26 - Kribbeln im Bauch
Am Samstagnachmittag finden sich Rocco und ich in vertauschten Rollen wieder. Dieses Mal bin nämlich ich diejenige, die vor Roccos Haustür steht und auf ihn wartet.
Innerlich schicke ich mindestens tausend Stoßgebete gen Himmel hinauf, dass mir nicht in wenigen Sekunden sein Vater – den ich im Übrigen noch nie gesehen habe – gegenübersteht.
Wie ich dann reagieren würde? Keine Ahnung. Vermutlich würde ich nur Blödsinn von mir geben und über das schöne Haus oder seinen tollen Sohn reden.
Zur Abwechselung steht das Glück aber heute mal auf meiner Seite, denn nicht Roccos Vater, sondern der Lockenkopf höchstpersönlich öffnet mir die Tür. Ein glückliches Strahlen breitet sich auf seinem Gesicht aus, als er mich zur Begrüßung in seine Arme schließt.
Sofort hüllt mich sein Pfefferminzduft in eine rosarote Wolke, die mich geradewegs in den siebten Himmel befördert.
„Da bist du ja endlich, Marls", grinst mich Rocco frech an, nachdem er wieder von mir ablässt. „Eigentlich dachte ich, dass nur Harlow ein Talent fürs zu spät kommen hätte."
Automatisch rolle ich mit den Augen. „Tut mir leid, dass ich noch getankt habe und jetzt zwei Minuten zu spät bin, Mister Levine. Können Sie mir nochmal verzeihen? Ganz ausnahmsweise vielleicht?"
Rocco legt gespielt nachdenklich seinen Zeigefinger an sein Kinn. „Hm", macht er. „Das kommt ganz darauf an, was Sie heute für uns geplant haben, Miss Middleton."
Um ehrlich zu sein habe ich mir sehr lange Gedanken über unser Date gemacht. Erst wollte ich mit Rocco in eine Trampolinhalle gehen, dann fand ich Fußballbillard sehr interessant, nur um am Ende von dem Hochseilgarten, der sich direkt an einem See befindet, zu schwärmen.
Letztendlich habe ich mich aber für etwas ganz anderes entschieden – auf die Empfehlung meines Bruders hin.
Hoffentlich wird es auch wirklich so gut, wie er mir versichert hat. Zu 100 Prozent sicher bin ich mir da nämlich nicht.
„Tut mir echt leid, Sie ein weiteres Mal enttäuschen zu müssen, aber das bleibt vorerst geheim." Im Einklang mit meinem letzten Wort schiebt Rocco seine Unterlippe über die Oberlippe und setzt somit sein bestes Schmoll-Gesicht auf.
Wie gut, dass ich dank meiner Geschwister immun gegen den Hundeblick bin – wobei Rocco mein Herz eindeutig zum Schmelzen bringt.
Der Lockenkopf startet noch drei weitere Versuche, mich aus der Reserve zu locken, ehe wir uns endlich in mein Auto setzen und ich uns in Richtung Zielort manövriere.
Der Weg dauert nicht lange, sodass wir schon nach einer Viertelstunde einen Wanderparkplatz erreicht haben, der zum Glück relativ leer ist. Je weniger Menschen, umso besser.
„Machst du mir etwa nach, Marls?", erkundigt sich Rocco lachend bei mir, nachdem wir aus dem Auto gestiegen sind und den Waldeingang ansteuern. „Viel Hunger für einen Restaurantbesuch habe ich ehrlich gesagt nicht mitgebracht."
Wie jedes Mal löst der melodische Klang von Roccos Lachen eine Gänsehaut auf meinem Körper aus und entfacht einen Tornado aus flatternden Schmetterlingen in meinem Magen. Wenn ich könnte, würde ich Rocco den ganzen Tag beim Lachen zuschauen und zuhören, denn dann wirkt er wie in seiner eigenen Welt.
Schade, dass das nicht möglich ist.
„Keine Sorge", versuche ich mich von dem Gefühlschaos auf meiner Seele abzulenken, „so einfallslos bin ich nicht."
Das ist alles, was ich sage, bevor ich mir Roccos Hand schnappe und ihn tiefer in den Wald hineinziehe. Da ich mir den Weg im Vorhinein ganz genau eingeprägt habe, benötige ich kein Navi und kann mich auf die Natur konzentrieren.
