegungen mustert. Seine Augen verraten mir weder, ob Juliett ihre Worte ernst meint, noch, was ich in dieser verdammten Organisation zu suchen habe.
Das kann nicht wahr sein, wieso sollte man mich entführen und danach einfach töten, wenn man mich auch für irgendwelche illegalen Machenschaften nutzen kann? Das ist bestimmt einfach eine von Julietts typischen Morddrohungen, die sie mir immer entgegen schmeißt. Doch Juliett grinst nicht abwertend und David verdreht nicht genervt die Augen wie sie es immer tun, wenn Juliett mir erzählt, dass sie mich eines Tages töten will. Stattdessen ruhen ihre kalte Augen auf mir und warten auf eine Reaktion meinerseits.
Und plötzlich wird mir bewusst, was das bedeutet.
Juliett hat soeben die Wahrheit gesprochen. Die Wahrheit, die alle Menschen so hassen, die Wahrheit, die einfach nur verletzt. Nun bin auch ich ein Opfer dieser Wahrheit, die meine Seele immer so hoch gelobt hat. Nun merke auch ich, wie ekelhaft und schmerzhaft wahre Worte sein können, wenn sie jede Hoffnung wie Porzellan zerbersten und ihren Weg in meine Seele suchen.
„Jetzt hast du deine Wahrheit", sagt Juliett leise, während sich eine Leere in mir ausbreitet. "Jetzt siehst du, wie sehr die Wahrheit schmerzt." Ohne weiteres dreht sie sich um und raunt David ein paar Worte zu, ehe sie durch den leeren Korridor tritt. Jeder ihrer Schritte auf dem kalten Steinboden lassen alles in mir erbeben.
Ich kann es nicht fassen. Ich werde sterben. Sie wollen mich töten.
Ein Rauschen in meinen Ohren übertönt das Schluchzen, das meinem Mund entspringt. Ich kann doch noch nicht sterben, ich bin doch noch jung. Weitere Schluchzer hallen durch den Korridor, doch meine Auge bleiben trocken. Und kalt. Und leer. Sie tun nichts weiter, als in Davids angespanntem Gesicht nach einem Hauch von Mitgefühl zu suchen. Doch auch seine Augen werden von einer Kälte durchzogen, obwohl sie neulich noch so warm im Sonnenuntergang gestrahlt haben. Das ist jetzt vorbei. Denn er gehört zu den Leuten, die mich ermorden wollen.
Als David auf mich zu tritt, um mich zu meinem Zimmer zu führen, will ich schreien. Ich will mich losreißen, zu der großen Eingangstür stürmen und ins Freie gelangen. Ich will dort hinaus und leben.
Doch ich kann nicht. Meine Beine sind wie festgenagelt, meine Hand lässt sich von David durch den Gang leiten und kein einziges Wort des Widerstands löst sich aus meiner Kehle. Ich fühle mich leer, als wäre ich nur die Hülle meiner selbst. Es erinnert mich an den Tag, an dem ich erfahren habe, dass meine Adoptivmutter sterben würde. Ich weiß noch, wie seltsam ich mich gefühlt habe. Nicht traurig oder ängstlich, ich habe damals auch nicht geweint. Nein, ich konnte es einfach nicht glauben. Es war zu skurril, um wahr zu sein. Surreal. Selbst Monate nach ihrem Tod habe ich abends auf dem Sofa gesessen und darauf gewartet, dass sie endlich nach Hause kommt. Doch sie kam nie.
Der Satz „Ich sterbe bald" ergibt in meinem Kopf keinen Sinn, die Bedeutung will sich einfach nicht zeigen. Oder vielleicht bin ich es auch, die diese Bedeutung nicht wahr haben will. Und Nora? Was zur Hölle geschieht mit Nora?
