Kᴀᴘɪᴛᴇʟ 15
Mein Herzschlag ist unglaublich schnell, als die Arztmitarbeiterin den Raum mit gesenktem Kopf und einem an die Brust gedrückten Klemmbrett betritt und mir zu nickt. „Bitte folgen Sie mir, Miss", sagt sie mit einer zittrigen, schwachen Stimme und wartet im Türrahmen auf mich. Atemlos und mit rasendem Puls trete ich hinter ihr durch die Tür.
Jetzt erfülle ich gleich meinen „Zweck", von dem der Chef gestern gesprochen hat. Jetzt werde ich gleich erfahren, was der Grund für meine Entführung ist. Es hat ziemlich sicher etwas mit meiner Seele zu tun. Aber was?
Unruhig regt sich meine Seele in mir und räkelt sich nach der Arzthilfe, die mir mit zügigen Schritten voraus eilt. Augenblicklich wünsche ich mir, dass David hier wäre, denn er könnte meine Seele und meine Gedanken beruhigen. Ein Lächeln stiehlt sich auf meine Lippen, als ich an den gestrigen Nachmittag denke. Davids dunkle Augen haben in der untergehenden Sonne gefunkelt und er sah so glücklich und friedlich aus.
Der Gedanke an ihn beruhigt mich, auch wenn er es eigentlich nicht sollte. Denn David ist immer noch mein Entführer. Doch ich schiebe diese Gedanken rasch beiseite, da sie keinesfalls ein gutes Ende nehmen werden.
Beinahe laufe ich in die Arzthelferin hinein, die abrupt vor einer Tür stehen bleibt und ein paar Sekunden vor dieser verharrt. Irritiert blicke ich sie an, doch da hat sie schon ihre Hand gehoben, um anzuklopfen. Einen Moment lang warten wir schweigend auf eine Reaktion, bis dann endlich ein heiseres „herein" erklingt. Mein Puls, der sich gerade eben erst vom Gedanken an David beruhigt hat, schießt wieder in die Höhe.
Mit zitternden Beinen und schwitzigen Händen, die ich fest gegen meinen Körper presse, betrete ich den Raum, als die Arzthelferin plötzlich im Türrahmen stoppt und sich ruckartig zu mir umdreht. Ihre grauen Augen, die den gleichen Farbton wie ihre Haare haben, schimmern sorgenvoll, als sie mich ansieht. Sie hebt warnend ihre Hand, während ich sie nur perplex anstarre.
„Passen Sie auf sich auf, Miss", raunt sie kaum hörbar und will sich umdrehen, doch sie scheint es sich im selben Moment anders zu überlegen. „Ich habe Ihre Mutter behandelt, während sie in Therapie war. Sie war damals mit ihnen schwanger, doch Ihre Mutter wollte sie direkt nach Ihrer Geburt vor ein Waisenhaus legen, da sie nicht wollte, dass Ihr all ihre verletzlichen Momente miterlebt." Die Arzthelferin schluckt und ihr Blick gleitet in die Ferne. „Sie hat immer erzählt, dass sie eines Tages, wenn sie wieder gesund ist, ins Waisenhaus gehen würde, um Sie zu holen und mit Ihnen ans Meer in ein kleines Häuschen zu ziehen."
Atemlos lausche ich ihren Worten, als sie mich plötzlich eindringlich anblickt. „Passen Sie auf sich auf, Miss", wiederholt sie ihre ersten Worte. „Für Ihre Mutter. Sie war eine starke Frau."
Sie wendet sich von mir ab, als hätte sie nie etwas zu mir gesagt, und tritt zielstrebig durch die Tür. Ich verharre eine Sekunde in meiner Position und eine Flut an Gedanken überschwemmt mich. Meine Mutter. Meine Mutter, die ich nie kennengelernt habe. Wieso habe ich nie die Chance bekommen, mit ihr und Nora in einem kleinen Haus am Meer zu leben? Wieso ist das Leben so unfair?
Ich schlucke die aufkommenden Tränen hinunter, während in meinem Kopf ein Bild von Nora aufblitzt. Lachend und mit strahlenden Augen, so wie sie immer aussah. Bis ich sie verletzt habe. Nora. Sie und Louis sind die Einzigen, die mir noch geblieben sind und ich würde alles dafür geben, dass ich sie jetzt sehen könnte.
Mit klopfendem Herzen betrete ich das Zimmer. Auch, wenn ich das Gefühl habe, dass meine Füße gleich einknicken, schaffe ich es überraschenderweise mit stabilen Schritten durch den Türrahmen. Augenblicklich treffen meine Augen auf Davids. Er ist also auch hier. Ich spüre, wie mein Herz ein wenig leichter wird und seine dunklen Augen wie durch Magie meinen Puls besänftigen. Es wird alles gut. Auch meine Seele wird beruhigt sich und zieht sich zurück. Wie immer, wenn David hier ist. Er lehnt mit verschränkten Armen an der Wand. Wie immer trägt er schwarze Klamotten, die seine dunkelbraunen Augen fast schon hell erscheinen lassen.
