4 - Alte Bekannte
Für den Bruchteil einer Sekunde habe ich die Hoffnung, dass mir meine Augen bloß einen Streich spielen, doch als der Mann auch dann noch vor mir steht, als ich mir in die Handinnenfläche zwicke, realisiere ich, dass es sich um einen ganz üblen Schachzug meines Karmas handelt.
Ich wünschte, ich würde meinen Gegenüber nicht kennen, aber leider tue ich das. Sogar besser als mir lieb ist.
Diese grauen Augen, die sich wie Pfeilspitzen in meine Pupillen bohren, entfachen ein Feuer der Angst unter meiner Haut und lassen mich schwer schlucken.
Ausgerechnet der Avocado-Mann, den ich im Supermarkt notgedrungen mit einem Kuss überfallen habe, steht gerade vor mir.
Genauso wie heute Nachmittag trägt er ein schlichtes T-Shirt, eine zerrissene Jeans und seine Vans. Die kastanienbraunen Locken werden allerdings nicht mehr von einem Bandana zurückgehalten, sondern kräuseln sich wirr auf seinem Kopf.
Verdammt! Wie kann man nur so attraktiv sein?
Am liebsten würde ich seinen Geruch nach Meersalz und Kiefernadeln inhalieren oder mich wie ein Raubtier auf seine Lippen stürzen, aber ich halte mein Verlangen zurück. Vermutlich würde mein hämmernder Herzschlag sowieso nicht zulassen, dass ich mich auch nur einen einzigen Millimeter fortbewege.
Ob mich der Mann wohl erkennt? Die gefurchte Stirn und der angespannte Unterkiefer sagen eindeutig „Ja!".
Oh Gott ... Ich dachte wirklich, dass unser Aufeinandertreffen im Supermarkt Schicksal sei, doch wie es aussieht, habe ich mich getäuscht. Es war nämlich bloß mein Karma, das mir mal wieder ein giftgetränktes Messer in den Rücken rammen wollte.
Vielleicht bin ich nicht so schlau wie Ariella, aber dass der Mann vor mir Lianas neuer Freund ist, begreife selbst ich.
Scheiße! Scheiße! Scheiße!
Ich habe den Freund meiner besten Freundin geküsst ... Wie zum Teufel soll ich das Liana erklären, ohne dass sie mir mit ihren monsterlangen Gelnägeln die Augen auskratzen möchte?
Natürlich hatte ich keine Ahnung, dass der Mann mit dem umwerfenden Lächeln Lianas Freund ist, aber diese Tatsache wird sie nicht interessieren. Bei Männern hört die Freundschaft für Liana auf.
Erst vor ungefähr einem Jahr standen Marley und Liana auf Kriegsfuß miteinander, weil Letztere großes Interesse an Rocco hatte und unser Freundschaftsmotto deshalb zu Mister before Sister umgedichtet hat.
Da ich es mir nicht mit Liana verscherzen möchte, kann ich nur noch hoffen, dass der Avocado-Mann nichts von dem Kussüberfall erzählt hat.
Ich muss ihn gleich unbedingt unter vier Augen sprechen und darum bitten, den Kuss im Supermarkt geheim zu halten – jedenfalls fürs Erste.
Ich habe keine Ahnung, wie lange ich meinen Gegenüber mit aufgeklapptem Mund anstarre, doch irgendwann gesellt sich Liana an seine Seite und haucht ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange. „Da bist du ja, Babe", schnurrt sie wie ein Kätzchen in sein Ohr. „Ich habe dich vermisst!"
Wie zwei Magnete, die sich gegenseitig anziehen, vereinen sie ihre Lippen zu einem feurigen Zungenkuss.
Vor lauter Scham würde ich am liebsten wegschauen, doch mein Blick haftet ununterbrochen an den butterweichen Lippen des Avocado-Mannes, die ich noch vor wenigen Stunden auf meinen eigenen gespürt habe.
Warum ist das Schicksal so ein mieser Verräter? Reicht es denn nicht, dass es ein gelungener Buch- und Filmtitel ist? Scheinbar nicht.
Schon jetzt weiß ich, dass es einem Kampf gleichen wird, Liana und ihren Freund den ganzen Abend zu ertragen. Es wird mir das Herz zerreißen, ihnen aus der ersten Reihe beim Herumturteln und Knutschen zuschauen zu müssen.
Verdammt! Kann der Avocado-Mann nicht einfach Single sein? Gedanklich habe ich schon unsere Zukunft samt Hochzeit geplant, aber diese Ideen kann ich wieder getrost verwerfen.
Selbst wenn die Beziehung von Liana und ihrem Freund nicht lange halten sollte, glaube ich nicht, dass ich danach eine Chance bei ihm hätte, denn ganz ehrlich: Niemand würde freiwillig einen Hauptgewinn gegen einen Trostpreis eintauschen wollen.
Vor lauter Verzweiflung entflieht mir ein Seufzen. Scheinbar ist das für Liana und ihren Partner das Zeichen, voneinander abzulassen und ihre Aufmerksamkeit wieder auf mich zu richten. Beinahe synchron breitet sich ein unschuldiges Grinsen auf ihren geschwollenen Lippen aus.
Sofort macht sich ein flaues Gefühl in meinem Magen bemerkbar. Während ich heute Nachmittag noch auf Wolke Sieben geschwebt bin, knalle ich jetzt gerade mit voller Wucht auf dem Boden der Tatsachen auf.
Es war naiv von mir, zu denken, dass das Schicksal ausnahmsweise mal auf meiner Seite stehen würde. Seit dem Verrat von Valentin legt es mir beinahe wöchentlich Stolpersteine in den Weg und lacht schadenfroh, wenn ich hinfalle.
„Oh sorry!", kichert Liana schließlich albern. „Ich habe dich fast vergessen, Harly. Diese Lippen machen einfach süchtig." Mit der rechten Hand knufft sie ihrem Freund in die Wange, ehe sie hinzufügt: „Das ist Duke. Manchmal sieht er wie ein Pitbull mit Tollwut aus, aber eigentlich ist er ein ganz Lieber."
So sehr ich mich auch bemühe, ich schaffe es nicht, in Lianas Gelächter miteinzusteigen. Meine Augen ruhen die ganze Zeit auf dem Avocado-Mann alias Duke und warten darauf, dass er die Kuss-Bombe aus dem Supermarkt platzen lässt.
Zum Glück geschieht aktuell nichts dergleichen.
„Babe?", wendet sich Liana nun an ihren Freund. „Das ist Harlow – eine meiner besten Freundinnen. Du weißt schon ... Die, die immer zu spät kommt."
Bei Lianas Worten schießen mir Blitze des Schams in die Wangen. Es ist mir unangenehm, dass sie Duke direkt meine größte Schwäche offenbart und mich damit in ein schlechtes Licht rückt.
Na ja, eigentlich kann es mir sowieso egal sein, was Duke über mich denkt, oder?
Blöd nur, dass es das nicht ist.
„Ah, jetzt habe ich endlich mal ein Gesicht vor Augen", murmelt Duke nach einigen Sekunden der Stille. Seine grauen Iriden toben wie ein Sturm und wirbeln die Angst in meinem Herzen auf. Als er mich dann auch noch fragt „Darf ich ehrlich zu dir sein, Harlow?" wird mein Körper endgültig von einem Erdbeben der Furcht erfasst.
Übelkeit wallt in meinem Inneren auf und mir wird schwindelig.
Jetzt ist der Moment gekommen, in dem mich Duke für meinen Kussüberfall zurechtweisen wird – direkt vor den Augen meiner besten Freundin.
Da mir speiübel ist und ich meiner Stimme nicht mehr vertraue, bringe ich lediglich ein schwaches Nicken zustande.
„Ich finde es ziemlich respektlos, dass du so oft zu spät kommst. Andere Menschen opfern extra ihre Zeit für dich, doch du scheinst das überhaupt nicht wertzuschätzen. Meiner Meinung nach ist das sehr egoistisch!"
Dukes Worte schlagen wie eine Bombe in meinem Herzen ein. Sie bringen alle Mauern, die ich jemals errichtet habe, zum Einstürzen.
Ich wünschte, ich könnte irgendetwas erwidern, um mich zu rechtfertigen, doch mein Hals ist staubtrocken und mein Kopf wie leergefegt.
Es tut mir weh, dass Duke so schlecht über mich denkt.
Ob das wohl gerade seine Rache für den Kuss ist?
„Michail Gorbatschow hat mal gesagt: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Früher oder später wirst du das auch noch merken, Harlow." Im Einklang mit seinem letzten Wort schiebt sich Duke an mir vorbei und lässt mich sprachlos auf der Terrasse zurück.
So intensiv und schmerzhaft habe ich mir unser Wiedersehen ehrlich gesagt nicht vorgestellt.
Natürlich bin ich erleichtert, dass er Liana noch nichts von dem Kuss erzählt hat, aber seine Worte haben sich wie ein Schlag ins Gesicht angefühlt – nur härter und mitten ins Herz.
„Ignorier Duke bitte", schiebt sich Lianas Stimme über die dunklen Nebelschwaden in meinem Kopf. „Er muss immer und überall seinen Senf dazugeben. Deswegen küsse ich ihn auch so gerne: Einfach, weil er dann mal für mehrere Minuten seine Klappe hält."
Liana zuliebe zwinge ich mir ein unechtes Grinsen auf die Lippen, das sich wie eine Grimasse, die ich auch an Halloween schneiden könnte, anfühlt.
Ich weiß, dass es mir egal sein sollte, aber ich möchte nicht, dass Duke einen schlechten ersten Eindruck von mir hat.
„Komm! Lass uns zu den anderen gehen." Liana schnappt sich meine Hand und dann eine Bierflasche von der Getränkebar, ehe sie mich zu der Feuerschale schleift, in der bereits lodernde Flammen miteinander tanzen.
Um die Feuerschale herum sind mehrere Baumstümpfe aufgestellt, die als Sitzgelegenheiten dienen. Decken und Polster liegen daneben im Gras.
Begleitet von meinem schlotternden Herzen lasse ich mich auf dem Baumstamm zwischen Kaylee und Ariella nieder. Wie es der Zufall so möchte, hockt Duke direkt gegenüber von mir und mustert mich mit gerunzelter Stirn.
Er wendet seine grauen Sturmaugen, die wie bei einem Unwetter blitzen, erst von mir ab, als sich Liana neben ihn setzt und seine Lippen in Beschlag nimmt.
Puh ... Aktuell habe ich echt keine Ahnung, wie ich diesen Abend überleben soll. Eigentlich habe ich mich total darauf gefreut, am Lagerfeuer zu sitzen und mit meinen besten Freundinnen herumzualbern, aber Dukes Anwesenheit wirft dunkle Schatten über meine Vorfreude.
Die ganze Zeit habe ich Angst, er könnte die Kuss-Bombe hochgehen lassen. Außerdem fühlt es sich schrecklich an, dabei zuzusehen, wie er meine beste Freundin mit seiner Zunge verwöhnt.
„So ...", klatscht Marley auf einmal in die Hände, womit sie meine Aufmerksamkeit auf sich zieht. „Um Duke etwas besser kennenzulernen, haben wir uns überlegt, dass ihm jeder eine Frage stellen darf. Möchte Duke die Frage nicht beantworten, müssen sowohl er als auch derjenige, der die Frage gestellt hat, einen Shot trinken."
„Keine Sorge", grinst Duke sofort. „Ich bin wie ein offenes Buch!"
Wieder einmal verhaken sich seine Augen mit meinen. Irgendetwas funkelt in seinen Iriden auf, doch ich kann nicht sagen, was es ist.
Vielleicht Überlegenheit?
Duke bedeutet Ärger! Das spüre ich mit jeder einzelnen Faser meines Körpers.
„Dann mal los. Ich fange an!", freut sich Marley. Sie sitzt wie ein Äffchen auf Roccos Schoß und schaut gedankenverloren in die lodernden Flammen, während sie sich eine Frage überlegt. Nach ein paar Sekunden erhellt sich ihr Gesicht und sie möchte wissen: „Wie viele Ex Freundinnen hast du?"
Obwohl die Frage nicht an mich gerichtet ist, muss ich schlucken. Mittlerweile befürchte ich nämlich, dass Ariella Recht haben könnte und Duke noch nicht für eine ernste Beziehung bereit ist.
„Boah, keine Ahnung", antwortet Duke ohne zu zögern. „Seit der sechsten Klasse hatte ich eigentlich jeden Monat eine andere am Start. Eine richtige Beziehung mit Gefühlen und Schmetterlingen hatte ich noch nie. Liana ist die Erste, die mich nicht nur beim Orgasmus etwas spüren lässt."
Hilfe! Ich glaube, mir wird schlecht!
Als uns Liana gesagt hat, dass sie uns ihren Freund vorstellen möchte, war ich total begeistert von ihrer Idee. Mittlerweile bereue ich es allerdings, zugestimmt zu haben, denn Duke stellt meinen ganzen Hormonhaushalt auf den Kopf. Seinetwegen kann ich nicht mehr klar denken und erwische mich selbst dabei, wie ich alle zwei Sekunden verstohlen zu ihm hinüberluge.
Ob er wohl wirklich romantische Gefühle für Liana entwickelt hat? Oder sagt er das eventuell nur, weil er unsere Freundin nicht vorführen möchte?
Noch bevor ich mir eine Antwort ausmalen kann, stellt Rocco die nächste Frage. „Was war der außergewöhnlichste Ort, an dem du schon mal Sex hattest?"
Ernsthaft?! Diese Information möchte ich gar nicht wissen! Hoffentlich trinkt Duke einen Shot ...
Wie eigentlich immer werden meine Gebete nicht erhört, denn Duke wackelt spielerisch mit den Augenbrauen, ehe er geheimnisvoll wispert: „Sagen wir mal so: Eine Autowerkstatt kann auch ihre Reize haben."
Mit jedem Wort, das Dukes Lippen verlässt, wandelt sich mein Bild von ihm mehr und mehr. Langsam, aber sicher nimmt er die Gestalt eines typischen Herzensbrechers an.
„Was ist der beste Anmachspruch, den du kennst?", möchte Kaylee drei Herzschläge später wissen. „Lia hat mir schon ein paar Sprüche aus eurem Chat vorgelesen, aber bestimmt hast du noch mehr Kracher auf Lager, oder?"
Bei dieser Frage muss Duke gar nicht lange überlegen. Seine Augen bohren sich geradewegs in die meinen, als er grinst: „Ich komme von der Bundeskussbehörde. Ich bin gesetzlich dazu verpflichtet, dein Kusstalent zu testen!"
Normalerweise mag ich keine Anmachsprüche, weil sie immer total billig oder aufdringlich sind, aber diesen Spruch finde selbst ich kreativ.
Ob er damit wohl Liana um den Finger gewickelt hat?
Ich bemühe mich, die Bilder von meinem Kopfkino auszublenden, und überlege stattdessen, welche Frage ich Duke stellen könnte.
Am liebsten würde ich wissen, ob er den Funkenregen im Supermarkt ebenfalls auf seinen Lippen gespürt hat, aber natürlich kann ich das nicht machen.
Ein paar Minuten drehen sich die Rädchen in meinem Kopf in Höchstgeschwindigkeit, bis mir eine zündende Idee kommt. „Wie gut kannst du Geheimnisse für dich behalten?", frage ich Duke, ohne auch nur für eine Millisekunde meinen Blick von ihm zu lösen.
In diesem Moment habe ich das Gefühl, als würden sich unsere Augen zu einem gemeinsamen Spinnennetz verweben. Wir halten uns gegenseitig gefangen, sodass kein Entkommen möglich ist – weder für ihn noch für mich.
Mein Herz klopft laut in meiner Brust und hallt wie ein Kanonenschuss in meinem Körper wider. Ich bin nervös und irgendwie auch ängstlich.
Dukes Antwort ist unheimlich wichtig für mich. In gewisser Weise hängt nämlich meine Freundschaft mit Liana davon ab.
Für ein paar Sekunden spannt mich Duke noch auf die Folter, ehe er ein knappes „Gut" von sich gibt. Da ich nicht weiß, ob er dieses eine Wort ernst meint oder nicht, bin ich froh, als er mit einem Zwinkern hinzufügt: „Besonders gerne mag ich schmutzige und verbotene Geheimnisse."
Dass er mit dieser Aussage auf unseren Kuss anspielt, ist mir sofort bewusst.
Einerseits erleichtert es mich, dass Duke scheinbar keine Anstalten macht, Liana von dem Kuss zu erzählen, aber andererseits fürchte ich, dass er bloß mit mir spielen könnte. Ich muss unbedingt nochmal unter vier Augen mit ihm sprechen, um die Situation aus dem Supermarkt zu klären.
Auch wenn ich ihn am liebsten direkt packen und zur Seite ziehen würde, muss ich erst noch Ariellas Frage abwarten.
„Was machst du beruflich?"
Meiner Meinung nach könnte Duke glatt als Model durchgehen. Friseur oder Künstler wären aber ebenfalls Berufe, in denen ich mir ihn gut vorstellen kann.
„Ich habe dieses Jahr meine Ausbildung zum Automobilkaufmann abgeschlossen", überrascht mich Duke mit seiner Antwort. „Im Herbst fange ich dann mein Studium im Medienmanagement an."
Ich muss zugeben, dass das sehr interessant klingt.
Allgemein ist Duke ein interessanter Mensch, der direkt bei unserem ersten Aufeinandertreffen meine Neugierde geweckt hat. Am liebsten würde ich alles über ihn und sein Leben erfahren, um ihn irgendwann wie ein offenes Buch lesen zu können.
„Zum Schluss habe ich noch eine Frage an euch", grinst Duke gut gelaunt in die Runde, wobei seine Augen die meiste Zeit an mir haften bleiben. „Wer hat Lust zu tanzen?"
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