35. Kapitel
Nachdem Frederika und ich unser Gespräch beendet und ich sie mit einigen mildernden Worten einigermaßen wieder beruhigt hatte, hatte sich die junge Domitorin von Jordan und mir verabschiedet und war wieder den Flur hinab in Richtung der Treppen verschwunden.
Mit einem leisen Seufzen zog ich die Tür hinter ihr zurück ins Schloss und sank dann anschließend wie betäubt auf dem Drehstuhl zusammen, auf dem Frederika soeben noch gesessen hatte.
Amor. Sie war also wieder da. Und sie bot mir ihre Hilfe an. Ein Schauer überkam mich, als ich erneut an unsere erste Begegnung zurück denken musste. Dort, an der Stelle unten am Hang, wo der Wagen meines Vaters ausgebrannt war. Sie hatte damals Dinge über mich gesagt, die mich danach noch Tage lang beschäftigt hatten. Dinge, die sich nach wie vor wie dort eingebrannt in meinen Gedanken befanden.
Sie hatte mir aufgetragen, mein eigenes Ich endlich zu finden, welches - laut ihr - noch tief in mir verborgen vor sich hin schlummerte und das ich - so empfand ich es zumindest - nach wie vor immer noch nicht entdeckt hatte.
War das etwa der Grund, weshalb sie wieder aufgetaucht war? War die Tatsache, dass ich bisher noch nicht erfolgreich gewesen war, die Ursache, weswegen Amor wieder hier her zurück gekehrt war? Damit sie mir helfen konnte, endlich meine tatsächlichen Kräfte zu erkennen?
Ein Räuspern riss mich aus meinem Gedankenstrom und verwirrt schoss mein Kopf in die Höhe. Jordan, der mir gegenüber auf meinem Bett saß, hatte sich aufgesetzt. In seinen grünen Augen glaubte ich Besorgnis aufflackern zu sehen, als er zu sprechen begann, allerdings war ich mir diesbezüglich nicht wirklich sicher. Jordan wirkte so gut wie nie sonderlich besorgt.
"Wer ist Amor?" Er fuhr sich durch sein dunkelblondes Haar, sodass ihm einige Strähnen ins Gesicht fielen, seinen Blick unverwandt auf mich gerichtet. "Du scheinst sie bereits zu kennen, Carol."
Die Art und Weise, wie er meinen Namen dabei betonte, verlieh mir Sicherheit. Jordan war tatsächlich besorgt. Vermutlich waren ihm meine Stimmungsschwankungen aufgefallen, die der Namen der für ihn fremden Person bei mir ausgelöst hatte.
"Ja, mehr oder weniger", murmelte ich leise vor mich hin und strich mir einige meiner weißen Haare aus der Stirn direkt hinter mein Ohr. "Mehr oder weniger?", wiederholte er und zog misstrauisch eine Augenbraue in die Höhe. "Inwiefern meinst du das?"
"Wir sind uns schon einmal begegnet." Ich sah hinab auf meine Fingernägel und schabte über die weißen Flecken, die sich dort wieder einmal wie so oft unter meinen Nägeln gebildet hatten. Ich hasste diese dämlichen Flecken! "Kurz nach meiner Ankunft hier im Haus der Hekate."
"Innerhalb des Hauses oder wie bei Frederika..."
"Draußen, ja." Woher diese weißen Flecken kamen, hatte mir mein Dad mal erklärt, aber dies war bereits lange her und ich hatte es leider wieder vergessen.
"An dem Ort, an dem mein Vater gestorben ist. Sie hat genau an der Stelle auf mich gewartet, wo er..." Meine Stimme brach und für einen kurzen Moment lang konnte ich nicht mehr tun, als einfach nur langsam und zitternd die Luft um mich herum ein- und auszuatmen. Der mir nur all zu bekannte Schmerz über den Verlust meines Vaters war wieder zurück gekehrt und quetschte soeben mit eiserner Hand das Herz in meinem Brustkorb zusammen.
"Sie hat dort auf dich gewartet?" Merklich angespannt beugte Jordan sich ein Stück weit vor, um seine Ellenbogen auf den Kniescheiben aufzustützen. Vermutlich versuchte er mit dieser Frage möglichst rasch das Thema von meinem nun toten Dad weg zu lenken, denn er schien meine Emotionen in diesem Augenblick sichtlich zu spüren. "Wie meinst du das genau?"
"Sie schien darauf vorbereitet gewesen zu sein, dass ich kommen würde." Ich zuckte ratlos mit den Schultern. "Sie kannte meinen Namen und wusste Dinge über mich, die sie eigentlich gar nicht hätte wissen dürfen."
"Zum Beispiel?"
"Sie wusste, wie mein Vater hieß und sie kannte den Namen, mit dem mich damals meine Mitschüler in der Schule gerufen haben", murmelte ich leise vor mich hin und begann unruhig meine Hände im Schoß zu kneten. "Und sie wusste über meine Aura bescheid. Sie wusste, dass sie dunkel ist. Dunkler als die Auren der restlichen Domitoren hier vor Ort."
Einen Augenblick lang konnte ich sehen, wie Jordans Schultern sich bei diesen Worten merklich verspannten und ein Ausdruck der Unruhe über seine Züge zuckte, aber dann nickte er langsam und ließ seinen Blick nachdenklich über die Regale an der Wand zu meiner linken wandern. Schweigend beobachtete ich ihn dabei, wie er einige meiner Bücher mit leerer Miene betrachtete, während meine Gedanken weiterhin unkontrolliert in meinem Kopf umher wirbelten.
Ich musste an Shaes Worte zurück denken. An ihre Erzählung über die Domitorin ihres Bruders, die damals anscheinend eine ähnliche Begegnung wie ich gehabt hatte. Eine Begegnung, die sie vollkommen verändert haben musste, so Shae, und die dazu geführt hatte, dass sie eines Tages spurlos verschwunden war.
"Und du bist dir auch sicher, dass es sich bei Amor wirklich um eine Domitorin handelt?" Jordans Blick war an mir hängen geblieben und seine grünen Augen bohrten sich in die meinen. Durchdringend und forschend, als wollte er somit jede einzelne meiner sichtbaren Reaktionen bildlich einfangen. "Ja." Ich nickte und fuhr mir mit der Zunge über meine Unterlippe. Sie schmeckte ungewohnt salzig. Als Jordan misstrauisch seine beiden Augenbrauen zusammen zog, fügte ich noch eilig: "Sie meinte zu mir, sie sei eine Traumdeuterin", hinzu.
"Eine Traumdeuterin?" Jordans Augen flackerten für den Bruchteil einer Sekunde beunruhigt auf und ich hörte, wie er einen leisen Fluch ausstieß. Dann erhob er sich mit einer ruckartigen Bewegung und verschränkte die Arme vor der Brust.
"Eine Traumdeuterin", wiederholte er mit ernüchternder Stimme und tippte sich anschließend mit einer Fingerkuppe nachdenklich gegen die Nasenspitze, ehe er bloß frustriert seinen Kopf schüttelte. Fragend sah ich ihn von meinem Platz auf dem Drehstuhl aus an.
"Ist sie dir mächtig erschienen?", fragte mich der Junge vor mir schließlich und wieder einmal konnte ich die Sorge in seinen Augen aufblitzen sehen. "Mächtig erschienen?", wiederholte ich nachdenklich und zuckte dann ratlos mit den Schultern. "Ich weiß es nicht genau", gestand ich.
Die Begegnung mit Amor hatte mich damals so sehr aus der Bahn geworfen, sodass ich auf einen solchen Fakt nicht sonderlich geachtet hatte. Ich meine, ja, sie hatte eine Ausstrahlung gehabt, die mir als äußerst ungewöhnlich aufgefallen war, aber das war auch schon das Einzige, was ich an ihr als mächtig betiteln konnte. Bezüglich ihrer Kräfte konnte ich mich an rein gar nichts mehr erinnern.
"Wieso willst du das wissen?", hakte ich also rasch bei Jordan nach und dieser bedachte mich erneut mit diesem durchbohrenden und forschen Blick, der mir einen Schauer den Rücken hinablaufen ließ.
"Weil Traumdeuter bis zu einem gewissen Spektrum der Macht vollkommen harmlos für uns Domitoren sind", erklärte er mir dann mit ernster Miene und kniff ein Stück weit seine Augenlider zusammen, als wollte er mich somit besser fixieren. "Sie haben nützliche Fähigkeiten und sind bei vielen Dingen, die die Psyche des Menschen betreffen, eine wirklich große Hilfe. Allerdings können sie bei einem gewissen Umfang der Macht auch echt gefährlich werden. Und damit meine ich nicht, dass sie in diesem Falle als äußerst gute Psychotherapeuten funktionieren." Er machte eine kurze Pause und verzog für einen Augenblick lang den Mund, als würden seine eigenen Worte ihn zu einer unschönen Erinnerung in seinem Kopf zurück werfen. "Sie können in deine Gedanken eindringen", fuhr er dann schließlich weiter fort und ich merkte, wie in seiner Stimme ein bitterer Unterton kaum hörbar mitschwang. "Sie können dich manipulieren, in deine Träume eingreifen und diese steuern, um dich somit zu einer ihrer Marionetten machen. Etwas, was man garantiert vermeiden sollte."
Er entfaltete seine Arme wieder und ließ seine beiden Hände in den Taschen seiner Hose verschwinden. "Also egal, was dir in diesem Augenblick durch deinen Kopf schwirrt, Carol. Solange wir nichts über diese Amor und ihre Kräfte wissen, hälst du dich fern von ihr, verstanden?"
Schweigend presste ich die Lippen aufeinander und ließ meinen Blick an ihm vorbei durch das Fenster über meinem Bett gleiten. Nach draußen zu dem Tor des Hauses, das mit seinen glänzenden Eisenstäben jedem Fremden den Eintritt in die Einrichtung verwehrte. Und dahinter der mit Gras begrünte Hang, an dessen Saum vor nur wenigen Wochen mein Vater gestorben war. Wo ich Amor begegnet war.
Langsam nickend riss ich mein Blick von der grauen Landstraße los, die an dem Hügel, auf dem das Haus der Hekate lag, vorbei lief und sah dann wieder zurück zu Jordan, der mich abwartend anstarrte. "Natürlich nicht", sagte ich dann und nickte, auch, wenn meine Stimme dabei sonderbar rau klang. "Ich werde mich von ihr fern halten. Versprochen."
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