Ich will David fragen, doch die Frage bleibt mir im Hals stecken. Nein. Ich möchte nicht mit meinen Mördern reden. Ich hasse sie. Ich hasse diese Menschen, jeden einzelnen von ihnen. Ich hasse Juliett, ich hasse David, ich hasse Steve, den Arzt, den Chef und alle anderen. Ja, ich hasse sogar die andere Seelenleserin, denn sie ist diejenige, die der Organisation verraten hat, dass David als Waffe gegen mich verwendet werden kann. Ich hasse alles und jeden. Denn ich will nicht sterben. Ich werde nicht sterben.
David öffnet die Tür meines Zimmers, an dem wir inzwischen angekommen sind, und schiebt mich in das Innere. Die Wände scheinen noch farbloser und karger als zuvor zu sein, die hellgraue Tapete bemitleidet mich mit ihrer tristen Eintönigkeit. Mit zitternden Knien trete ich ans Bett, doch kann mich nicht dazu überwinden, mich auf ihm niederzulassen. Wie kann ich jetzt ruhig bleiben, wenn ich weiß, dass ich umgebracht werden soll? Wie verdammt nochmal verhält man sich in solch einer Situation.
Ich fühle mich unglaublich machtlos, denn ich bin nicht in der Lage meine Situation zu beeinflussen. Ich bin hier gefangen, ich bin hilflos. Ich kann nichts anders tun, als dazusitzen und der Zeit dabei zuzusehen, wie sie verstreicht. Sekunde für Sekunde.
Mit panischen Augen fahre ich herum und blicke zu David, der immer noch im Türrahmen steht.
„Es ist wahr, oder? Euer Chef hat sich entschieden, mich zu töten, oder?", frage ich leise, um einem winzigen Funken von Hoffnung in mir, noch die Möglichkeit zu geben, sich zu beweisen. Doch ich weiß bereits die Antwort. Ich werde sterben.
„Ja, es ist wahr."
„Und wann?" Meine Stimme ist kratzig und mein Atem laut und unregelmäßig. Ich will es nicht wissen. Aber irgendwie auch schon.
„Das weiß ich nicht", meint David schließlich nach einer längeren Sprechpause, in der wir uns lediglich mit Blicken durchbohrt haben. Davids Worte wirken ehrlich, doch wer weiß. Die ganze Welt besteht nur noch aus Lügnern. Aus Betrügern und Lügnern. Also wieso sollte ich ihm vertrauen? Vielleicht weiß er ganz genau, wann er mich umbringen soll und verschweigt es mir. Es wäre nicht das erste Mal, dass er mich dreist belügt.
Mit knirschenden Zähnen mache ich einen Schritt auf ihn zu, ich weiß selber nicht wieso. Wahrscheinlich in der Hoffnung, ihn bewusstlos zu schlagen, sodass ich fliehen kann. Doch dieser Plan ist absurd. Denn ich weiß zum einen nicht, wo sich Nora befindet und ohne sie würde ich niemals fliehen, zum anderen, habe ich keine Chance gegen David, denn ohne meinen Degen bin ich machtlos gegenüber Davids definiertem Körper.
Ungesagte Worte schwirren durch die angespannte Stille, in der ich es nicht wage, auch nur einen weiteren Schritt näher an David zu kommen. Was habe ich schon zu verlieren? Ich muss diesen Moment mit David nutzen, um an Informationen zu gelangen, da dies vielleicht mein letztes Gespräch mit ihm sein könnte.
„Ich weiß über sie Bescheid", sage ich und betone dabei das Wort "sie", sodass David bewusst sein muss, von wem ich da spreche. Er verzieht keine Miene.
„Ich weiß ganz genau, wer sie ist, denn sie hat es mir verraten", fahre ich unbeirrt fort und meine, ein Zucken in Davids Gesichtszügen zu bemerken. Triumphierend hebe ich mein Kinn, um den Blickkontakt zu den nichtssagenden, von Dunkelheit umwobenen Augen nicht zu unterbrechen. „Willst du wissen, wie sie es mir verraten hat?", frage ich, woraufhin sich Davids Mundwinkel ein wenig heben.
