Kapitel 4: Spitznamen
Wir saßen alle zusammen in Kaminaris kleinem Zimmer. Besser gesagt, Mina, Sero, Kaminari und ich saßen auf dem Teppich beieinander, während Zero sich auf dem Bett breit gemacht hatte und sich nicht sonderlich am Geschehen beteiligte. Ich musste zugeben, dass ich die Gesellschaft regelrecht genoss. Ich war nicht sonderlich selbstbewusst und hatte gar nicht erwartet hier so schnell Anschluss zu finden. Auch wenn ich Kaminari nur dadurch kennengelernt hatte, dass ich ihm meine Tür ins Gesicht geschlagen hatte.
Aber Kaminari wirkte auf mich wie ein ziemlich cooler Typ, wenn auch manchmal ein wenig verplant. Das erkannte man vor allem daran, dass er haufenweise abstruser Geschichten auf Lager hatte, von denen ich mir sicher war, dass sie niemand anderem auf dieselbe Weise passiert wären.
Mina war von der gleichen Frohnatur, auch wenn sich ihre Geschichten eher um Klatsch und Gerüchte drehten. Man musste ihr jedoch zugutehalten, dass sie darauf achtete mit ihren wilden Spekulationen niemanden zu verletzten. Ein Balanceakt, den ich zuvor bei keinem anderen auf diese Art ausgeprägt gesehen hatte.
Sero schien auf den ersten Blick ziemlich unauffällig zwischen den beiden anderen und vielleicht wäre er daher leicht zu übersehen. Aber Sero war aufgeweckt und manchmal ziemlich witzig. Schnell fing ich an zu mögen, wie er es schaffte mit einem einzigen klugen sarkastischen Kommentar Kaminaris Redefluss und ausufernde Erzählungen in die Schranken zu weisen.
In der Gesellschaft meiner neuen Freunde begann ich mich ziemlich schnell zu entspannen und fing auch an von mir zu erzählen. Das Gespräch, das ich zuvor mit Zero geführt hatte, rückte für mich nach und nach in den Hintergrund. Doch augenblicklich erinnerte ich mich wieder daran zurück, als Sero seine Jacke auszog und mir nur noch im T-Shirt gegenübersaß. Denn in dem Moment war sein elektronisches Tattoo mehr als deutlich zu sehen.
Eine Neun war darauf vermerkt. Eine ganz gewöhnliche Zahl in unserem Alter, aber dennoch begann ich im Stillen wieder über Katsuki, meine Zukunftstage und meine Mission nachzugrübeln. Unauffällig versuchte ich nun einen Blick auf die Tattoos der anderen zu werfen. Bei Mina erhaschte ich eine Elf und bei Kaminari ... Ich versuchte mehrere Male auf sein Handgelenk zu spähen und dachte zuerst, dass der Blickwinkel nicht stimmen würde und ich das Tattoo deshalb nicht lesen konnte. Aber als er sich nach einem von Seros scherzhaften Kommentaren verlegen am Hinterkopf kratzte, wurde eines deutlich: Kaminari war gar nicht beim ZRP registriert. Er besaß keine Zukunftstage.
Ein wenig nervös umfasste ich den Saum meines Langarm-Shirts und bedeckte so mein eigenes Handgelenk. Zu gern hätte ich Kaminari danach gefragt, aber ich tat es nicht. Das hätte nur zur Folge gehabt, dass wir uns über Seelensprünge unterhalten würden. Und auch ohne Zeros Kommentar von vorhin war ich mir bewusst, dass ich nach Möglichkeit nicht zu viel Aufmerksamkeit auf meine Zukunftstage lenken sollte.
Ein Prickeln im Nacken ließ mich den Kopf zur Seite drehen, nur damit ich unmittelbar in Zero scharfe rötliche Augen sehen konnte. Er hatte mich bei meiner Geste beobachtet, soviel war klar. Denn er blickte kurz auf den Saum meines Shirts und warf mir dann einen nachdenklichen Blick zu. Jedenfalls interpretierte ich ihn so, eigentlich hatte er die Stirn gerunzelt und durchbohrte mich geradezu mit seinem Blick, als wäre ich ein Rätsel, dass er zu entschlüsseln versuchte.