Ich halte den Blickkontakt mit David so lange es geht, doch irgendwann huschen meine Augen durch den Raum und mustern die anderen anwesenden Personen, die bis jetzt nur geschwiegen haben. Ein hagerer Mann mit einem weißen Kittel lehnt an einer der Wände und durchbohrt mich mit einem Blick, der mir das Blut in den Adern gefrieren lässt. Hinter ihm erkenne ich eine perfekt polierte Glaswand, hinter der ich einen Behandlungsstuhl entdecke.
Mir weicht jegliches Blut aus meinem Kopf und Übelkeit steigt in mir hoch. Ist ... dieser Behandlungsstuhl für mich gedacht ...?
Ein Schaudern durchfährt meinen Körper und ich senke beschämt den Kopf, als ich merke, dass auch die drei Frauen, die scheinbar Krankenschwestern sind, ihre Augen auf mich gerichtet haben. Ich will nicht, dass mich alle in diesem Raum anblicken. Ich will nicht, dass irgendjemand meine Angst sieht. Und vor allem will ich nicht wissen, was jetzt gleich mit mir angestellt wird.
„Was wird hier mit mir gemacht?", schaffe ich es, mit einer halbwegs festen Stimme, hervorzubringen. Die Frage ist hauptsächlich an David gerichtet, weil ich nicht damit rechne, dass mir einer der anderen Anwesenden antwortet. Doch auch David erwidert nichts auf meine Frage, er verzieht nicht mal seine Miene. Seine Schultern spannen sich einen Moment an, sodass seine Muskeln noch mehr hervortreten und ich ertappe mich dabei, wie mein Blick über seine Arme streift.
Ein Räuspern aus der Richtung des Mannes, der vermutlich ein Arzt ist, lässt mich ruckartig zusammenzucken. Augenblicklich löse ich meinen Blick von David und starre den Mann an. Ich fühle mich ertappt, weshalb ich die Hitze in mir hochsteigen spüre. Ich kann mich zwar nicht sehen, doch ich weiß, dass sich gerade eine sanfte Röte auf meinen Wangen bildet.
Ich werfe David einen unauffälligen Blick zu und entdecke doch tatsächlich ein amüsiertes Grinsen auf seinen Lippen, die gerade noch ernst und ausdruckslos gewirkt haben.
Das ist peinlich. Peinlich, peinlich, peinlich.
Als ich mich jedoch wieder an den Arzt wende, vergesse ich die unangenehme Situation sofort. Ich fühle mich dumm, ja so dumm, dass ich mir gerade Sorgen darüber gemacht habe, wie ich vor David und den Ärzten wirke. Das ist gerade mein kleinstes Problem. Der Operationsstuhl und der Arzt – Das sollte mir gerade am meisten Angst machen. Der Rest ist Kleinkram.
Misstrauisch mustere ich den Raum und suche verzweifelt nach einer Fluchtmöglichkeit, die leider nicht existiert. Es muss einen Weg raus geben, oder?
Doch diese Idee verblasst noch im selben Moment, denn sie ist aussichtslos. Selbst wenn ich es irgendwie hier raus schaffe, dann gibt es da noch Nora. Diese Organisation weiß, wo sie wohnt. Sie ist nicht sicher. Wenn ich mir auch nur den kleinsten Fehltritt erlaube, wird sie die Konsequenzen tragen müssen. Das kann ich ihr nicht antun. Ich kann sie nicht noch einmal verletzen.
Langsam hebe ich den Kopf und blicke den Arzt mit leicht erhobenem Kinn an. „Was ist denn jetzt? Was auch immer Ihr hier vorhabt, bitte tut es schnell", meine ich mit kühler Stimme, die so furchtlos klingt, dass ich meine Verwunderung über meinen Mut kaum verbergen kann. Nichtsdestotrotz klopft mein Herz rasend schnell und meine schwitzigen Hände zittern hinter meinem Rücken.
Einen Moment herrscht eine eiserne Stille, die mir fast noch mehr Angst bereitet als der Operationsstuhl selber. Doch ich schaffe es schnell diese Furcht zu zügeln und sie hinter einem selbstsicheren Lächeln zu verbergen.
Auf einmal lacht der Arzt laut auf. Sein Gesicht verzieht sich zu einer seltsamen Grimasse und ich spüre, wie sich in mir neben der Verwirrung auch Ekel ausbreitet. Sein Lachen ist alles andere als sympathisch oder humorvoll, denn es erreicht seine kühlen, unempathischen Augen nicht.
Wieso zur Hölle lacht er? Was ist so lustig daran?
Ich kann anhand von Davids Miene sehen, dass er meine Gedanken teilt, denn er runzelt die Stirn und der Abscheu in seinen Augen ist kaum zu übersehen. Scheinbar nervös streicht er sich über die Schläfe, während er auf seine Armbanduhr blickt.
„Verzeihung, Miss", krächzt der Arzt, immer noch komisch vor sich hin kichernd, und schneidet eine Grimasse. „Der Gesichtsausdruck, den Sie gerade hatten, war bloß so unglaublich witzig, dass ich mich nicht zurückhalten konnte."