„Du bist eine schlechte Schauspielerin, Eileen", meint er. „Ich weiß ganz genau, worauf du hinaus willst. Und meine Antwort lautet: Nein, ich werde dir im Gegenzug nichts verraten."
Ich öffne meinen Mund, doch ich weiß nicht, was ich sagen soll. Kein einziges schlagfertiges Wort, das ich ihm vielleicht normalerweise entgegen geworfen hätte, schafft es, meinen Lippen zu entschlüpfen. Denn jetzt geht es um mein Leben. Hoffnungslosigkeit prasselt auf mich ein wie tausende, kalte Hagelkörner. Sie pressen mein Herz zusammen und bilden Tränen in meinen Augen, die es jedoch nicht schaffen, sich ihren Weg über meine Wangen zu bahnen. Dieses giftige Gefühl der Verbitterung sitzt zu tief in mir, als dass es an die Oberfläche gelangen könnte.
Mit einem dumpfen Geräusch lasse ich mich auf meinem Bett nieder.
„Was geschieht mit meiner Schwester?", frage ich, so leise, dass man es nicht mal mehr als Flüstern betiteln kann. Doch das ist jetzt egal. Ich muss keine Stärke mehr zeigen, ich muss nicht mehr die einschüchternde Seelenleserin spielen, die alles zerstört, was ihr in den Weg kommt. Ich muss nur noch ich selber sein. Eine klägliche, elende Hülle.
Als David nicht antwortet, hebe ich den Blick. „Bitte, sag es mir. Meine Schwester ist die Einzige auf dieser Welt, die ich liebe. Sie verdient das alles nicht." Ich presse meine Lippen aufeinander, während Davids dunkelbraune Augen auf mir ruhen. „Verstehst du das nicht, David?", flüstere ich. „Deine Mutter, du liebst sie doch, nicht wahr? Stell dir vor, du wüsstest nicht, ob sie leben oder sterben wird. Stell dir vor, du dürftest nicht einmal diese eine Sache wissen, bevor du stirbst. Es ... ich..." Meine Stimme bricht und meine Sicht flimmert im matten Licht.
„Ich weiß nicht, ob ich meine Mutter liebe", erwidert David, ohne mich auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen. Seine große, dunkel gekleidete Gestalt steht immer noch im Türrahmen.
Ich habe nicht einmal die Kraft und Motivation, die Stirn zu runzeln oder David um eine Erklärung zu bitten. Stattdessen blicke ich ihn mit einem leeren Blick an, in der Hoffnung, dass er seine Worte begründet.
„Ich...", beginnt David und hält kurz inne, um nach den richtigen Worten zu suchen. „Ich habe dir ja schon einmal erzählt, dass ich einen Gehirntumor hatte und dabei den Großteil meines Gedächtnisses verloren habe. Dabei habe ich auch die Erinnerungen an meine Mutter verloren. Nachdem ich dank dieser Organisation geheilt wurde, ist sie fortgegangen, während ich...hier geblieben bin, um für die Organisation zu arbeiten. Somit erinnere ich mich nicht an sie."
Meine Seele regt sich und schlängelt sich in meinem Inneren. Sie spürt die Verletzlichkeit, sie spürt Angriffsfläche. „Aber wieso?", frage ich heiser. „Wieso bist du nicht mit deiner Mutter mitgegangen? Wieso bist du nicht mit der Person, die dich liebt, fortgegangen, anstatt für eine kriminelle Organisation zu arbeiten?"
Davids Blick wird abwesend und versinkt in der Ferne. „Ich kannte sie nicht mehr. Und meine Mutter erkannte mich auch nicht wieder. Ich war wie ein neuer Mensch – und das konnte sie nicht ertragen." Normalerweise hätte ich jetzt tiefstes Mitgefühl verspürt, doch meine Gefühlslosigkeit hat jeden Funken Empathie in mir gelähmt. Wie soll mir jemand Leid tun, der ohne mit der Wimper zu zucken, meinen Tod will.
