20 - Kampf der Schmetterlinge
Ich habe keine Ahnung, wie und womit Valentin den Türsteher bestochen hat, doch wenig später finde ich mich in einem überfüllten Club wieder.
Die Luft wird von lauter Musik, Alkohol und Zigarettenqualm erfüllt. Auf der Tanzfläche bewegen sich die Menschen ausgelassen zum wummernden Bass und genießen die Freiheit, die durch ihre Körper strömt. Überall flackern bunte Discolichter auf, die den Raum in eine geheimnisvolle Atmosphäre tauchen.
Es mag verrückt klingen, aber ich fühle mich direkt wohl. All die Anspannung und Anstrengung des heutigen Tages fällt wie eine schwere Last von meinen Schultern ab.
Die Musik nimmt jede einzelne Zelle meines Körpers in Besitz, sodass ich nicht lange zögere und Rocco am Arm auf die Tanzfläche ziehe.
Zwar kann ich mich bei Weitem nicht so gut wie andere Mädchen in meinem Alter bewegen, aber das hindert mich nicht daran, meine Hüften kreisen zu lassen. Jauchzend strecke ich meine Arme empor und drehe mich einmal um meine eigene Achse. Dann schnappe ich mir Roccos Hand und lasse mich von ihm zu einer Pirouette verleiten.
Da ich allerdings viel zu viel Schwung habe, verliere ich mein Gleichgewicht und lande wenig später keuchend auf dem Boden. Rocco plumpst neben mir auf das Parkett, weil ich ihn aus Versehen mit mir gerissen habe.
Kurz schauen wir uns irritiert an, bevor sich ein breites Grinsen auf unsere Lippen schleicht.
„Nicht so stürmisch, Marls", streckt mir Rocco lachend die Zunge entgegen, während er mir wieder auf die Beine hilft. „Du kannst auch anders meine Nähe suchen."
In dem Moment, in dem sich unsere Hände berühren, zuckt ein elektrisierender Blitz durch meinen Körper. Wie von selbst schießt mein Herzschlag in die Höhe und mir wird abwechselnd heiß und kalt. Zusätzlich kracht eine Welle aus Schwindel über meinem Kopf zusammen, weshalb ich mich sicherheitshalber an Roccos Oberarm festhalte.
Meine Augen verankern sich mit seinen, sodass ich mich in den unendlichen Tiefen seiner grünen Iriden verliere.
Ich habe keine Ahnung, was genau Rocco mit mir anstellt, doch mein Körper reagiert mit einem Feuerwerk aus Glücksgefühlen auf seine sanften Berührungen.
Mit jeder Sekunde, die verstreicht, wird mein Herzschlag schneller.
So intensiv, wie wir uns gerade in die Augen schauen, haben wir uns noch nie angesehen.
Die Musik verebbt und die tanzenden Menschen verschwinden. Es gibt nur noch Rocco und mich.
Rocco, der mir immer näherkommt.
So nahe, dass sein warmer Atem über meine Lippen streicht.
„I-Ich-", stammele ich nervös, ohne überhaupt zu wissen, was ich sagen möchte. Die Hitze schießt mir wie ein Blitz in die Wangen und benebelt meinen Verstand.
Dass Rocco nur noch ein paar Millimeter von meinen Lippen entfernt ist und mich praktisch mit seinen Blicken auszieht, macht diese Situation nicht besser.
Sind wir wirklich nur gute Freunde?
Einerseits spüre ich ein tiefes Verlangen in mir, das mit jedem Wimpernschlag größer wird, aber andererseits streckt auch die Angst ihre Klauen nach mir aus.
Wie soll ich darauf reagieren, dass wir uns gerade so nahe sind? Dieses Feuer in meinem Körper bringt mich um den Verstand.
„Gott, mir ist so heiß", stöhne ich verzweifelt. Begleitet von meinem rasenden Herzen löse ich meine Hände von Roccos Oberarm, damit ich mir stattdessen Luft zufächeln kann. Außerdem trete ich einen Schritt nach hinten, um etwas Abstand zwischen unseren bebenden Körpern zu schaffen.
Das Feuer, das derzeit zwischen uns knistert, treibt mich an den Rand der Verzweiflung. Noch nie zuvor habe ich solch eine Begierde und Leidenschaft gespürt.
„Dir ist also heiß?", grinst mich Rocco frech an. „Warum das denn, Marls?"