Es dauert ungefähr fünf Minuten, bis wir an eine Kreuzung gelangen, an der ein grünes Banner mit der Aufschrift „Mega-ZIP Line in 500 Metern" angebracht ist. Innerlich bete ich, dass Rocco nicht auf die wenigen Worte achtet, damit die Spannung weiterhin hochgehalten wird, aber leider wird mir mein Wunsch verwehrt.
Kein Wunder, dass die Menschen immer behaupten, dass das Leben kein Wunschkonzert sei ...
„Wir fahren ZIP Line?", hakt Rocco nun begeistert nach. „Krass! Das ist ja eine richtig coole Idee, Marls! Ich wollte schon immer mal so eine Seilrutsche ausprobieren." Wie bei einem kleinen Kind, das an Weihnachten seine Geschenke auspackt, strahlen mir Roccos Augen entgegen.
Dass er sich freut, ist nicht zu übersehen.
Wie es scheint, habe ich mit meiner Date-Idee – oder besser gesagt mit der von meinem Bruder – genau ins Grüne getroffen. Tja, Rocco und ich teilen halt dieselbe Vorliebe für Adrenalin und Action.
„Es kommt sogar noch besser", raune ich verschwörerisch, während wir dem Pfeil auf dem Banner folgen. „Das ist eine Doppel-ZIP Line. Wir können also gemeinsam nebeneinander fahren und Händchen halten."
Eigentlich ist der letzte Teil meines Satzes nur als Scherz gedacht, doch Rocco nickt euphorisch. „Das klingt schön. Ich freue mich!"
Ohne es verhindern zu können, breitet sich bei seinen Worten ein zufriedenes Lächeln auf meinen Lippen aus. Ich spüre, dass dieses Date ein voller Erfolg werden wird.
Und auf das Bauchgefühl ist ja bekanntlich immer Verlass, richtig?
Vor lauter Tatendrang verschnellern Rocco und ich unsere Schritte, sodass wir die ZIP Line nur wenige Minuten später erreichen. Ich kaufe uns zwei Tickets, weiche Roccos Versuchen, mir heimlich Geld zuzustecken, aus, und erklimme danach gemeinsam mit dem Lockenkopf eine Wendeltreppe, die auf einen Hang hinaufführt.
Noch während wir eine Treppenstufe nach der anderen besteigen, können wir andere Besucher dabei beobachten, wie sie die ZIP Line benutzen und nebeneinander ins Tal hinabsausen.
Direkt nehme ich ein aufgeregtes Kribbeln im Bauch wahr, das meiner Vorfreude zu verschulden ist. Ich kann es kaum erwarten, selbst in der Luft zu schweben und die Welt von oben zu bestaunen.
Leider geht es aber noch nicht direkt los. Zunächst werden Rocco und ich nämlich von zwei Mitarbeitern in Empfang genommen und mit sämtlichen Regeln konfrontiert.
Nach der Sicherheitseinweisung dauert es zum Glück nicht mehr lange, bis Rocco und ich endlich an der Reihe sind. Die Mitarbeiter helfen uns dabei, unsere Gurte einzuhaken und ein letztes Mal zu überprüfen, ob alles richtig sitzt.
„Bereit?", fragt mich Rocco, während er nach meiner Hand greift.
„Wie Gwendolyn Shepherd aus der Edelstein-Trilogie sagen würde: Bereit, wenn du es bist", erwidere ich grinsend.
Die Mitarbeiter scheinen meine Worte als eine Art Startsignal zu werten, denn keine Sekunde später setzen sich unsere Seilrutschen in Bewegung. Da die ZIP Line von einem höhergelegenen Berg in ein Tal hinabführt, erhöht sich das Tempo binnen weniger Atemzüge.
Der Fahrtwind spielt mit meinen Haaren, zerrt an meiner Kleidung und lässt mich lebendig fühlen. Wie ein Vogel strecke ich meine Arme von mir und jauchze begeistert.
So frei wie in diesem Moment habe ich mich noch nie zuvor gefühlt.
Begleitet von einem Lächeln schaue ich zu Rocco hinüber. Er hat seine Lider geschlossen und scheint dieses besondere Erlebnis genauso sehr zu genießen, wie ich.
„Mach die Augen auf, Rocco!", brülle ich wenig später gegen den Fahrtwind an. „Sonst kannst du doch gar nicht die schöne Natur bewundern!"
Um uns herum ragen die Baumkronen bis in die Wolken hinauf. Ich sehe Vögel, die in ihren Nestern brüten, und sogar vereinzelte Eichhörnchen, die sich an den Baumstämmen hinaufschlängeln. Selbst einen kleinen Teich, auf dem Seerosen schimmern, kann ich von hier oben erkennen.
Es ist wirklich wunderschön und eine einmalige Erfahrung.
Ich liebe es, wie das Adrenalin in jeder einzelnen Faser meines Körpers pulsiert und Stromschläge des Glücks durch meine Blutbahnen schickt.
Noch schöner ist es natürlich, diese Erinnerung gemeinsam mit Rocco zu erleben – dem Jungen, der mein Herz täglich Achterbahn fahren lässt.
„Wenn ich etwas zum Bewundern anschauen möchte, dann muss ich nur dich angucken, Marls!", reißt mich Roccos Stimme in die Realität zurück. Ein breites Grinsen zupft an seinen Mundwinkeln, als er mir zuzwinkert.
„Du Schleimer!"
Noch immer ist es ungewohnt für mich, Komplimente von Rocco zu bekommen. Nichtsdestotrotz gefallen mir seine lieben Worte aber, denn sie sind wie Balsam für meine Seele.
Auf der restlichen Fahrt mit der ZIP Line wechseln Rocco und ich kein Wort mehr miteinander. Wir genießen es, die Natur zu bestaunen und uns so frei wie ein Vogel zu fühlen.
Lediglich unsere Hände, die noch immer ineinander verschränkt sind, verraten mir, dass Rocco an meiner Seite ist.
Fast schon bin ich traurig, als wir nach etwa zehn Minuten die Talstation erreichen und von unseren Gurten befreit werden. Sobald ich wieder festen Boden unter den Füßen habe, verschwindet das atemberaubende Gefühl der Freiheit. Stattdessen kehren die Schmetterlinge zurück, die ihren Fokus einzig und allein auf Rocco und seine leuchtenden Augen richten.
„Wow, das war echt cool und hat total viel Spaß gemacht!", lächelt mich Rocco begeistert an. Dann schnappt er sich meine Hand und führt mich zu einem Picknicktisch, der sich nur ein paar Meter von der Talstation entfernt befindet. „Ich wusste gar nicht, dass man so viel Action in Silver Fields erleben kann."
Automatisch muss ich grinsen. „Das liegt nicht an dem Ort, sondern an deiner Date-Begleiterin."
„Ach ja?", hakt Rocco mit gehobenen Augenbrauen nach, weshalb ich sofort nicke. „Dieses Bauchkribbeln ist toll, oder?", möchte ich anschließend von ihm wissen.
Nun liegt es an Rocco, mir mit einem Kopfnicken zuzustimmen. „Um ein Bauchkribbeln zu spüren, muss ich aber nicht zwingend mit einer ZIP Line fahren", wispert er so leise und geheimnisvoll, dass sich seine Stimme beinahe in der Luft verliert. „Ich muss dich nur anschauen und schon tanzen die Schmetterlinge in meinem Bauch Samba, Marls."
Roccos Worte schlagen wie eine Bombe in meinem Herzen ein. Mir wird abwechselnd heiß und kalt und Schwindel bricht wie eine Welle über meinem Kopf zusammen.
Was soll ich bloß auf seine Aussage erwidern? Dass sich die Schmetterlinge in meinem Magen bereits in Elefanten oder sogar einen ganzen Zoo verwandelt haben?
Ganz bestimmt nicht ...
Mein Kopf ist plötzlich wie leergefegt. Ich habe keine Ahnung, was ich sagen soll. Da macht es mir Roccos intensiver und fesselnder Blick auch nicht gerade leichter, meine Augen von ihm zu nehmen und meine Gedanken zu sortieren.
„Wa-Warum sagst du so-so etwas?", stammele ich schließlich mit glühend heißen Wangen.