Denn das ist es doch, was David schon immer wollte, nicht? Ich war schon immer ein Monster in seinen Augen.
„Weißt du, ich erinnere mich auch nicht mehr an meine Mutter", sage ich gedankenverloren. „Sie starb hier in diesem Haus an einem Gehirntumor." Ich fokussiere meinen Blick wieder auf David und lächle gequält. „Deinen Tumor konnte die Organisation heilen, doch den meiner Mutter nicht."
Davids starrer Blick scheint ein wenig weicher zu werden. „Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich tief in mir noch eine Erinnerung an sie habe. Sie können doch nicht alle fort sein, oder? Da muss doch noch irgendetwas sein, nicht?" Die Art und Weise, wie David diese Worte ausspricht, lässt meine Seele noch sehnsüchtiger, noch angezogener werden.
Er ist verletzlich, er ist ein Mensch. Und, wenn ich es schaffe in seine Seele zu schlüpfen, ganz vorsichtig und sanft, dann habe ich endlich das, was ich immer wollte: Zugang zu seiner dunklen, eingesperrten Seele.
„Ich bin mir sicher, dass da noch irgendeine Erinnerung ist", meine ich und halte meine Seele zurück. Ich könnte ihn jetzt vielleicht überwältigen, ihn mit einem Angriff aus seine Seele überraschen, was er niemals erwarten würde. Doch was würde es mir bringen? Ich würde dieses Haus niemals lebend und mit Nora verlassen. Ich werde meine Liste an Sünden nicht verlängern, ich werde David nicht noch mehr Gründe geben, mich zu hassen.
Aber stell dir mal vor, du würdest seine tiefsten Geheimnisse erfahren. Sie sind zum ersten Mal nicht geschützt, also wieso solltest du die Chance nicht nutzen?
Nein. Das werde ich nicht tun. Wenn ich wirklich bald sterbe, dann möchte ich vor meinem Tod keiner einziger Seele mehr Schmerzen zufügen.
Aber du willst leben. Ohne mich bist du nichts, ich gebe dir das Gefühl von Leben. Ich gebe dir all das.
„Die Erinnerungen an deine Mutter sind nicht fort. Sie sind hier drin." Ich deute auf mein Herz. „Du musst sie bloß aufwecken." Davids Blick ist undefinierbar.
„Und wie wecke ich sie auf?", fragt er ungewöhnlich leise.
Sanft und leise strömt meine Seele aus mir hinaus, während sie leise Worte flüstert, die nur ich zu hören vermag. Mein Herz scheint auszusetzen, ich kann bloß atemlos dabei zusehen, wie sich meine Seele einen Weg zu David bahnt.
Doch dieses Mal ist es anders.
Denn auch, wenn meine Seele frei, durch den Instinkt getrieben, auf David zu strömt, kann ich ihre Gier festhalten. Ich kann die Sehnsucht in ihr kontrollieren und sie wie an einem seidenen Band leiten.
Als sie Davids Seele vorsichtig berührt, vernehme ich ein Zucken in seinem Gesicht. Seine Augen verengen sich misstrauisch und meine Seele weicht ein Stück vor der erneuten Dunkelheit zurück.
„Ich kann sie aufwecken", sage ich, ohne den Blick von David zu nehmen. „Ich kann deine Erinnerungen aus ihrem Schlaf erwecken, sodass du wieder weißt, wie es ist, zu fühlen." Die Stille scheint nur von meinem dumpfen Herzschlag und dem Klopfen des Windes an der Fensterscheibe, erfüllt zu sein.
„Darf ich?", frage ich zaghaft. Denn ich will helfen. Ich will meine Seele einmal in meinem verdammten Leben für etwas Gutes nutzen. Mir war nie bewusst, dass das überhaupt möglich ist, dass meine gierige, grausame Seele in der Lage ist, Gefühle zu verspüren.
