4 - Partner auf Bewährung
„Herzlich Willkommen zu unserem ersten offiziellen Leichtathletiktraining in der neuen Saison", begrüßt uns Coach Miller mit einem freundlichen Lächeln.
Von den Jungs aus dem Team habe ich schon oft gehört, dass Coach Miller sehr streng und anspruchsvoll sei, aber in meinen Augen ist er einfach nur ein sympathischer Mann, der sich für die Leichtathletik begeistert.
Außerdem gehören Disziplin und Ehrgeiz meiner Meinung nach zu dem Kompetenzbereich eines guten Trainers dazu.
„Es freut mich, in so viele alte und auch in ein paar neue Gesichter zu sehen. Für die Neulinge unter euch: Ich bin Coach Miller und diese reizende Dame neben mir ist Coach Snow."
Ich weiß nicht, warum, aber meine Augen suchen automatisch nach Rocco. Als ich ihn zwischen den ganzen anderen Jungs entdecke, muss ich feststellen, dass sein stechender Blick ebenfalls auf mir ruht.
Wie spitze Pfeile bohren sich seine grünen Augen in meine und schicken eine Gänsehaut über meinen Körper.
Da es mir unangenehm ist, dass mich Rocco beim Beobachten erwischt hat, senke ich schnell den Kopf und versuche mich wieder auf die Stimme von Coach Miller zu konzentrieren.
„In diesem Schuljahr gibt es ein paar Änderungen", spricht er das an, was ich bereits befürchtet habe. „Normalerweise trainieren das Team der Mädchen und das Team der Jungs separat voneinander. In dieser Saison werden wir zum ersten Mal alle gemeinsam trainieren."
Aufgeregtes Gemurmel erfüllt die Luft.
Ich kann hören, wie die Hälfte der Jungs genervt seufzt und die Mädchen vor Freude leise kreischen.
Schon seit ein paar Jahren beschleicht mich das Gefühl, dass der Großteil der Mädels sowieso nur am Leichtathletiktraining teilnimmt, damit sie heimlich die Jungs beobachten können. Vor allem im Sommer, wenn es sehr warm draußen ist und die Jungs oberkörperfrei trainieren, kommen meine Teamkolleginnen gar nicht mehr aus dem Staunen heraus.
Aus dem Sabbern vermutlich auch nicht ...
Demnach ist es also kein Wunder, dass sie sich über diese Neuerung freuen.
Ich hingegen würde am liebsten vor lauter Frustration weinen. Gemeinsam mit den Jungs trainieren zu müssen, ist das Schlimmste, was mir passieren konnte.
Warum tut mir mein Karma das an?
Seit ich in der Elementary School von einem Klassenkameraden als fette Sportsau bezeichnet wurde, schäme ich mich, vor Jungs Sport zu machen. Ständig habe ich Angst ausgelacht, beleidigt oder auf mein Äußeres reduziert zu werden.
Unabhängig von diesen drei Ängsten habe ich zusätzlich keine Lust darauf, Rocco zweimal in der Woche beim Training ertragen zu müssen. Er und sein dämliches Auto nerven mich ohnehin schon genug.
„Der amerikanische Schulverband hat beschlossen, dass es keine Unterteilung mehr zwischen Jungs und Mädchen geben soll", fährt Coach Miller fort, nachdem sich das Gemurmel langsam wieder eingestellt hat. „Das bedeutet, dass die diesjährigen Schulmeisterschaften nur als Mixed-Team angetreten werden können. In jeder Disziplin werden sowohl zwei Mädchen als auch zwei Jungs an den Start gehen. Da die Qualifikation für das Finale schon in drei Monaten stattfindet, müssen wir uns etwas ranhalten, meine Lieben."
Die ganzen Informationen erreichen nur im Schneckentempo mein Hirn.
Statt der alljährlichen Mädchen-Meisterschaft soll es nun nur noch eine gemeinsame Meisterschaft mit den Jungs geben? Das ist grausam!
Ich mache Leichtathletik, weil es mir Spaß macht. Die Jungs hingegen machen Leichtathletik, weil sie erfolgreich sein und sich zu Höchstleistungen antreiben möchten.
Für mich ist es unmöglich, diese beiden Faktoren miteinander zu kombinieren. Spaß und Hochleistungssport passen in meinen Augen nicht zusammen.
„Da ihr lernen sollt, als Team zu funktionieren, haben sich Coach Snow und ich etwas ganz Besonderes für euch überlegt."
Noch mehr Überraschungen? Bitte nicht!
Das mulmige Gefühl in meinem Bauch wächst von Sekunde zu Sekunde mehr. Ich fühle mich verdammt unwohl und würde am liebsten weinen oder schreien.
Das Leichtathletiktraining war immer so eine Art Rückzugsort für mich. Hier konnte ich mich auspowern, an meiner Fitness arbeiten und meinen inneren Schweinehund besiegen.
Dass dieser Rückzugsort nun zerstört wird, gefällt mir überhaupt nicht. So habe ich mir die letzte Saison an der Southwest High nicht vorgestellt.
„Erstmal auch ein Hallo von mir", reißt Coach Snow das Wort an sich. Ganz im Gegenteil zu ihrem Nachnamen strahlt die junge Frau gerade mit der Sonne am Himmelszelt um die Wette. „Es freut mich, dass unser Team immer größer wird."
‚Mich nicht!', widerspreche ich ihr in Gedanken.
Ein gewisser Parkplatzdieb mit schwarzen Locken und grünen Augen hat hier nämlich nichts zu suchen. Statt auf dem Sportplatz sein Unwesen zu treiben, sollte er mal lieber seine Schrottkarre reparieren ...
„Damit ihr euch gegenseitig besser kennenlernt und voneinander profitieren könnt, bilden wir für den ersten Monat Trainingspaare. Ein Junge und ein Mädchen bilden jeweils ein Team. Wenn ihr euren Partner gefunden habt, kommt bitte zu uns nach vorne und tragt euch in einer Liste ein. Wie es dann weitergeht, erklären wir euch danach."
Sobald die Worte von Coach Snow verebbt sind, bricht um mich herum das reinste Chaos aus.
Die Mädchen stürzen sich wie wild gewordene Tiere auf die Jungs und versuchen sich den besten – oder wohl eher den attraktivsten – Trainingspartner zu sichern.
Auch wenn sich alles in mir dagegen sträubt und ich angesichts dieser Neuerungen immer noch unter Schock stehe, lasse auch ich meinen Blick über die Jungs wandern.
Viele von ihnen kenne ich zwar flüchtig aus dem Unterricht, aber Kontakt habe ich mit keinem von ihnen.
Abgesehen von Valentin vielleicht.
Ich atme erleichtert auf, als ich den schwarzen Haarschopf von Harlows Freund erkenne. Valentin ist der Einzige, bei dem ich mich nicht zu 100, sondern nur zu 99,9 Prozent unwohl fühlen würde.
Damit mir niemand zuvorkommen kann, gehe ich mit schnellen Schritten auf Valentin zu. Als dieser bemerkt, dass ich ihn ansteuere, weiten sich seine braunen Augen fast schon schockiert.
„Hey ... Marley ...", stammelt er mit einem nervösen Lächeln. „Du willst mich sicherlich fragen, ob wir Trainingspartner sein wollen, richtig?"
Ich nicke.
Soweit ich das in der letzten Saison mitbekommen habe, ist Valentin ein talentierter Weitspringer und Sprinter. Demnach könnte ich in diesen beiden Disziplinen bestimmt noch etwas von ihm lernen.
Wobei ich Valentin helfen könnte? Keine Ahnung ... Vielleicht beim Gewicht zunehmen?!
„Sei mir bitte nicht böse, aber ich würde lieber mit jemandem trainieren, der mehr auf meinem Leistungsniveau ist, verstehst du?"
Valentins Worte sind wie ein Schlag ins Gesicht. Nur, dass sie nicht mein Gesicht, sondern mein Herz treffen. Noch offensichtlicher hätte er mir gar nicht sagen können, dass ich sportlich gesehen viel zu schlecht für ihn bin.
Da ich merke, wie sich Tränen der Enttäuschung in meinen Augen ansammeln, nicke ich hastig, ehe ich mich von Valentin wegdrehe. Er soll nicht sehen, wie sehr er mich mit seiner Aussage verletzt hat.
Begleitet von einem riesigen Kloß im Hals, der sich einfach nicht herunterschlucken lassen möchte, beobachte ich die anderen Jungs und Mädchen um mich herum.
Sie alle suchen sich einen Partner oder eine Partnerin und tragen sich dann bei Coach Miller in einer Liste ein.
Von den drei übriggebliebenen Jungs macht niemand den Anschein, als würde er mich gerne zu seiner Trainingspartnerin auserwählen wollen. Nicht einmal für eine Millisekunde schauen sie in meine Richtung.