Ich presse meine Lippen fest aufeinander und erwidere seinen Blick kalt. „Ja. Das ist wirklich sehr ... amüsant", meine ich trocken und verkneife mir einen weiteren giftigen Kommentar. Ich muss ruhig bleiben.
Einige Sekunden lang starre ich den Doktor nur feindselig an, während er mich mit einem widerwärtigen Ausdruck ansieht.
„Wir sollten jetzt anfangen, Sir", meldet sich nun eine der Krankenschwestern, die bis jetzt nur schweigend gelauscht haben, zu Wort. „Der Chef wird Sie sonst dafür verantwortlich machen, dass David nicht rechtzeitig zu seiner Mission aufbrechen kann." David nickt zustimmend und murmelt etwas Unverständliches, woraufhin der Arzt seine roten, kleinen Augen verdreht.
„Ist ja gut. Wir beginnen ja schon", brummt er sichtlich genervt und nähert sich rasch der Glaswand, hinter der sich der Operationsstuhl befindet. Mit flinken Fingern tippt er etwas in den Bildschirm ein, während sich mein Herzschlag rasch verschnellert. Unauffällig wische ich meine schwitzigen Hände an meiner Hose ab und bete leise, dass es niemand bemerkt. Denn jede Schwäche, die ich zeige, werden sie gegen mich verwenden. Das weiß ich.
Der Arzt grunzt zufrieden und die Glaswand öffnet sich einen Spalt breit, der gerade groß genug ist, dass ich hindurch passe. Mit einem breiten Grinsen dreht sich der Mann zu mir um und deutet mit einer Armbewegung auf die Öffnung. „Nur zu, Miss. Beeilen Sie sich hineinzukommen, wir wollen zeitig beginnen", meint er und ich muss mich zusammenreißen, mein Gesicht nicht voller Ekel zu verziehen. Ohne diesen Mann wirklich lang zu kennen, weiß ich bereits, dass ich ihn nicht ausstehen kann.
Ich will da nicht rein!
Mein Gesichtsausdruck scheint meine Gedanken zu widerspiegeln, denn der Arzt grinst noch breiter, als er merkt, dass ich nicht vorhabe in den Glasraum zu treten. Mit zittrigen Knien bleibe ich stehen, ohne mich auch nur einen Zentimeter von der Stelle zu bewegen. Ich will nicht. Ich will nicht.
Ich sehe im Augenwinkel, wie sich Davids Körper anspannt, doch nichts und niemand kann mich von meiner Entschlossenheit abbringen.
„Der Chef hat mir bereits mitgeteilt, dass Sie wahrscheinlich sehr stur sein und sich weigern werden, den Operationsraum zu betreten", erklärt mir der Arzt wissend und meine Augen verschmälern sich. Was will er? Und was verdammt nochmal hat er vor?
Mein verwirrter Gesichtsausdruck scheint ihn zu amüsieren, denn er lacht noch einmal und bedeutet einer Krankenschwester die Zimmertür zu öffnen. „Deshalb hat der Chef eine Maßnahme ergriffen, um dich aus deiner Angststarre zu lösen. Sieh es als ... Motivation."
Mit einem seiner knochigen Finger deutet er auf die Tür hinter mich, die soeben von einer der Krankenschwestern geöffnet wurde. Ich werfe David einen kurzen, nervösen Blick zu und muss beunruhigt feststellen, dass seine Augen nervös auffunkeln.
Mit einem Ruck drehe ich mich um und mache mich auf alles gefasst. Ich ignoriere den ekelerregenden Blick des Arztes und konzentriere mich einzig und allein auf die zwei maskierten Männer, die eine dritte Person durch den Türrahmen zerren.
Meine Seele will schreien, will ihrer Gefangenschaft entfliehen und all die bösen Seelen in diesem Raum zerbrechen, doch Davids Seele hält mich unter Kontrolle, lässt nicht zu, dass ich irgendjemandem auch nur ein Haar krümme.
Meine Augen verharren auf der Person, die von den zwei Maskierten flankiert wird. Blaue Flecken, Blutergüsse und eine Platzwunde zieren ihr Gesicht, sodass ich sie beinahe nicht erkennen kann. Doch dann überflutet mich eine Welle der Erkenntnis, die mich nach Luft schnappen lässt.
„Na, Miss Walker?", meint der Arzt hinter mir und ich kann sein abscheuliches Grinsen förmlich hören. „Haben Sie jetzt Interesse daran meine Anweisungen zu befolgen? Oder brauchen Sie noch einen Motivationsschub?"
Meine Augen sind weit aufgerissen, voller Unglauben.
„Was ...", stammele ich, doch ich weiß nicht, was ich fragen will. Ich kann nichts anderes tun als die Person anzusehen. Hohe Wangenknochen. Schöne Augen.
Ich will so viel sagen. So viel.
Und doch bringe ich nur ein Wort über meine trockenen Lippen:
„Nora."
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