Ich lächelte ihm etwas eingeschüchtert zu und wandte meinen Blick dann wieder ab. Doch ich spürte, dass seine Augen weiterhin auf mir ruhten und das machte mich nervös. Er würde das Thema doch nicht vor den anderen ansprechen, oder?
Doch Zeros Kommentare beschränkten sich den ganzen Abend auf Kleinigkeiten. Einzelne beißend zynische Bemerkungen, die man als unhöflich bis geradezu unverschämt einstufen konnte, und die sich meistens gegen Kaminari richteten. Doch dieser tat es wie alle anderen mit einem Lachen ab. Anscheinend war das nichts Ungewöhnliches.
Doch der Abend neigte sich dem Ende zu und Zero war der erste, der wortlos einfach entschloss zu gehen. Etwas verwirrt blickte auf, die anderen winkten ihm stumm hinterher. So wie es aussah, war sein Abgang genauso ritualisiert wie seine rüden Kommentare. Die Tür schloss sich ein wenig zu laut hinter ihm, als er sie ins Schloss zog.
Dann jedoch konnte ich nicht länger stillsitzen. Wenn ich mich beeilen würde, könnte ich Zero vielleicht noch einholen und ihn fragen, was er mir vorhin über das ZRP erzählen wollte.
„Sorry Leute, ich glaube ich sollte auch langsam gehen", sagte ich verlegen, stand auf und streckte mich.
„Neeeein", beschwerte sich Mina. „Es ist doch gerade einmal neun!"
„Ich habe wieder eine frühe Vorlesung morgen und ich hatte letzte Nacht nicht gerade viel Schlaf", lachte ich und sah sie bedeutungsvoll an. Es war nicht unbedingt gelogen, aber auch wenn ich nicht viel Schlaf gefunden hatte, könnte ich dennoch jetzt nicht ins Bett gehen. Aber ich sah das schlechte Gewissen in ihren Gesichtern, als ich die letzte Nacht erwähnte und keiner beschwerte sich mehr, als ich ihnen alle eine gute Nacht wünschte und dann ebenfalls das Zimmer verließ.
Kurz atmete ich durch, als ich Kaminaris Tür hinter mir schloss. Dann hob ich den Blick, um nach Zero ausschauzuhalten und zuckte erschrocken zusammen.
Er hatte sich an die Wand neben der Tür gelehnt, die Arme verschränkt. „Hat dich ja ne fucking Ewigkeit gekostet", sagte er genervt und steuerte meine Tür an.
Wie paralysiert folgte ich ihm und öffnete meine Tür. Zero ging zuerst hinein und als ich etwas verwirrt die Tür hinter mir schloss, hatte er sich schon auf meinem Bett breit gemacht. Zwar hatte ich vorgehabt Zero einzuholen und ihn nach dem ZRP zu fragen, aber dass er die Initiative ergriff und auf mich warten würde, hatte ich nicht erwartet. Zögerlich setzte ich mich wieder auf meinen Schreibtischstuhl.
„Worüber hast du die ganze verdammte Zeit nachgedacht? Ist es wegen unserem Gespräch vorhin?", fragte er schließlich und warf mir einem bohrenden Blick zu. Es überraschte mich, dass er mich so genau beobachtet hatte – obwohl ich seinen Blick natürlich gespürt hatte. Anscheinend zögerte ich daher zu lange mit meiner Antwort, denn Zero fuhr fort. „Fuck ... Dein Gesicht ist ein verdammtes offenes Buch, wenn du etwas verstecken möchtest, solltest du definitiv noch daran arbeiten", grummelte er schließlich und rollte mit den Augen.
Ich errötete ein wenig. „Ich will doch gar nichts verstecken, ich habe nur darüber nachgedacht, was du mir vorhin über das ZRP sagen wolltest, bevor Kaminari uns unterbrochen hatte", verteidigte ich mich.
