Kapitel 10: Eine Sperre
Eijirou Kirishima, wissen Sie warum Sie hier sind?
Trotz des Rauschens in meinen Ohren, wiederholte sich der Satz immer und immer wieder in meinem Kopf. Mein Atem beschleunigte sich, als ich daran scheiterte ruhig zu bleiben. Die goldgelben Augen des Mannes fixierten mich streng und ich musste wegschauen, um in nicht noch mehr Panik zu geraten.
Ich holte tief Luft, bevor ich antwortete. „Nicht wirklich", sagte ich leise und überrascht darüber, dass meine Stimme nicht zitterte.
Der Mann seufzte und lehnte sich im Stuhl zurück. Er vergrub die Hände in seiner Anzughose und betrachtete mich nun ein bisschen weniger intensiv. Dennoch spürte ich seinen Blick noch immer auf mir ruhen. „Sind Sie sicher? In ihren Akten ist es zu ziemlich starken Abweichungen gekommen."
Ich schluckte hart. Natürlich wusste ich, dass die Veränderung meiner Zukunftstage alles andere als unauffällig war. Und es wäre nicht klug zu behaupten, dass ich nicht mitbekommen hätte, wie das elektronische Tattoo auf meinem Handgelenk verrückt gespielt hat. Das wäre wohl jedem aufgefallen.
Daher räusperte ich mich, schaute wieder auf und bemühte mich um einen lockeren Tonfall. „Natürlich ist mir aufgefallen, dass meine Zukunftstage stark schwanken."
„Und wissen Sie, warum das der Fall ist?"
Ich schüttelte den Kopf und spürte augenblicklich, wie der Blick des Mannes wieder schärfer wurde. Diesmal schaute ich nicht weg. Der Mann kniff die Augen kurz zusammen und stand dann auf. Er ging zu der Wand, die mir gegenüber war, und tippte auf einem Bedienfeld herum. Kurz danach leuchtete der Bildschirm auf, der so perfekt in die Wand eingelassen war, dass ich ihn zuvor gar nicht bemerkt hatte.
„Schauen wir uns mal gemeinsam Ihr Akte an", sagte der Mann streng und öffnete sie.
Auf dem Bildschirm sah mir mein eigenes Gesicht entgegen. Das gleiche biometrische Bild, wie es auch auf meinem Personalausweis zusehen war. Die ersten Zeilen zeigten die Standard-Daten. Über allem stand dicker Blockschrift mein eigener Name. Darunter meine Ausweisnummer, mein Geburtsdatum und meine Anschrift.
Doch der Mann tippte auf die Zeilen, die darunter zu lesen waren. Dies waren die Daten, die das ZRP über mich erfasste. Das Datum meiner Registrierung war verzeichnet und auch noch einige andere Zahlen und Buchstaben, mit denen ich jedoch nicht viel anfangen konnte. Doch in der letzten Zeile standen meine Zukunftstage. Die Zahl, die darunter verzeichnet war, lautete 21,2.
„Sehen sie das?", fragte der Mann eindringlich und tippte auf die Zahl. „Ganz abgesehen davon, dass es ungewöhnlich viele Tage sind – das kommt hin- und wieder vor – wie kommt da eine Kommastelle zustande? Es gibt keine halben und keine fünftel Zukunftstage! Das System sieht einen Tag mit vierundzwanzig Stunden ab Mitternacht vor. Wie erklären Sie sich das?"
Ich schaute ihn stur an. „Ich habe doch bereits gesagt, dass mir aufgefallen ist, dass da etwas nicht stimmt! Aber wieso denken Sie, dass ich besser Bescheid weiß als Sie?"
„Weil Sie einen Seelensprung vorgenommen haben kurz, bevor ihre Zukunftstage angestiegen sind! Haben Sie eine Botschaft erhalten? Irgendetwas? Sie wissen, dass sowas mit allen Mitteln unterbunden werden muss? Eine Einmischung in die Zukunft ist gefährlich!" Er verließ den Bildschirm und stützte sich auf den Tisch, das Gesicht unangenehm nahe vor meinem. „Haben Sie jemandem davon erzählt?"
Ich schüttelte den Kopf. „Nein Sir, das habe ich nicht."
„Noch nicht einmal Katsuki Bakugou?"
Ich runzelte die Stirn. „Wie kommen Sie jetzt auf Katsuki?"
„Wir haben sichere Quellen, die belegen, dass Sie beide sich sehr nahestehen. Ich wollte daher sichergehen, dass Sie kein Wissen weitergeben haben, dass Ihnen nicht zusteht."
„Das würde voraussetzten, dass ich Wissen besitze, dass mir nicht zusteht."
„Werde nicht frech, Kleiner! Etwas ist passiert, und wir werden noch herausfinden, was genau es war! Wir können nicht zulassen, dass eine kleine Abweichung wie du, das System ins Schwanken bringt!"
Wut stieg in mir hoch. Mir war klar, dass mein zukünftiges Ich gegen Regeln verstoßen hatte und ich nun von Dingen wusste, die ich nicht wissen sollte. Jedoch wollte ich die Zukunft nach wie vor beeinflussen, damit Katsuki überlebte, daran hatte sich nichts geändert. Aber jetzt, in diesem Augenblick, hatte ich noch nichts Derartiges getan. Mich zu Rechenschaft ziehen zu wollen war unfair! „Was ist das für ein System, dass durch eine simple Fehlfunktion in der Berechnung der Zukunftstage ins Schwanken gerät?", zischte ich.
Schneller als ich schauen konnte, hatte mich der Mann am Kragen meines Schlafanzuges gepackt und sah mich verächtlich von oben herab an. „Wag es nicht, so über das Programm zu sprechen! Du hältst das vielleicht alles für einen Witz, aber es geht hier um nationale Sicherheit, kapiert?"
Der Mann hielt mich noch einem Moment fest und schien dann zu realisieren, was er da tat. Er ließ mich wieder los und strich sich den Anzug glatt. Anscheinend war es ihm unangenehm so die Fassung verloren zu haben. Doch entschuldigen tat er sich nicht. Nach einer kurzen Pause räusperte er sich. „Wie auch immer. Das ZRP kann nicht zulassen, dass solche unkontrollierbaren Faktoren auftreten. Ich werde veranlassen, dass das nicht wieder vorkommt. Wir wollen ja nicht, dass es zu einem Aufstand kommt."
Das Wort Aufstand betonte er seltsam stark und sah mich dabei so durchdringend an, dass ich eine Gänsehaut bekam. Ich erschauderte. Aufstand. Riot. Red Riot.
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Auf der Rückfahrt wurde ich nicht gefesselt, aber genauso bestimmend auf die Rückbank gedrückt. Diesmal fuhr mich keiner der Spezialagenten, sondern jemand, der mir deutlich tiefer gestellt schien. Er warf mir regelmäßig nervöse Blicke durch den Rückspiegel zu und gab mir das Gefühl, als erwarte er, dass ich jeden Moment auf ihn losginge. Was ich durch das Gitter nicht einmal gekonnt hätte, wenn ich es versuchen würde.
Doch ich zog nur die Schultern hoch, sah aus dem Fenster und tat so, als würde ich seine Blicke nicht bemerken. Ich strich über Katsukis Armband an meinem Handgelenk und es beruhigte mich aus irgendeinem Grunde ungemein. Es gab mir Sicherheit und erinnerte mich gleichzeitig an ihn.
Der Wagen kam direkt vor dem Gebäude des Wohnheims zum Stehen. Ich hörte die Entriegelung der Hintertüren und schaut kurz zu dem Fahrer, der keine Anstalten machte, mir etwas zu erklären. Ein wenig unsicher, ob ich jetzt wirklich nach all dem einfach so gehen konnte, öffnete ich die Tür und warf dem Fahrer einen weiteren kurzen Blick zu. Doch dieser schien mich aufhalten zu wollen und so stieg ich schnell aus und schlug die Tür hinter mir zu. In der gleichen Sekunde, in der die Tür ins Schloss fiel, startete der Motor und der Wagen fuhr los. Einen Moment blieb ich perplex stehen, dann realisierte ich, dass ich im Schlafanzug vor dem Wohnheim stand. Schnell drehte ich mich auf dem Absatz um und hechtete die Stufen hinauf.
Es war später Nachmittag und im Gegensatz zu heute morgen, waren die Studenten wach und viele davon auch zu Hause. Ich spürte Blicke. Blicke aus dem Fenster und sobald ich das Gebäude betrat wurde ich von jedem einzelnen seltsam beäugt.
Wahrscheinlich hatte sich das Gerücht schon verbreitet, dass ein Student des Wohnheims von den Spezialagenten des ZRPs abgeholt wurde. Ich zog die Schultern hoch, vermied Augenkontakt und war doppelt froh, dass mein Zimmer sich im Erdgeschoss befand und ich daher keine weite Strecke zurücklegen musste.
Ich wollte gerade schnell in meinem Zimmer verschwinden, als ich bemerkte, dass Kaminaris Tür sperrangelweit geöffnet war. Laute Stimmen waren daraus zu hören. Ich zögerte. Sollte ich vielleicht nachsehen? Doch die Entscheidung war schnell gefällt, als ich auf einmal Katsukis Stimme, laut und aufgebracht, vernahm und kurzer Hand stand in der Tür meines Zimmernachbarn.