Das ist ziemlich eindeutig.
Auch wenn es mir im Herzen wehtut, wende ich mich von dem Team ab.
Ich möchte hier niemandem im Weg stehen. Wahrscheinlich ist die Mannschaft bei den Schulmeisterschaften sowieso viel besser ohne mich dran.
Ich wünschte, es wäre anders, aber in meinem letzten Schuljahr an der Southwest High werde ich wohl oder übel auf das Leichtathletiktraining verzichten müssen. Wenn mich keiner dabeihaben möchte, werde ich mich auch niemandem aufzwingen.
Mit langsamen Schritten steuere ich den Ausgang des Sportplatzes an.
Eigentlich denke ich, dass es niemandem auffällt, wie ich mich von diesem Ort wegschleichen möchte, allerdings werde ich zu meinem Bedauern eines Besseren belehrt.
„Marls?", ertönt Roccos unsichere Stimme hinter mir.
Als würde Eis aus seinem Mund schießen, verharre ich wie erstarrt in meiner Position. Ich wage es nicht einmal, zu atmen, und halte somit die Luft an.
„Wo willst du denn hin?" Die Unsicherheit weicht einer Mischung aus Skepsis und Verwirrung.
Innerlich hoffe ich, dass Rocco einfach wieder verschwindet, wenn ich ihm nicht antworte, aber leider tut er mir diesen Gefallen nicht. Stattdessen umrundet er mich und steht wenige Sekunden später unmittelbar vor mir.
Seine grünen Augen treffen auf meine und bringen mein Herz zum Rasen. Sein Duft von Pfefferminze umhüllt mich und vernebelt mir den Kopf.
Ich möchte nicht, dass er mich so verletzlich sieht!
„Ist alles okay?", hakt Rocco besorgt nach. „Geht es dir nicht gut?"
Seine fürsorgliche Art und der sanfte Blick, den er mir gerade zuwirft, kotzen mich regelrecht an. Er soll mich in Ruhe lassen und sich nicht um mein Wohlergehen kümmern. Ist es denn so schwer, sich von mir fernzuhalten?
„Hau ab!", zische ich Rocco kraftlos an. „Nicht, dass du nachher keine Trainingspartnerin mehr abbekommst."
Es kostet mich enorm viel Beherrschung, keine Träne zu vergießen. Zwar bin ich ein sehr selbstbewusster Mensch, den man nicht so leicht aus der Bahn werfen kann, doch jetzt gerade habe ich einen Punkt erreicht, an dem ich am liebsten weinen würde.
Es zerreißt mich innerlich, dass ich wieder einmal auf mein Äußeres reduziert wurde und mich deshalb keiner gefragt hat, ob ich seine Trainingspartnerin sein möchte.
Vielleicht habe ich nicht die typische Sportlerfigur und vielleicht erziele ich keine Bestleistungen, aber wenigstens gebe ich mir Mühe und habe Spaß an der Leichtathletik.
Zählt das denn gar nicht?
„Tja, weißt du, so wie es aussieht, versucht meine Trainingspartnerin gerade die Fliege zu machen", murmelt Rocco grinsend.
Vermutlich versucht er mich mit seinen Worten aufzumuntern, doch das funktioniert nicht. Nicht einmal Kaffee oder Ariellas Schokoladenplätzchen könnten meine Laune jetzt noch anheben.
„Komm schon, Marls." Rocco schaut mir so tief in die Augen, dass mir schwindelig wird. „Lass uns zusammen trainieren. Wir können bestimmt viel voneinander lernen."
Ich kann nicht verhindern, dass ein spöttisches Lachen meine Lippen verlässt.
„Von einem Idioten, der Parkplätze klaut und Vorurteile hat, möchte ich nichts lernen!", mache ich meinen Standpunkt deutlich. „Danke, aber ich komme auch super allein zurecht!"
Innerlich bete ich zu Gott, dass mich Rocco nun endlich in Ruhe lässt, aber natürlich tut er das nicht. Wie ein nerviges Insekt, das ich am liebsten totschlagen würde, tänzelt er weiterhin um mich herum.
„Dass ich dich gefragt habe, ob deine Lieblingsdisziplin Kugelstoßen ist, hatte nichts mit deinem Körper zu tun, Marls." Roccos Stimme klingt ungewohnt ernst. Als ich in seine grünen Augen schaue, sehe ich dort nur eine einzige Emotion flimmern: Aufrichtigkeit. „Ich habe dich das gefragt, weil ich gehofft habe, dass wir eine Gemeinsamkeit haben könnten."
Ich schlucke schwer.
Ist Rocco vielleicht doch kein Idiot mit Vorurteilen?
„Seit vier Jahren ist das Kugelstoßen eine meiner Lieblingsdisziplinen", fährt Rocco unbeirrt fort, nachdem ich nichts auf seine Erklärung erwidere. „Diese Leidenschaft mit jemandem teilen zu können, wäre echt toll."
Kein einziges Wort entflieht meinen Lippen. Noch immer bin ich viel zu perplex, dass Rocco mit seiner Frage tatsächlich keine bösen Absichten verfolgt hat.
Aber ob ich deshalb seine Trainingspartnerin werden sollte? Eigentlich habe ich keine Lust, mich mit dem Parkplatzdieb herumschlagen zu müssen.
„Stell dich nicht so an, Marls. Gib dir einen Ruck!" Rocco lächelt mich zuversichtlich an. „Ich werde ein guter Partner sein. Versprochen!"
In meinem Inneren findet gerade ein Kampf zwischen meinem Kopf und meinem Herzen statt.
Mein Kopf ruft: „Lass dich bloß nicht auf diesen Teufel ein. Er ist immerhin ein arroganter Parkplatzdieb, der sich sicherlich beim Training über dich lustig machen wird."
Mein Herz hingegen schreit: „Nimm das Angebot an! Du liebst die Leichtathletik. Lass dir deine letzte Saison an der Southwest High nicht entgehen."
Letztendlich ist es mein Herz, das diesen Kampf gewinnt.
„Na schön", gebe ich also nach, weshalb Roccos Grinsen breiter wird. „Aber nur auf Bewährung!"
„Auf Bewährung?", wiederholt mein Gegenüber verwirrt.
„Ja", bestätige ich. „Wenn das mit uns beiden als Partner nicht klappen sollte, höre ich auf."
Zu meiner großen Überraschung stimmt Rocco zu.
Obwohl ich immer noch etwas skeptisch bin, ob das mit uns beiden als Trainingspartner eine gute Idee ist, tragen wir uns gemeinsam bei Coach Miller in der Liste ein. Da wir die Letzten sind, werden wir von den anderen mit Argusaugen beobachtet.
Irgendwie schaffe ich es, die stechenden Blicke zu ignorieren und meine Aufmerksamkeit auf den Coach zu richten.
„In den nächsten vier Wochen trainiert ihr alle Disziplinen, die bei den Schulmeisterschaften gefordert werden. Wir teilen euch am Anfang der jeweiligen Trainingsstunde mit, welche Disziplin ihr übt. Versucht euch bitte gegenseitig zu helfen und zu motivieren."
Meine Augen wandern wie von selbst zu Rocco, der neben mir steht.
Auch wenn ich bisher mehr negative als positive Eigenschaften an ihm gefunden habe, denke ich, dass Rocco sehr gut darin sein könnte, andere Menschen zu motivieren.
„Nach diesen vier Wochen spezialisiert ihr euch auf zwei oder drei Disziplinen. Mehr dazu, wenn es dann so weit ist", teilt uns Coach Miller mit. „Für heute war es das erstmal von unserer Seite aus. Ihr könnt die restliche Zeit gerne dazu nutzen, um schon mal eine erste Trainingseinheit mit eurem Partner zu absolvieren. Ansonsten sehen wir uns Freitag zur selben Zeit am selben Ort wieder."
Mit diesen Worten verabschieden sich Coach Miller und Coach Snow von uns.
Die meisten Trainingspärchen verschwinden daraufhin in Richtung Laufbahn, um sich aufzuwärmen, doch ich bleibe wie angewurzelt auf der Rasenfläche stehen.
Ob ich heute mehr Zeit als nötig mit Rocco verbringen möchte? Auf keinen Fall!
Ich möchte einfach nur nach Hause und die ganzen Schocknachrichten mithilfe von einem riesigen Eisbecher verdauen.
Das ist auch der Grund, weshalb ich Roccos Augen suche und ihm dann ins Gesicht lüge: „Sorry, aber mein Goldfisch ist krank. Wir sehen uns. Bye!"
Schneller als Rocco reagieren kann, haste ich von dem Platz. Bloß ganz weit weg von dem Ort, an dem sich in den nächsten vier Wochen mein persönlicher Albtraum abspielen wird.
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