David antwortet nicht. Doch seine Gefühlswelt entspannt sich. Er zeigt sie, lässt sie durch die Dunkelheit hindurch leuchten und öffnet sie für mich. Langsam schwebt meine Seele wieder auf Seine zu und berührt sie leicht. Dieses Mal zuckt er nicht zusammen, sondern betrachtet mich nur mit seinem unscheinbaren Blick.
Ich mache ein paar Schritte auf ihn zu.
„Ich will, dass du die Erinnerungen wieder bekommst. Dass du wieder weißt, wie es war, bevor du sie verloren hast. Denn sie sind noch tief in dir." Meine Seele strömt wie ein Fluss in seine Gedankenwelt. Doch nicht wie ein gieriger, gnadenloser Fluss. Nein, sie plätschert sanft, in Form eines friedlichen Baches, in seine Seele. Sie schmiegt sich zwischen seine Erinnerungen, streicht über seine Gefühle, erwärmt seine Gedanken und zähmt seine Ängste.
Meine Seele ist so viel mehr als sie scheint.
Ich spüre die Erinnerungen in David, wie sie leise und unauffällig aus ihrem Schlummer erwachen und sich wieder in seinem Gedächtnis einnisten. Schöne Erinnerungen, die Sonnenstrahlen und die Umarmung seiner Mutter enthalten. Erinnerungen, in denen er frei über das Feld läuft, in denen er von seiner Zukunft träumt, die so viel mehr als das hier ist. Erinnerungen über Erinnerungen.
Doch ich lasse nicht zu, dass meine Seele sich in seinen Schmerz hineinfrisst und seine lang vergessenen Ängste wieder ausgräbt. Nein, ich zeige nur die schönsten Momente, nur die Momente, an die man mit einem Lächeln zurückdenkt.
Denn was würde es bringen, wenn ich die komplette Wahrheit zeigen würde? Wenn ich die schmerzhaftesten Erinnerungen wieder aufflammen lassen würde, nur um der Wahrheit Willen.
Meine Seele wollte in meinem ganzen Leben nur eines. Die Wahrheit. Doch sie hat nie begriffen, dass die Wahrheit nicht der Schmerz ist, den wir vergessen wollen, dass sie nicht die Angst ist, die in unseren Köpfen schlummert. Denn das alles ist schon vergangen. Das alles würde uns nur daran hindern, zu leben.
Die Wahrheit ist das, was uns die Kraft gibt, weiterzumachen und niemals aufzugeben. Das, was unsere Entscheidungen bestärkt und uns die Möglichkeit gibt, eine Situation einzuschätzen.
Die Wahrheit ist das, was wir brauchen, um wirklich zu leben.
Meine Hände zittern. Kindheitserinnerungen von David flammen in mir auf, doch ich stehle sie nicht. Ich sehe sie nur kurz, sie ziehen so schnell an mir vorbei, als wären sie die Seiten eines Buches, das rasch durchgeblättert wird.
Davids Augen sind aufgerissen und widerspiegeln all das, was in ihm vorgeht. Bilder, Gerüche und Worte hallen in seinem Kopf, scheinen ihm die Wahrheit zu zeigen. Die echte Wahrheit. Die Wahrheit, die nicht mit Schmerz zusammenhängt.
Vorsichtig bette ich die Erinnerungen wieder in seine Seele ein, so vorsichtig, als wären sie aus Porzellan. Meine Seele zieht sich unbemerkt zurück und verbirgt sich wieder flüsternd in meinem Inneren.
Mein Blick ruht auf David, der auf einmal sehr nah bei mir steht.
Ich weiß nicht, wie lange wir schon dastehen und unseren Atemzügen lauschen, als David sich leicht vorbeugt. Er scheint etwas sagen zu wollen, doch seine Lippen formen keine Worte. Stattdessen berühren sie die Meinen leicht.
Tausende Feuerwerke scheinen in meinem Herz zu explodieren. Meine Gedanken sind vernebelt, wissen nicht, was gerade geschieht. Alles verschwimmt vor meinen Augen.