Zero hob eine Augenbraue „Und du hast dein Tattoo mit den fucking 38 Zukunftstagen versteckt", stichelte er weiter. „Ist es, weil ich dich dafür kritisiert habe? Es sollte dir egal sein, ob andere davon wissen und was sie davon halten."
„Es ... ist mir egal", sagte ich unsicher.
Zero richtete sich halb auf und sah mir intensiv in die Augen. „Lügner", stellte er trocken fest.
Ich versteifte mich und sah ihn trotzig an, nicht gewillt es zuzugeben oder es weiter zu erklären. „Also, was wolltest du mir vorhin über das ZRP sagen?"
Zero musterte mich noch für einen Moment. „Ich wollte dir nichts über das ZRP erzählen, obwohl ich dir da auch einiges zu sagen könnte. Worauf ich hinaus wollte ist, dass das ZRP bei der Berechnung der Zukunftstage die Variablen eingrenzt. Ab dem Tag, an dem man den ersten Zukunftstag freigegeben hat, kann man keinen mehr in Anspruch nehmen. Das verhindert, dass es Rückkopplungen und Schleifen in der Berechnung gibt. Davon wird es an anderer Stelle ohnehin genug geben. Ich schätze den Weg wäre ich auch gegangen, um es zu vereinfachen..." Kurz runzelte er die Stirn, als würde er darüber nachdenken. Dann schüttelte er den Kopf. „Jedenfalls als du meintest, dass du im Save Space Mitte dreißig gewesen bist, habe ich daher daraus geschlussfolgert, dass du deine Zukunftstage spätestens bis zu diesem Tag aufgebrauchen wirst. Und das ist gelinde gesagt ungewöhnlich."
Ich nickte langsam. „Das wusste ich nicht." Wieder schalt ich mich für meine Unbedachtheit. Zero hatte Recht. Ich musste definitiv daran arbeiten, nicht mehr preiszugeben, als ich eigentlich wollte. „Danke für die Information."
Zero starrte mich einen Moment an, als hätte er mehr von mir erwartet. „Ach Fuck egal. Dann eben nicht, Shitty Hair." Er stand auf und ging zur Tür. Ich wollte ihn zurückhalten, wusste aber nicht wie. Bevor Zero jedoch nach draußen gehen konnte verharrte er in der Tür. „Hey Nerd! Das ist nicht dein fucking Flur!", rief er auf einmal mit beißendem Hass.
Ich zuckte zusammen, da ich den Ausruf nicht erwartet hatte und ging schnell zur Tür, da ich mir Sorgen um die Nachbarn machte.
Über Zeros Schulter sah ich einen relativ schmalen Jungen mit lockigem dunkelgrünen Haar. Dieser hatte erschrocken die Augen aufgerissen und starrte den Aschblonden an. „Kacchan?" Dann runzelte er die Stirn. „Dein Flur ist das aber auch nicht", murmelte er.
„Fucking Klugscheißer!", schimpfte Zero, als er dem Jungen hinterher sah, der sich eilig davon machte.
„Kacchan?", fragte ich interessiert.
Zero drehte sich abrupt um und sah mich gefährlich an. „Wehe du nennst mich auch nur einmal so. Ich werde dich killen!", knurrte er und bohrte den Zeigefinger wie zur Verdeutlichung in meine Brust.
„Wenn du damit aufhörst mich Shitty Hair zu nennen", sagte ich und grinste ihn an. Zero schien mit sich zu hadern und biss die Zähne zusammen. „Woher kommt der Name Kacchan überhaupt?"
„Von Katsuki und jetzt ist Schluss mit deinen verfickten Fragen." Er drehte sich um und schlug meine Tür hinter sich zu.
Sein Auftreten überraschte mich nicht mehr und dennoch zuckte ich zusammen. Aber vielleicht war es besser, dass er so plötzlich verschwunden war.
Denn der Schock war mir sicherlich ins Gesicht geschrieben.
Zero war Katsuki.
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