Kapitel 2: Achtunddreißig
Am nächsten Morgen weckte mich der Wecker zu meiner ersten Vorlesung in diesem Semester. Stöhnend richtete ich mich auf und fuhr mir müde über das Gesicht. Der Tag im Save Space hatte definitiv nicht den gewünschten erholsamen Effekt gehabt.
Die Botschaft, dieser kleine Zettel, hatte mir den ganzen restlichen Tag dort Kopfzerbrechen bereitet. Ich hatte überlegt wer dieser Katsuki sein könnte, und warum er eine so große Bedeutung hatte. War er mein Freund oder mein Geliebter? Oder war es von höherer Bedeutung als einem persönlichen Verlust, dass ich ihn rettete? Ich wusste nicht wie ich das in Erfahrung bringen sollte.
Aber daher war meine höchste Priorität zunächst herauszufinden, wer dieser Katsuki eigentlich war. Wieso hatte mir mein zukünftiges Ich mir keinen Nachnamen genannt? Hätte das wirklich einen Unterschied gemacht? Oder ich kannte diese Person bereits und mein späteres Selbst ist davon ausgegangen, dass ich wüsste um wen es geht.
Seufzend stand ich auf und ging müde ins Bad. Ich drehte den Wasserhahn auf und wusch mir das Gesicht, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Doch als ich auf meine wassergefüllten Hände hinabsah, blieb mein Blick an meinem Handgelenk hängen. Eiskalte Furcht ergriff mich, als ich auf die elektronische Tätowierung blickte.
38
Achtunddreißig Zukunftstage waren auf meinem Handgelenk markiert. Das war falsch! Es sollten doch nur noch zehn sein!
Mein Herz schlug viel zu schnell gegen meine Rippen, als sich eine Erkenntnis, klar und angsteinflößend, in meinem Verstand festsetzte: Etwas war geschehen. Die Zukunft hatte sich verändert.
Eigentlich sollte soetwas gar nicht vorkommen, denn die Zukunft, die vom Staat berechnet war, war stabil und unabänderlich. Verändert wurden nur große, historisch gesehen fatale Ereignisse. Dennoch gab es einzelne Vorfälle von veränderten Zukunftstagen, denn auch ein großes historisches Ereignis konnte die eigene Zukunft betreffen. Doch es war selten und ich habe nie jemanden kennengelernt, dem so etwas passiert war.
Aber nun hatten sich meine Zukunftstage nicht nur um ein, zwei Tage, sondern gleich drastisch verändert!
Vielleicht hätte mir das keine solche Angst bereitet, wenn ich nicht gerade gestern im Save Space eine Nachricht von meinem zukünftigen Selbst erhalten hätte. Wenn mir nicht in diesem Moment klar geworden wäre, was für ein Risiko dieses Ich auf sich genommen hatte. Wenn ich mich nicht gerade erst fest entschlossen hätte, aktiv zu werden und diesen Katsuki auf meine eigene Anweisung hin zu retten ...
Doch eben aufgrund dieser Geschehnisse glaubte ich nicht an einen Zufall. Ich selbst war höchstwahrscheinlich für die Veränderung der Zukunft verantwortlich. Mein zukünftiges Ich wusste, dass ich die Nachricht erhalten hatte und handeln würde und dementsprechend etwas vorbereitet. Aber das war eine Straftat!
Ich biss mir auf die Lippen, als ich in den Spiegel über dem Waschbecken sah. Meine jungen Gesichtszüge waren mir wieder deutlich vertrauter und meine schwarzen Haare waren so unauffällig, wie ich sie in Erinnerung hatte. Dennoch sah ich die leichte Panik in meinen Augen, bevor ich sie schloss und tief durchatmete.
Ich musste mich zusammenreißen. Noch konnte man mich nicht belangen, schließlich hatte ich noch gar nichts getan. Aber trotz der Furcht, hielt ich an meinem Entschluss Katsuki zu retten fest. Ich konnte diesen waghalsigen Versuch meines zukünftigen Selbsts nicht einfach ignorieren.
Außerdem, hatte ich trotz allem gleich noch immer meine Vorlesung. Die erste im Semester und für mich die erste überhaupt. Ich konnte mein Studium nicht schon vernachlässigen, bevor ich überhaupt angefangen hatte.
In den Gedanken immer noch bei meiner bevorstehenden Mission begann ich mich anzuziehen und meinen Rucksack zu packen. Kurze Zeit später öffnete ich eilig die Tür.
Und hörte einen dumpfen Aufprall und ein Stöhnen.
Mein Augen wurden groß, als ich bemerkte, dass ich allem Anschein nach jemandem die Tür gegen den Kopf gebrettert hatte. Schnell ging ich um die Tür herum und schlug die Hand vor den Mund.
„S-sorry!" rief ich mit etwas zu hoher Stimme und streckte dem blonden Jungen schnell meine Hand hin, um ihm aufzuhelfen.
Der Junge nahm sie entgegen und ließ sich von mir hochziehen. Entgegen meiner Annahme sah er keinesfalls sauer aus, sondern grinste mich dann schief an. „Kein Problem, Bro. Kann jedem Mal passieren." Dann betastete er seine Nase, aus der ein wenig Blut lief. „Oder war etwa die Rache dafür, dass wir gestern Abend etwas zu laut waren?"
„Gestern?" fragte ich kurz perplex, dann jedoch erinnerte mich wieder weshalb ich überhaupt entschlossen hatte, mir einen Tag frei im Save Space zu nehmen. „Ach uhm ... schon okay. Heißt das, du bist mein Zimmernachbar?"
Der blonde Junge grinste mich weiterhin an und nickte. Er hatte eine schwarze Strähne in Haare gefärbt und seine Augen waren von hellem Gold-Braun. „Klar. Mein Name ist Denki Kaminari!"
„Eijirou Kirishima", erwiderte ich schüchtern lächelnd.
„Alles klar, Kiri!", grinste er und klopfte mir freundschaftlich auf die Schulter, bevor er sich bückte, um seine Tasche wieder aufzulesen. „Hast du gleich auch ne Vorlesung? Diese 8:00 Vorlesungen sind wirklich ätzend!"
„Uhm ja, ich hätte auch gerne länger geschlafen", erwiderte ich verlegen und folgte Kaminari, der auf die Uhr blickend den Flur entlang ging. „Was studierst du denn?"
Kaminari lächelte mich gequält an. „Elektrotechnik, aber auch nach drei Semestern weiß ich ehrlich gesagt noch immer nicht, ob das wirklich mein Ding ist." Er zuckte mit den Schultern. „Und du?"
„Ich fange mit Lehramt an. Ziemlich langweilig, hm?"
„Oh ein Ersti!", grinste Kaminari. „Welche Fächer?"
„Biologie und Physik."
„Uff ... Magst wohl Naturwissenschaften, was? Naja, mach es einfach besser als meine Lehrer damals!" Kaminari lachte herzlich und legte mir, als ob wir uns schon ewig kennen würden, einen Arm um die Schulter, während wir das Wohnheimsgebäude verließen.
Ich lächelte. „Ja, ich mag Naturwissenschaften. Eigentlich wollte ich sogar Physik studieren ..."
„Und warum hast du's nicht? Ich meine, das ist doch sogar NC-frei, oder?"
Ich zuckte mit den Schultern und sah auf den gepflasterten Bürgersteig zu meinen Füßen. „Ich glaube nicht, dass ich das gepackt hätte. Reines Interesse reicht halt nicht ..."
Kaminari hob eine Augenbraue. „Glaubst du ich bin ne Koryphäe in dem was ich tu? Bro, ich bin schon zweimal durch HöMa I gefallen, aber was solls? Du kannst es doch einfach ausprobieren?"
Ich zog etwas unbehaglich die Schultern hoch. Natürlich hätte ich es einfach versuchen können, aber ich war bei der Wahl meines Studiums ein Feigling gewesen. Jeder hatte mir geraten etwas Soziales zu machen, da es anscheinend besser zu mir passte und ich hatte auf sie gehört.
„Naja wie auch immer, Kiri. Ich muss hier rechts abbiegen, aber wir sehen uns bestimmt wieder!", sagte Kaminari fröhlich und klopfte mir auf die Schulter.
---
Ich sah Kaminari früher wieder, als ich erwartet hatte. Als ich von meinem ersten Unitag wiederkam, saß er mit einigen anderen Leuten auf der Treppe vor unserem Wohnheim. So erschöpft wie ich war, hätte ich ihn gar nicht bemerkt, wenn er mich nicht mit einem fröhlichen „Hey Kiri!", begrüßt hätte.
Ich blieb auf der Treppe stehen und lächelte verlegen. „Hi Kaminari! Ich hätte dich beinahe übersehen." Ich ging ein paar weiter Stufen zu ihm hoch.
Ein dratiges Mädchen mit pinken Haaren grinste mich an. „Hey! Du bist Kamis Zimmernachbar, oder? Entschuldigung, dass wir gestern ein wenig laut waren! Mein Name ist übrigens Mina!"
„Eijirou Kirishima", stellte ich mich ihr lächelnd vor.
„Schau mal Mina, seine Augen sehen fast so aus wie Zeros", meinte ein Junge mit schulterlangen schwarzen Haaren zu ihrer linken. Jetzt starrten sie mir beide in die Augen, und ich blinzelte mehrere Male unbehaglich.
Kaminari lachte. „Leute! Jagd dem armen Ersti doch nicht so einen Schrecken ein!" Dann wandte er sich zu mir. „Also Mina ist Sportstudentin und Sero, der gerade vergessen hat sich vorzustellen", er warf Sero einen amüsierten Blick zu, „studiert hier Maschinenbau."
Sero grinste mich an. „Sorry, ich war nur einen Moment von deinen Augen abgelenkt." Dann blickte er zur Seite. „Hey Zero! Hier ist jemand, mit der gleichen Augenfarbe wie du!"
Zuerst war ich ein wenig verwirrt, da ich nicht verstand mit wem er sprach. Aber neben den Dreien - mit so viel Abstand, dass er augenscheinlich gar nicht dazugehörte - saß ein weiterer Junge.
Er war aschblond, die Haare in einem Undercut geschnitten. Seine Ohren und seine rechte Augenbraue zierten Piercings. Seine Augen waren mit schwarzem Kajal umrandet und er hatte eine kleine Falte über der Nase, als würde er häufig die Stirn runzeln. Er trug eine graue Jogginghose und ein schwarzes Tanktop, das ihm locker von den Schultern hing. Er hatte sich vorgelehnt und die Unterarme lässig auf die Knie gestützt. In der rechten Hand hielt er eine Zigarette. Alles in allem wirkte er ganz anders, als die Drei, die mir gegenübersaßen.
Doch nach Seros Ausruf drehte er mit genervtem Blick den Kopf in unsere Richtung. „Ach ja? Und was interessiert mich das?", fragte er Sero gelangweilt. Er setzte die Zigarette an den Lippen und nahm einen tiefen Zug. Langsam atmete er den Rauch aus, bevor er den Arm wieder auf den Oberschenkel legte und lässig die Asche hinunter schnippte.
Dann blickte der Aschblonde namens Zero zu mir und ich erstarrte. Unmittelbar fragte ich mich, ob meine angeblich so ähnlichen Augen denselben Eindruck bei anderen hinterließen wie seine. Aber ich konnte es mir nicht vorstellen.
Zeros Augen zogen mich in ihren Bann. Es stimmte. Es war das gleiche Mittelbraun mit dem rötlichen Schimmer wie bei meinen Augen. Dennoch war sein Blick ganz anders. Scharf. Abschätzend. Distanziert.
Aber auch ein ganz klein wenig neugierig.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro