3 - Immer diese Vorurteile
Der Dienstagmorgen beginnt genauso beschissen wie der Montagmorgen: Meine Geschwister lassen mir keinen Kaffee übrig, Ariella bangt auf der Autofahrt zur High School um ihr Leben und Harlow kommt mal wieder zehn Minuten zu spät.
Die Kirsche auf der Sahnehaube bildet allerdings der rote Truck, der sich erneut auf meinen Parkplatz gestellt hat.
„Das soll wohl ein schlechter Scherz sein, oder?", ärgere ich mich über Roccos dämliches Auto und sein kindisches Verhalten.
Gestern heuchelt er mir noch vor, dass er sich keine Feinde machen möchte, aber heute klaut er wieder meinen Parkplatz? Ganz schön ironisch, wie er sich selbst mit seinen Taten und Worten widerspricht.
„Nicht zu fassen, dieser Kerl!", fluche ich, während ich nach einem anderen Parkplatz Ausschau halte.
Wenigstens muss ich heute nicht unter dem Scheiß-Baum parken und kann somit einer weiteren Taubenattacke entgehen ... Mehr positive Sachen hält der Dienstagmorgen aber leider nicht für mich bereit.
Ganz im Gegenteil.
Liana fällt mir nämlich zum zweiten Mal innerhalb von nur einem Tag in den Rücken, indem sie ihren blöden Rocco - warum auch immer - verteidigt. „Ich finde es echt albern, was für eine Show du abziehst, Marley. Das ist doch nur ein dämlicher Parkplatz. Wenn Rocco nun mal eher an der Schule ist, kann er ihn auch benutzen. Punkt, Aus!"
„Ach ja? Wenn es nur ein dämlicher Parkplatz ist, kann dein toller Rocco ja auch woanders parken", erwidere ich genervt.
Noch immer ärgert es mich, dass Liana nicht auf meiner Seite steht. Nur weil Rocco attraktiv ist und Liana vermutlich ihr neues Betthäschen in ihm sieht, schleimt sie sich bei ihm ein.
Tatsächlich habe ich deswegen heute Morgen kurz überlegt, Liana einfach vor ihrer Haustür stehen zu lassen, aber letztendlich war Ariella diejenige, die mich mehr oder weniger dazu gezwungen hat, anzuhalten und unsere Freundin nicht ihrem Schicksal zu überlassen.
Mal schauen, ob ich morgen immer noch so nett sein werde, wenn sie nicht schleunigst ihr Verhalten mir gegenüber ändert ...
„Ich rede nochmal mit Rocco, okay?" Das ist alles, was Liana sagt, bevor sie mit ihrer Schuluniform auf dem Arm in den Mädchentoiletten verschwindet.
„Ja ja!", rufe ich ihr wütend hinterher. „Reden heißt bei dir vermutlich die Zunge in den Hals stecken!"
Während Ariella bei meinem Kommentar empört die Luft einzieht, strafen mich Kaylee und Harlow bloß mit bösen Blicken.
Sie alle sind der Meinung, dass Liana nichts falsch gemacht hat und ich einfach nur überreagiere.
Das nervt!
Mal wieder ist Liana der Engel und ich bin der Teufel.
Da ich keine Lust habe, mir eine weitere Moralpredigt von meinen Freundinnen anzuhören, schlurfe ich schon mal in Richtung Klassenzimmer. Leider stehen heute keine organisatorischen Dinge mehr auf dem Plan. Der Horror namens Mathematik kann also damit beginnen, meinen Kopf und meine Nerven zu foltern.
Im Klassenraum angekommen, ist das Erste, was ich sehe, ein schwarzer Lockenkopf, der eindeutig nicht hierhergehört. Gestern war Rocco schließlich auch nicht in meinem Mathekurs.
Was zum Teufel hat er hier zu suchen? So langsam kann sich mein negatives Karma gerne wieder zurückziehen und jemand anderen quälen.
Als würde Rocco spüren, dass ich Löcher in seinen breiten Rücken starre, dreht er sich langsam um. Unsere Blicke treffen wie bei einem Autounfall aufeinander und lösen eine unangenehme Gänsehaut auf meinem Körper aus.
Am liebsten würde ich ihm dieses dämliche Unschuldsgrinsen eigenhändig aus dem Gesicht wischen, aber erstaunlicherweise lässt Rocco sein Lächeln ganz von selbst fallen.
Mit gefurchter Stirn und zusammengepressten Lippen kommt er auf mich zu.
Vermutlich sollte ich einfach wieder auf dem Absatz kehrt machen und aus dem Klassenraum stürmen, doch meine Beine gehorchen mir nicht. Wie festgewachsen beobachte ich Rocco dabei, wie er mir immer näherkommt.
Mein Herz pocht wild, als sein Geruch von Pfefferminze in meine Nase strömt.
„Hey Marls", begrüßt mich Rocco mit dem Spitznamen, den eigentlich nur meine besten Freundinnen benutzen dürfen. „Können wir vielleicht jetzt nochmal miteinander reden?"
Fassungslos schaue ich ihn an. Ist er wirklich so naiv und denkt, dass ich mich mit ihm unterhalten möchte? So dumm kann nicht mal er sein.
„Sorry, aber mit Menschen, die meinen Parkplatz klauen, rede ich nicht."
Eigentlich möchte ich mich an Rocco vorbeischieben, doch er hält mich vorsichtig am Oberarm zurück. Dort, wo seine warmen Finger auf meine Haut treffen, bildet sich ein loderndes Feuer.
Roccos Berührung ist mir mehr als nur unangenehm. Wenn er nicht schnell seine Hand wegnimmt, kann er zusehen, wie er bald mit nur noch neun Fingern klarkommt.
„Gestern waren es Idioten, mit denen du nicht sprechen wolltest", grinst mich Rocco frech an. „Da ich also scheinbar vom Idioten zum Parkplatzdieb befördert wurde, kann ich mich doch jetzt bei dir entschuldigen, oder?"
Tatsächlich bilde ich mir ein, dass so etwas wie Hoffnung in seinen grünen Augen aufflammt.
„Hättest du dich wirklich bei mir entschuldigen wollen, hättest du nicht schon wieder auf meinem Parkplatz geparkt", murmele ich verbittert.
Ich kann Rocco ansehen, dass er etwas auf meine Aussage erwidern möchte, allerdings stolziert Liana in diesem Moment in den Raum und schnappt sich sofort Roccos Hand. Fast schon so, als wäre er ein Objekt, das ihr gehört. „Komm mit, hübscher Mann. Die ganzen negativen Schwingungen hier schaden deinem süßen Zuckerlächeln", säuselt meine aktuell illoyale Freundin.
Während Liana und Rocco im vorderen Teil des Klassenzimmers verschwinden, lasse ich mich in der letzten Reihe nieder. Hier hinten werde ich wenigstens in Ruhe gelassen und muss nicht ständig die ekelige Flirterei zwischen meiner Freundin und dem Parkplatzdieb mitansehen.
Außerdem kann ich mich prima hinter meinem Mitschüler Chad verstecken und somit dem Vorstellen von Matheaufgaben aus dem Weg gehen.
Eine Win-Win-Situation also, richtig?
☆☆☆
In der Mittagspause verstecke ich mich wieder in der Bibliothek, da ich Lianas und Roccos schmachtende Blicke nicht ertrage. Schon den ganzen Tag kleben sie wie zwei Kletten zusammen und kichern so albern wie verliebte Teenager.
Ganz ehrlich? Ich gebe den beiden höchstens noch eine Woche, bevor sie ein Paar werden. Ein Paar, das leider wegen Liana zum Scheitern verurteilt ist.
Ob sie es wohl dieses Mal schafft, eine Beziehung zu führen, die länger als vier Monate hält?
Nach der Mittagspause, die sich wie Kaugummi in die Länge zieht, habe ich zum Glück nur noch Musik und Kunst - zwei Fächer, die ich weder mit Liana noch mit Rocco belege. Einzig und allein Kaylee bettelt mich die ganze Zeit an, meine Wut abzustellen und nicht länger sauer auf Liana zu sein.
Egal, wie viel Mühe sich Kaylee mit ihren Argumenten gibt, ich bleibe hartnäckig.
Liana ist diejenige, die sich entschuldigen muss und nicht umgekehrt.
„Bis morgen, Marls", verabschiedet sich Kaylee nach Schulschluss mit einer Umarmung von mir. „Viel Spaß beim Schwitzen und bei den Seitenstichen."
„Nicht zu vergessen der heißgeliebte Muskelkater", scherze ich lachend. „Bis morgen, Kaylee."
Während sich meine beste Freundin auf den Weg zur Bushaltestelle macht, wo sie sich mit Ariella, Liana und Harlow trifft, schlage ich den Weg zu den Umkleidekabinen in der Sporthalle ein.
Seit ich zehn Jahre alt bin, mache ich für mein Leben gern Leichtathletik. Zwar bin ich nicht besonders gut in dem, was ich tue, aber wenigstens macht es mir Spaß. Außerdem bietet sich mir durch den Sport eine Möglichkeit, die ganzen Schokoladenkekse abzutrainieren, die mir Ariella täglich wie eine Drogendealerin andreht.
Wie eigentlich immer erreiche ich die Umkleidekabinen so früh, dass ich sie ganz für mich allein nutzen kann.
‚Perfekt', denke ich erleichtert.
Auch wenn ich mich im Sportunterricht nicht davor drücken kann, mich vor den anderen Mädels umzuziehen, mag ich es lieber, wenn ich mich nicht dabei beobachtet fühlen muss.
An meinem Körper gibt es viel zu viele Stellen, mit denen ich nicht zufrieden bin. Sie vor anderen Menschen zu entblößen, kostet mich enorm viel Überwindung.
Da ist meine Knollnase, die viel zu dick ist und beinahe mein ganzes Gesicht in Anspruch nimmt.
Meine Wimpern, die so kurz sind, dass nicht einmal Mascara weiterhilft.
Mein Bauch, der für ein Mädchen viel zu behaart ist und mehr als nur ein Speckröllchen aufweist.
Meine Oberschenkel, die mit lauter Dehnungsstreifen verziert sind.
Und meine Schienbeine, auf denen fast jeden Tag ein neuer blauer Fleck auftaucht.
Ich weiß, dass ich lernen sollte, meinen Körper so zu akzeptieren, wie er ist, doch das fällt mir unheimlich schwer. Erst recht, wenn ich so eine hübsche Freundin wie Liana habe, neben der ich mich noch mehr wie ein hässliches Entlein fühle.
Lianas Aussehen grenzt an Perfektion. Ich hingegen sehe nur wie ein schwabbeliges Etwas aus.
Begleitet von einem frustrierten Seufzen zwänge ich mich in eine Leggings und ein rotes Shirt. Obwohl es draußen sehr warm ist - fast 35 Grad - ziehe ich immer eine lange Hose beim Sport an, da ich mich sonst unwohl fühlen würde.
Um eine kurze Hose zu tragen, habe ich meiner Meinung nach einfach nicht die richtige Figur.
Ich binde meine Haare noch schnell in einem hohen Pferdeschwanz zusammen, ehe ich die Umkleidekabine wieder verlasse und den Sportplatz, der direkt hinter der Schule liegt, ansteuere.
Da ich immer schon eine Viertelstunde vor Trainingsbeginn auf dem Platz bin, stöpsele ich mir meine Kopfhörer in die Ohren und entfliehe mithilfe von Musik für einen kurzen Moment der Wirklichkeit.
Ich tauche in eine Welt ein, in der es so etwas wie Montage, die Schule und Oberflächlichkeit nicht gibt. In eine Welt, in der ich so aussehe wie Liana und mir tausend süße Jungs zu Füßen liegen. In eine Welt, in der ich tun und lassen kann, was ich möchte, weil ich dort die Herrscherin bin.
Ein zufriedenes Lächeln breitet sich auf meinen Lippen aus.
Eigentlich würde ich gerne noch länger in meiner perfekten Traumwelt bleiben, doch irgendjemand tippt mir vorsichtig auf die Schulter, weshalb ich meine Augen notgedrungen wieder öffnen muss.
Sobald ich das getan habe und sehe, wer vor mir steht, würde ich am liebsten einen genervten Schrei ausstoßen. Nur mit Mühe und Not schaffe ich es, meine Wut herunterzuschlucken und stattdessen die Kopfhörer aus den Ohren zu nehmen.
„Hey." Rocco kratzt sich nervös am Hinterkopf, als er mich anlächelt. „Gibst du mir jetzt die Chance, mich bei dir zu entschuldigen?"
Ohne es verhindern zu können, verdrehe ich die Augen, denn Roccos Hartnäckigkeit nervt.
War ich heute Morgen vor dem Matheunterricht etwa nicht deutlich genug? Seine Entschuldigung kommt zu spät! Außerdem bezweifele ich, dass er seine Worte wirklich ernst meinen würde.
„Okay, scheinbar nicht", murmelt Rocco zu sich selbst, nachdem ich ihm nicht antworte. „Kannst du mir dann wenigstens sagen, ob ich hier für das Leichtathletiktraining richtig bin?"
Wie vom Blitz getroffen zucke ich zusammen.
Ein elektrischer Schlag pulsiert durch meine Venen und ein ungutes Gefühl, das einen bitteren Beigeschmack auf meiner Zunge hinterlässt, breitet sich in meinem Magen aus.
Warum interessiert sich Rocco für das Leichtathletiktraining? Ist er nicht zu cool dafür?
Langsam lasse ich meinen Blick über Roccos Körper wandern. Er trägt ein dunkelblaues Muskelshirt, eine schwarze Sporthose, die seine trainierten Beine besonders gut zur Geltung bringt, und knallgrüne Laufschuhe.
Dass er hier ist, um Sport zu treiben, ist leider nicht zu übersehen.
Aber warum muss er sich ausgerechnet für Leichtathletik interessieren? Kann er nicht lieber Football oder Lacrosse spielen?
Um ehrlich zu sein kotzt es mich an, dass der Parkplatzdieb scheinbar dieselbe Leidenschaft wie ich teilt.
„Marls?" Rocco wedelt leicht genervt mit seiner Hand vor meinem Gesicht herum. „Redest du jetzt etwa gar nicht mehr mit mir?"
„Doch", erwidere ich nicht weniger gereizt.
Es passt mir überhaupt nicht in den Kram, Roccos dämliches Grinsen auch noch nach Schulschluss ertragen zu müssen.
Bestimmt ist er ein totales Ass im Sport und reibt mir dann bei jeder Trainingseinheit sein Talent unter die Nase. Fehlt nur noch, dass er damit anfängt, sich über mich und meine Leistungen lustig zu machen ...
„Du hast Glück", zische ich meinen Gegenüber feindselig an. „Du bist hier richtig. Der Coach müsste gleich kommen."
„Gut." Rocco lächelt erleichtert, bevor seine Augen auf meinen Sportschuhen landen und er wissen möchte: „Was machst du eigentlich noch hier? Der Unterricht ist doch schon längst zu Ende." Eine steile Falte bildet sich auf seiner Stirn.
Roccos nachdenklicher Gesichtsausdruck lässt mich verärgert die Arme vor der Brust verschränken.
Ist es etwa so abwegig, dass ich ebenfalls hier bin, um Sport zu machen? Nur weil ich ein paar Kilos zu viel auf den Rippen habe, heißt das noch lange nicht, dass ich unsportlich bin oder Sport hasse.
Da Rocco aber genau das zu denken scheint, wird er mir noch unsympathischer. Es fehlt nicht mehr viel, dann ist er im Minusbereich angekommen.
Eigentlich hat dieser Idiot meine Antwort gar nicht verdient, aber ich fauche ihn dennoch wütend an: „Dasselbe wie du: Leichtathletiktraining."
„Echt?" Roccos Stimme klingt nicht abwertend, sondern positiv überrascht. „Und welche Disziplin machst du am liebsten? Kugelstoßen?"
Das ist der Moment, in dem die Wut die Oberhand gewinnt.
Zorn brodelt in meinem Inneren auf und spiegelt sich in Form von geballten Fäusten wider.
„Geht's noch?!" Verärgert springe ich auf und starre Rocco feindselig in die giftgrünen Augen. Menschen wie er, die oberflächlich denken, widern mich an. „Wie kann man nur so viele Vorurteile haben, hm? Nur weil ich kein schlankes Modepüppchen bin, schließt du direkt darauf, dass ich Kugelstoßen mache, oder was? Gott, du bist so ein Idiot, Rocco!"
Außer Atem und mit hämmerndem Herzen funkele ich den Lockenkopf an. Sein Mund steht einen kleinen Spalt offen und in seinem Blick blitzt so etwas ähnliches wie eine Mischung aus Reue und Verwirrung auf.
Ich kann Rocco ansehen, dass er gerne etwas auf meine Worte erwidern möchte, aber so weit lasse ich es nicht kommen.
Jede Sekunde, die ich in Roccos Gegenwart verbringen muss, ist die reinste Zeitverschwendung.
Da würde ich ja lieber Mathe lernen ...
Schnaufend vor Wut schnappe ich mir schließlich meinen Rucksack und eile zu den anderen Mädels aus dem Leichtathletikteam. Im ersten Moment befürchte ich, Rocco könnte mir nacheilen, doch das tut er glücklicherweise nicht.
Vielleicht scheint er endlich begriffen zu haben, dass ich nichts mit ihm zu tun haben möchte.
Spätestens nach seinen Vorurteilen mir gegenüber kann er sich seine dämliche Entschuldigung in den Allerwertesten schieben.
Gott sei Dank bleibt mir keine Zeit mehr, mich über Rocco zu ärgern und ihn in die Hölle zu verfluchen, denn in diesem Augenblick betreten Coach Miller und Coach Snow den Sportplatz.
Eigentlich würden sich ihre Wege jetzt trennen, da Coach Miller dienstags mit den Jungs an den Hochsprunganlagen übt, doch heute bleibt er wie festgewachsen neben Coach Snow stehen. Gemeinsam trommeln sie alle zusammen - sowohl die Jungs als auch die Mädchen.
Dass das nichts Gutes bedeuten kann, ist mir sofort bewusst.
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