Mein Herz realisiert immer mehr, dass Rocco meine Gefühle teilen könnte, doch mein Kopf weigert sich weiterhin, dieser Annahme zu folgen. Im Gegensatz zu meinem Herzen möchte mich mein Kopf vor möglichen Schmerzen bewahren.
Wie gut, dass ich sowieso ein Kopfmensch bin ...
„Warum ich sage, dass ich Schmetterlinge im Bauch habe, wenn ich dich ansehe?" Rocco platziert seine rechte Hand an meiner Wange. „Ist das denn nicht klar?"
Wie in Zeitlupe schüttele ich den Kopf.
Ich muss es hören – die magischen Worte, die mir zeigen, dass mich Rocco auf dieselbe Art mag, wie ich ihn. Nur dann gelingt es mir vielleicht, endlich meine Zweifel auszublenden.
Der Gedankennebel in meinem Kopf verpufft schlagartig, als Rocco auch seine linke Hand an meine Wange legt. Sein Blick ruht erst noch auf meinen Augen, ehe er zu meinen Lippen hinunterwandert.
Ich schlucke schwer.
Mit jeder Sekunde, die verstreicht und in der ich mich nicht bewege, kommt mir Rocco langsam näher. Unsere Münder trennen nur noch wenige Zentimeter, als Rocco leise haucht: „Darf ich?"
„W-Was?" Es kostet mich all meine Kraft, dieses eine Wort über die Lippen zu bringen. Mein Verstand ist benebelt, meine Gedanken fahren Achterbahn mit Loopings und mein Körper wird von einem Erdbeben erschüttert.
„Dich küssen?!"
Vollkommen verständnislos weiche ich zurück, um Rocco besser in die Augen schauen zu können.
Meint er das gerade ernst? Seit der Clubnacht in New Rocket hat er nie wieder Anstalten gemacht, mich zu küssen.
Warum auf einmal jetzt wieder? Was hat sich zwischen uns geändert? Abgesehen von unseren Dates natürlich ...
Am liebsten würde ich meinem Drang nachgeben und Rocco küssen, aber am Ende ist es meine Angst, die mich daran hindert. Auch wenn meine Freundinnen alle etwas anderes behaupten, kann ich mir einfach nicht vorstellen, dass Rocco ebenfalls romantische Gefühle für mich hat.
Weshalb er dann bereits zum zweiten Mal mit mir auf ein Date geht? Ich weiß es nicht. Vielleicht aus Spaß und Langeweile?
Vor lauter Verzweiflung raufe ich mir die Haare.
Für Rocco ist diese Geste das Signal, sich von mir zurückzuziehen. Das Leuchten in seinen Augen erlischt und auch seine Mundwinkel neigen sich schlagartig in Richtung Boden.
Dass Rocco enttäuscht von mir und meiner Reaktion ist, ist nicht zu übersehen.
„Tut mir leid", murmelt er zerknirscht, ohne mich dabei anzusehen. „Ich wollte dich nicht überrumpeln."
‚Hast du nicht!', schreie ich in meinen Gedanken, doch meine Lippen bleiben versiegelt.
Eine unangenehme Stille breitet sich daraufhin zwischen uns aus. Ich habe keine Ahnung, wie lange wir schweigend an dem Picknicktisch sitzen, aber irgendwann fragt mich Rocco leise: „Bringst du mich nach Hause? Ich habe meinem Dad versprochen, ihm im Garten zu helfen."
Obwohl ich genau weiß, dass das nur eine lahme Ausrede ist, nicke ich. Wahrscheinlich ist es besser, wenn wir jetzt Abstand voneinander nehmen und unsere Gedanken sortieren.
Auf der Rückfahrt tauschen wir kein Wort miteinander aus. Erst als ich vor Roccos Haus halte und er die Beifahrertür öffnet, wendet er sich zu mir und murmelt mit einem gequälten Lächeln: „Danke für den Tag, Marls. Wir sehen uns."
„Ja." Das ist alles, was ich erwidern kann.
Kurz spiele ich mit dem Gedanken, Rocco zu mir zu ziehen und ihn zu küssen, allerdings ist er bereits aus dem Auto gesprungen und in Richtung Haustür verschwunden.
Damit hat das Gefühlschaos, das seit mehreren Monaten tief in meinem Herzen schlummert, nun offiziell seinen Höhepunkt erreicht.
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