Tag 11
Nach der Sitzung mit Frau Dr. Kant habe ich den ganzen restlichen Tag in meinem Zimmer verbracht und unentwegt an Sam gedacht. Dieses Gefühl, es ihm schuldig zu sein, werde ich einfach nicht los. Noch nie bin ich so wütend auf Frau Dr. Kant gewesen, obwohl es durchaus öfter solche Situationen gegeben hat, in denen ich ihr die schlimmsten Worte an den Kopf werfen wollte.
Unentwegt denke ich über das nach, was sie mir zum Schluss gesagt hat und ich kann ein Schmunzeln nicht unterdrücken.
Jetzt hat sie dich genau dort, wo sie dich die ganze Zeit schon haben wollte.
Dementsprechend distanziert verhalte ich mich am nächsten Tag gegenüber Alex, während er beim Mittagessen über Gott und die Welt philosophiert. Er scheint von meinen Gedanken jedoch nichts zu merken, da er unbeirrt weiterspricht.
Dieser Umstand bringt mich innerlich dazu, erleichtert aufzuseufzen. Dies kann nur bedeuten, dass er mich doch nicht so gut kennt, dass ich mir irgendwelche Sorgen machen müsste. Sam hat mich in und auswendig gekannt. Jede auch nur so kleine Regung in meinem Gesicht hat er direkt zu verstehen gewusst.
"Ich hatte gestern ein sehr interessantes Gespräch mit Frau Dr. Kant."
Alex' Worte bringen mich sofort wieder in das Hier und Jetzt zurück und voller Angst blicke ich ihn an.
Hat Frau Dr. Kant ihn etwa auch auf mich angesprochen?
Ich bete darum, dass ich mich irre.
"Sie hat mich gefragt, ob ich weiß, warum du immer wieder das Bild von Sam malst."
Ich spüre, wie bei der Erwähnung seines Namens mein Herz langsam in die Hose rutscht. Meine Atmung beschleunigt sich. Ich schaue überall hin, nur nicht zu ihm.
Was fällt ihr eigentlich ein, mit ihm über Sam zu sprechen? Ich dachte, Ärzte unterliegen einer Schweigepflicht.
Ich werde erst wieder von meinen Gedanken befreit, als sich eine Hand auf meine legt. Ich blicke in Alex' Gesicht und sehe pures Verständnis darin.
"Hey, mach dir da bitte nicht so einen Kopf. Es war mein Fehler, dass ich das überhaupt angesprochen habe. Solche Therapeuten wie sie bilden sich ein, dass sie uns 'Verrückte' verstehen, doch das tun sie nicht. Sie wissen nicht, wie es ist, in unserer Haut zu stecken. Ich werde nicht mehr zulassen, dass sie uns wehtut, in Ordnung?"
Meine Augen weiten sich bei seinem letzten Satz, während sein Lächeln immer breiter wird. Erst als ich meine Hand ruckartig unter seiner hervorziehe, räuspert er sich und schaut verlegen weg. Der Hunger ist mir wie so oft vergangen und ich schiebe das Tablett mit Essen von mir weg.
Alex beobachtet mich dabei, sagt jedoch nichts mehr. Das irritiert mich, da er sonst nie genug reden kann. Unruhig beginne ich mich umzuschauen und mit den Füßen Kreise auf dem Boden nachzuziehen. Alex schiebt ebenfalls das Tablett von sich und blickt mich mit einem Funkeln in den Augen an.
"Komm, ich zeige dir einen Platz, den ich vor Kurzem entdeckt habe."
Neugierig blicke ich ihn an, während sein Lächeln immer breiter wird. Ich weiß nicht recht, woran es liegt, dass ich einwillige. Vielleicht ist es dieses überzeugende Lächeln, das sein Gesicht erstrahlen lässt, oder aber auch einfach die Tatsache, dass ich hier nicht mehr sitzen kann.
Nachdem wir das Tablett zur Ausgabe gebracht haben, gehe ich hinter Alex einen langen schmalen Flur entlang, den ich zuvor nicht oft betreten habe. Anders als all die anderen grauen, schlecht beleuchteten Flure sieht er jedenfalls nicht aus. Auch hier sind überall dunkelgrüne Türen zu den Räumen der hier untergebrachten Patienten in den Wänden eingelassen, keine einzige Dekoration verschönert auch nur ansatzweise dieses trübselige Bild.
Auf dem Weg zu Alex' Platz kommt uns Janine entgegen. Sie ist eine der Aufpasserinnen hier und zählt zu der freundlichen Sorte.
"Hallo Janine."
"Hallo ihr beiden, wo geht es denn hin?", fragt Janine mit einem leichten Lächeln und lässt Alex' nicht aus dem Blick. Auch wenn sie es gut zu verstecken weiß, sieht man bei genauerem Hinsehen die Skepsis in ihren Augen.
"Du weißt doch, wo ich gerne meine Zeit verbringe. Ich will ihr diesen Platz zeigen", antwortet Alex mit freundlicher Stimme.
Es dauert eine Weile, bis Janine uns mit einem leichten Nicken eine Einwilligung gibt und uns passieren lässt.
"Bleibt aber nicht zu lange weg", ruft sie uns schließlich noch hinterher, bevor wir um die Ecke gehen.
"Auch wenn sie immer wieder betonen, dass es nicht so ist, fühlt man sich hier doch wie in einem Gefängnis", murmelt Alex schließlich. "Ich kann kaum erwarten, bis ich hier endlich wieder herauskomme."
Bei seinen letzten Worten durchfährt mich ein undefinierbares Gefühl. Wenn ich daran denke, dass er, womöglich sogar schon bald, wieder hier raus kommt und ich ihn los bin, ist es nicht Freude, die ich empfinde. Es würde bestimmt sogar Momente geben, in denen ich seine tiefe Stimme vermissen würde.
Der Flur, den wir jetzt betreten, ist heller als die vorherigen. Wahrscheinlich liegt es an den hohen Fenstern, die Licht durch die Betonwände hereinlassen. Jedenfalls bin ich positiv überrascht, hier so etwas zu sehen. Sofort frage ich mich, warum ich diesen Ort seit meiner gesamten Zeit noch nie gesehen habe. Die Antwort auf diese Frage kann ich mir selbst geben. Seit meinem gesamten Aufenthalt hier habe ich mich in meiner Angst, Trauer und meinem Selbstmitleid ertränkt, weshalb ich außer des Aufenthaltsraums und meines Zimmers meine Komfortzone nicht verlassen habe. Auf den zweiten Blick erst stelle ich fest, dass es kein Flur ist, sondern ein schmales Zimmer, das mit etlichen Sitzmöglichkeiten gefüllt ist. Stirnrunzelnd frage ich mich, was das hier für ein Ort ist. Alex gibt mir auf die Frage, auch wenn ich sie nicht ausgesprochen habe, direkt eine Antwort.
"Das ist der ehemalige Aufenthaltsraum der Insassen. Wahrscheinlich war der Raum ihnen zu hell und zu freundlich, um ihn weiterzunutzen. Seitdem hat sich keiner die Mühe gemacht, aus diesem Raum etwas anderes zu machen. Komm und nimm dir ein Kissen von dem Sofa. Wir gehen noch ein Stückchen weiter."
Verwirrt schaue ich ihm dabei zu, wie er sich eines der besagten Kissen nimmt und weiter vorangeht. Schnell schnappe ich mir ebenfalls ein Kissen und folge ihm. Wir müssen noch einmal weiter um die Ecke gehen, bis er endlich stehen bleibt. Bei dem Ausblick, der sich mir bietet, klappt mir der Mund auf.
Sattes Grün blickt mir entgegen, während die Spätsommersonne das Gelände in ein sanftes Licht taucht. Hier und da sind vereinzelt Blumenbüsche zu sehen, die der grünen Landschaft einige bunte Farbkleckse spenden. Und das Beste daran ist, dass hier keinerlei Gitter vor den Fenstern sind.
In meiner Starre nimmt Alex das Kissen aus meiner Hand und legt es für mich auf die tiefe, breite Fensterbank. Auch wenn ich es nicht selbst sehen kann, weiß ich einfach, dass ein ehrliches Lächeln auf meinen Lippen liegt. Als er es sich mit angewinkelten Beinen auf der Fensterbank gemütlich gemacht hat, tue ich es ihm nach.
"Leider kann man die Fenster hier nicht öffnen. Wie gerne würde ich jetzt den Duft der Blumen einatmen."
Sehnsüchtig blickt er aus dem Fenster, was ich ihm direkt gleichtue. Die gute Laune, die sich durch meinen Körper ausbreitet erschreckt mich. Ich warte bereits darauf, dass sich mein schlechtes Gewissen meldet, doch dem ist nicht so.
Anscheinend ist nicht nur die eine Seite erstaunt über meine plötzlich veränderte Stimmung.
Während sich meine Augen kaum satt sehen können an dem Garten hinter dem Fenster, erfüllt mich eine Sehnsucht, die ich schon lange nicht gefühlt habe.
Wie gerne würde ich diesen Moment gerade auf Papier einfangen.
Obwohl ich der Malerei nie abgeschworen habe, so ist es doch eher zu einer Notwendigkeit geworden als ein mir liebes Hobby. Es ist schon lange her, dass ich tatsächlich etwas malen wollte und mich nicht dazu verpflichtet gefühlt habe.
Alex erhebt sich kurzerhand und geht zu einem Schrank, dem ich zuvor keine Beachtung geschenkt habe. Ich beobachte ihn dabei, wie er einen Stapel Papier und Stifte entnimmt. Überrascht weiten sich meine Augen, während ich mir unweigerlich die Frage stelle, ob Alex Gedanken lesen kann.
Mit einem Grinsen kommt er wieder auf mich zu und hält mir sowohl Papier als auch Stifte entgegen.
"Ich dachte mir, du könntest das gebrauchen. Da sind auch braune Wachsmalstifte drin, falls du dich das fragen solltest."
Mein Blick wandert wieder zu Alex, der mich amüsiert mustert. Ich kann nicht unterdrücken, wie mein Herz zu rasen beginnt, während ich Alex dankbar anblicke. Wie gerne würde ich ihm mit Worten mitteilen, wie froh ich darüber bin, dass er diesen Ort mit mir teilt. Dass er so aufmerksam ist. Und dass er mich zu nichts drängt, was ich auch nicht möchte.
Doch bei dem Funkeln in seinen hellgrauen Augen bin ich mir sicher, dass es dafür keinerlei Worte bedarf.
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