Katsuki hatte Kaminari an die Wand gedrückt. Mina stand erschrocken dahinter und versuchte ihn von ihm loszureißen, doch Katsuki schüttelte sie ab. „Du dreckiges Stück Scheiße!", fauchte Katsuki den anderen Blonden an, der inzwischen aschfahl war. „Wie konntest du nur? Ich habe ja viel von dir erwartet aber nicht das!"
„Ich hab doch gar nichts gemacht! Wie konnte ich denn ahnen, dass sie das gleich auswerten und ihn mitnehmen würden?"
„Du solltest verdammt nochmal lernen deine Klappe zu halten, du beschissener Kurzschluss!" Katsuki schien vor Zorn geradezu zu rasen.
Bevor es eskalieren konnte, betrat ich den Raum und zog die Aufmerksamkeit auf mich. Katsuki ließ unmittelbar von Kaminari ab und starrte mich an. Kaminaris Augen wurden groß, als er mich erblickte.
„Kiri!", rief Mina und warf sich mir an den Hals. „Geht's dir gut?"
„Ich ... Ja, mir geht's gut", erwiderte ich, als sie mich wieder losließ. Etwas verwirrt sah ich Katsuki und Kaminari an, doch ich hatte keine Zeit zu hinterfragen, worum es in dem Streit ging. Denn nun ging Katsuki auf mich zu.
Von ihm empfing ich keine Umarmung, stattdessen packte er meinen Oberarm und zerrte mich nach draußen. „Wir gehen", knurrte er zwischen zusammengebissenen Zähnen und schob mich in Richtung meiner Zimmertür, die ich schnell öffnete. Sie war nach meinem plötzlichen Abgang heute morgen unverschlossen.
Als ich die Tür hinter uns schloss und zu Katsuki schaute, stöhnte er und fuhr sich müde über das Gesicht. Dann blickte er auf und sah mir in die Augen. „Wie geht es dir wirklich?"
Ich biss mir auf die Lippen und zuckte mit den Schultern. „Mir geht's gut...", wiederholte ich nicht ganz überzeugend, aber auch gleichzeitig nicht wissend, was ich sonst antworten sollte. „Worum ging es gerade zwischen dir und Kami?"
Katsukis Augen verdunkelte sich. „Dieser miese kleine Wichser hat denen gesteckt, dass deine Zukunftstage sich verändern. Anscheinend hat er dein Tattoo doch ein paar Mal gesehen. Verdammte Scheiße, du hättest es früher abdecken sollen."
Ich fühlte mich wie vor den Kopf gestoßen. „Kami? A-aber warum sollte extra zum ZRP gehen, nur um das zu melden?"
Katsuki sah zu Boden und runzelte die Stirn. „Naja, um fair zu sein, er ist nicht zu ihnen gegangen, um das zu melden. Anscheinend arbeitet sein Vater beim ZRP. Er war gestern wohl nicht nur wegen eines Mädchens nicht in der Mensa, sondern ist den Nachmittag nach Hause gefahren. Ich glaube sein Vater hat ihn unter der Hand ausgefragt ... und dieser Idiot ist einfach zu naiv, um zu checken was das für Auswirkungen hat."
Katsuki zitterte vor Wut und ohne darüber nachzudenken trat ich einen Schritt nach vorne und nahm ihn in den Arm. Er krallte sich fast schmerzhaft in meinen Rücken, während ich ihn beruhigend über den Rücken strich. Doch dann löste er sich ruckartig von mir und hielt mich an den Schultern fest.
„Verfickte scheiße, nicht ich war derjenige, der vom Sondereinheit des ZRPs verschleppt wurde. Was haben sie mit dir gemacht?", fragte er eindringlich.
Ich schlug die Augen nieder. „Sie haben mich ausgefragt und wollten wissen was bei meinem ersten Seelensprung passiert ist. Vom zweiten wussten sie anscheinend nichts. Und ...", ich rieb mir abwesend über das Handgelenk, an dem Katsukis Armband befestigt war.
Katsuki folgte meinem Blick und nahm meine Hand in seine. Vorsichtig lockerte er das Armband und schob es nach oben.
Über einer verblassten 21 war eine rote Tätowierung, die sich, einem Brandmal gleich, einmal um mein gesamtes Handgelenk zog. In dem Band wiederholte sich ein Wort, jeweils abgetrennt durch das Zeichen des ZRPs. Gesperrt.
Katsukis Finger strichen federleicht darüber, ein Ausdruck puren Unglaubens auf dem Gesicht.
„Sie haben mir eine Sperre auferlegt, sodass ich keine Seelensprünge mehr machen kann."
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