Davids Lippen schmecken süß und ich stelle fest, dass ich meine Arme um seinen Körper geschlungen habe. Ich weiß nicht, was ich tue. Ich weiß nicht, wieso ich es tue. So, wie ich auch bei Jonathan nicht wusste, was ich getan habe. Doch jetzt ist es anders.
Ich bin nicht betrunken. Ich küsse ihn nicht rein aus Schmerz, nicht, weil ich meine Trauer vergessen will.
Ich küsse ihn, weil es meine Entscheidung ist.
Weil es mir, obwohl alles darauf hinweist, dass es falsch ist, so unglaublich richtig erscheint.
„Danke, Eileen", flüstert David ganz leise in unseren Kuss hinein und streicht leicht über meine Wange, während mein Herz immer noch rast. Seine Arme halten mich, drücken mich fest an ihn, sodass ich seinen Herzschlag dumpf in seiner Brust vernehme.
Seine Augen sind von Dunkelheit umgeben, doch in ihnen scheint alles zu leuchten.
„Du bist kein Monster", sagt David, als er mich ein paar Sekunden anblickt. „Hast du gesehen, was du gerade getan hast?" Seine Augen glitzern leicht im matten Licht und ein ehrliches Lächeln erscheint auf seinen Lippen.
Ich kann nichts erwidern, denn meine Lippen sehnen sich nach einem Kuss. Und noch einem. Und noch einem.
Ich fühle mich betäubt und lebendig zugleich, seine Augen ziehen mich an und seine Worte erhellen meine Gedanken. Bilder von ihm, wie er vor wenigen Tagen den Sonnenuntergang betrachtet haben, flammen in mir auf. Ich fühle mich frei, so frei, als hätte ich noch ein ganzes Leben vor mir.
Ein letztes Mal drückt er seine Lippen auf Meine, ehe er sich vorsichtig von mir löst. Doch obwohl seine Hände mich nicht mehr umschlingen, hält mich sein Blick noch wie gebannt fest. Wie verzaubert sehe ich ihn an. Meine wahrscheinlich geröteten Wangen glühen, als ich immer noch wie festgewachsen mitten im winzigen Raum stehe.
Als mir plötzlich ein Gedanke in den Kopf schießt, schießt mein Blick zu der Kamera an der Decke, über die ich neulich mit dem Chef kommuniziert habe. Entgeistert male ich mir aus, was sich dieser gerade denkt, jetzt, wo er gesehen hat, dass ich meinen Entführer küsse.
Meinen Entführer. Ich muss unwillkürlich schlucken.
David, dessen Blick mir gefolgt ist, hebt beruhigend seine Mundwinkel. „Die Kameras sind aus. Der Chef hat sie bereits ausgeschaltet, da du ja bald nicht mehr...“ Er beendet den Satz nicht, doch ich weiß, was er meint. Ich schließe kurz die Augen und atme tief durch, um mich zu sammeln.
„Wieso sollte ich dir glauben, dass du nicht wieder lügst?“, frage ich und versuche den panischen Ton in meiner Stimme zu verbergen. „Du hast schon einmal gelogen. Was, wenn du das gerade nur getan hast, um...“ Ich presse meine Lippen aufeinander und verberge meine zittrigen Hände hinter meinem Rücken. Keine Schwäche.
„Immer noch so misstrauisch wie eh und je, wie ich sehe“, sagt David mit einem amüsierten Leuchten in den Augen. „Ich weiß es fällt dir schwer, Menschen zu vertrauen, Eileen. Vor allem hier in dieser...Organisation.“ Er schluckt und fährt sich durch die dunklen Haare. „Aber Eileen. Bitte. Vertraust du mir?“ Seine Stimme klingt weich, beinahe schon flehend.
Seine Augen ruhen wartend auf mir, beobachten jede meiner nervösen Bewegungen.
Nein! Ich vertraue dir nicht!, will alles in mir rufen. Ich blicke in seine Augen. Sie schimmern wie funkelnde Sterne.
„Ja“, antworte ich.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro