Tag 10
Während ich in Frau Dr. Kants Büro auf ihre Anwesenheit warte, schaue ich mich in dem mittlerweile gut bekannten Zimmer um. Die Wände sind in einem hellen, freundlichen Grün gestrichen und die Pflanzen bringen Leben in diese doch so triste Umgebung. Draußen prasselt leichter Regen gegen die Fenster, während die Sonne langsam durch die Wolkenbank bricht.
Wahrscheinlich wird es einen Regenbogen geben.
Bevor ich weiter in meiner Gedankenwelt umherirren kann, höre ich das Kratzen der Tür auf dem Boden, aus der eine stets gut gelaunte Frau Dr. Kant eintritt. Wie jedes Mal zu Beginn unserer Therapiestunde kann ich nicht umhin zu denken, wie aufgesetzt dieses Lächeln ist.
"Guten Morgen, Lucy. Schön, dass du wieder hier bist."
Zur Antwort nicke ich, während es sich Frau Dr. Kant auf dem gegenüberliegenden weißen Sessel bequem macht. Trotz ihres fortgeschrittenen Alters hat sie eine makellose Haut und ich will mir gar nicht vorstellen, was sie dafür alles opfern muss. Was mich direkt nach ihrem Eintreten stutzig macht ist die Tatsache, dass sie dieses Mal keine Malutensilien dabei hat.
"Es ist schon lange her, dass du eine solch harte Reaktion hattest."
Eines muss man ihr lassen. Sie kommt immer ohne Umschweife zum eigentlichen Punkt. Natürlich weiß ich direkt, dass sie meinen Nervenzusammenbruch vor ein paar Tagen meint. Oft frage ich mich, wie sie es eigentlich geschafft hat, solch eine erfolgreiche Therapeutin zu werden, wenn sie doch so wenig Einfühlungsvermögen besitzt.
Ich merke, wie ich ihrem Blick ausweiche und stattdessen zu der von Regentropfen benetzten Fensterscheibe sehe. Frau Dr. Kant und ich haben ein stilles Übereinkommen geschlossen, dass sie genau drei Antworten von mir zu erwarten hat. Entweder ich nicke, schüttele den Kopf zur Verneinung oder ich sage einfach nichts. Dieses Mal entscheide ich mich, wie so oft, für die dritte Option.
"Ich habe nun schon öfters gesehen, dass du dir mit Alex einen Tisch teilst."
Am liebsten hätte ich mit den Augen gerollt, so offensichtlich ist diese Bemerkung. Nachdem ich heute in die Therapie gerufen wurde, habe ich gewusst, dass es früher oder später zu dem Thema kommen würde. Seit meinem letzten Gespräch mit Alex, bei dem ich mich mehr oder weniger beteiligt habe, sind zwei Tage vergangen. Seitdem sitzen wir sowohl beim Essen als auch im Aufenthaltsraum zusammen an einem Tisch. Meistens redet Alex über sein Leben außerhalb der Psychiatrie, während ich ihm stumm dabei zuhöre. Nicht ein einziges Mal hat er mich über irgendetwas ausgefragt, was ich ihm zu Gute halte. Selbst Sarah scheint einigermaßen mit diesem Umstand Frieden zu schließen, da immer weniger Sprüche auf meine Kosten von ihr kommen.
"Hat das etwas für dich zu bedeuten?"
Ihre Frage reißt mich wieder in das Hier und Jetzt. Ich stelle fest, dass die Frage mich tatsächlich zum Nachdenken anregt. Alex ist in der kurzen Zeit hier zu einer Person für mich geworden, die dem, was man einen Freund nennen kann, am nächsten kommt. Seit dem Unfall vor einem Jahr hat nie wieder jemand mit mir so geredet wie Alex es mit mir zu tun pflegt.
Ein zaghaftes Nicken gebe ich Frau Dr. Kant als Antwort auf ihre Frage.
"Was genau bedeutet er dir?"
Ich mustere Frau Dr. Kant mit einer hochgezogenen Augenbraue. Nach all der Zeit passiert es ihr immer noch, dass sie vergisst, dass ich nicht mit Worten antworten werde. Schnell sieht sie ihren Faux Pas ein und stellt die Frage anders.
"Ist er für dich mehr als eine Bekanntschaft?"
Ich muss nicht lange darüber nachdenken, bis ich wieder mit einem zaghaften Nicken antworte. Als ich dabei in Frau Dr. Kants Gesicht blicke, sehe ich kurz Verwunderung in ihrem Blick aufflackern, doch schnell hat sie ihre Maske wieder unter Kontrolle und schenkt mir erneut eines ihrer aufgesetzten Lächeln.
"Also würdest du ihn als einen Freund bezeichnen?"
Ich zucke mit den Schultern und wende mich wieder dem Fenster zu. Die Regentropfen, die nacheinander die Fensterscheibe herunterlaufen, lassen plötzlich Bilder von lang vergangenen Tagen in mir aufflackern.
Sams Lachen, während er in den Himmel blickt und den Regen auf seinem Gesicht willkommen heißt. Seine Augen, die mich daraufhin voller Liebe ansehen. Der Kuss, der mich alles Andere auf dieser Welt vergessen lässt.
Rasch wende ich mich von dem Fenster ab und sehe stattdessen zu Boden.
"War das Schulterzucken darauf bezogen, dass du dir nicht sicher bist?"
Geistesabwesend nicke ich, während ich meinen Blick weiter auf den Boden richte. Ein leises Seufzen entweicht Frau Dr. Kant und ich weiß sofort, dass gleich eine ihrer berühmten Predigten folgen wird.
"Lucy, ich muss zugeben, dass ich wirklich überrascht bin, dich in Kontakt mit einem anderen Menschen zu sehen. Und das ist wirklich gut, das versichere ich dir. Doch du darfst dich nicht vor den Möglichkeiten verschließen, die sich dir damit bieten. Verstehst du, was ich dir sagen will?"
Ehrlich neugierig schüttele ich den Kopf. Es dauert eine Weile, bis Frau Dr. Kants Blick meinen trifft und sie erläutert:
"Wenn Alex dir gut tut, musst du vielleicht bald eine Entscheidung treffen, inwieweit du weiterhin deine Vergangenheit deine Gegenwart und Zukunft beeinflussen lässt. Vielleicht wirst du ja bald merken, dass es Zeit ist, Sam gehen zu lassen und stattdessen jemand Neues in dein Leben zu lassen."
Es dauert eine Weile, bis das Gehörte für mich einen Sinn ergibt. Doch als es so weit ist, kann ich den entsetzten Blick nicht unterdrücken.
Wovon redet sie denn da?
Unterbewusst ziehe ich bereits die Beine an meinen Körper und umklammere sie ganz fest. Das Wippen folgt ebenso unterbewusst, während sich alle möglichen Gedanken in meinem Kopf um meine Aufmerksamkeit bemühen.
Ist sie denn total verrückt geworden? Sie kann doch nicht davon reden, dass ich Sam vergessen soll. Niemals! Selbst sie ist nicht so herzlos. Ich bin schließlich Schuld daran, dass Sam tot ist und es ist meine lebenslange Strafe, für immer alleine zu bleiben. Niemand könnte jemals Sam ersetzen und das werde ich auch nicht zulassen. NIEMALS!
Im Hintergrund nehme ich wahr, wie Frau Dr. Kant bereits weiterspricht, doch ich höre sie nicht mehr. Stattdessen lege ich meinen Kopf auf den Knien ab und lasse diese Gedanken vollends Herr über meinen Körper werden.
Damit ist die Sitzung, jedenfalls für mich, offiziell vorbei.
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