Als wüsste er ganz genau, dass mich seine Anwesenheit aus dem Konzept bringt, legt Rocco seine Hände an meine Taille. Binnen eines einzigen Wimpernschlages hat er den Abstand, den ich extra zwischen uns aufgebaut habe, wieder überbrückt.
Jetzt ist mir Rocco so nahe, dass ich mir einbilde, trotz der lauten Musik seinen Herzschlag zu hören.
„Wenn du möchtest, begleite ich dich an die frische Luft", schlägt er mir mit einem Zwinkern vor. „Es sei denn, ich bin eventuell der Grund für deine plötzlichen Schweißausbrüche ..."
Eigentlich denke ich, dass wir uns nicht noch näherkommen können, doch Rocco beweist mir das Gegenteil, indem er seine Stirn an meine lehnt. Seine Fingerspitzen wandern derweil an meinen Seiten auf und ab.
Blitze, Schmetterlinge und Explosionen aus Glück vermischen sich zu einem Gefühlswirbelsturm, der wie ein Tornado durch meinen Körper fegt.
Ich vergesse, wo oben oder unten ist. Blende die Musik und die tanzenden Menschen aus. Konzentriere mich nur noch auf diese grünen funkelnden Augen, die mir geradewegs in die Seele schauen.
„Du bist so still, Marls", wispert Rocco leise gegen meine Lippen. Lediglich ein einziger Zentimeter trennt unsere Münder voneinander. „Möchtest du lieber Taten statt Worte sprechen lassen?"
Ich schlucke schwer, als Roccos Blick zu meinen Lippen gleitet.
Warum ist er mir so nahe? Warum flirtet er ununterbrochen mit mir? Und warum erweckt es den Anschein, als ob er mich küssen möchte?
Diese Spannung habe ich das letzte Mal gespürt, als wir gemeinsam in seinen Pool gesprungen sind – nur war das Knistern damals deutlich schwächer als jetzt gerade.
„Du-Du machst mich wahnsinnig, Rocco!", keuche ich atemlos. „I-Ich-" Meine Stimme bricht ab.
Plötzlich fühlt sich mein Kopf wie leergefegt an. Ich weiß nicht mehr, was ich sagen oder tun möchte. Da sind nur noch Roccos Augen, die mich verlangend anschauen.
Jedes andere Mädchen in meiner Situation würde sich vermutlich sofort wie ein wildes Tier auf ihn stürzen, doch mir machen seine Nähe und seine intensiven Blicke ehrlich gesagt ein bisschen Angst.
Ich bin noch nicht bereit dazu, die Grenze unserer Freundschaft zu überschreiten. Nicht, wenn ich nicht weiß, was in Roccos Kopf vor sich geht.
Ja, ich habe Schmetterlinge im Bauch, wenn ich in Roccos Gegenwart bin, aber ich bezweifele, dass er dasselbe fühlt, wie ich. Für ihn bin ich doch bloß eine von vielen – höchstens eine gute Freundin, der er ab und zu mal ein Kompliment macht.
Wahrscheinlich bilde ich mir auch nur die ganze Zeit ein, dass mich Rocco küssen möchte. Nur weil ich scheinbar romantische Gefühle für ihn entwickelt habe, muss das nicht auch auf meinen Gegenüber zutreffen.
Ich bin kein Mädchen, in das man sich verliebt. Dafür gibt es Mädchen wie Liana oder Cara.
„Tu-Tut mir leid", krächze ich überfordert, weil die Gedanken in meinem Kopf Karussell fahren. „Ich, ähm, ich muss echt dringend aufs Klo."
Es kostet mich all meine Kraft, mich von Roccos strahlenden Augen zu lösen und in der tanzenden Menschenmenge unterzutauchen.
Im ersten Moment habe ich Angst, Rocco könnte mir nachlaufen, aber Gott sei Dank tut er das nicht.
Ich kann mir beim besten Willen nicht erklären, was da gerade auf der Tanzfläche passiert ist. Solch eine starke Anziehung habe ich noch nie in meinem ganzen Leben gespürt.
Ein zittriger Seufzer entflieht meinen Lippen, als ich in die Frauentoilette stürze und mich am Waschbecken abstütze. Meine Wangen glühen und mein Körper fühlt sich wie Wackelpudding an.
Was auch immer das gerade zwischen Rocco und mir war: Mich beschleicht das Gefühl, als hätte mich seine Nähe auf Wolke Sieben katapultiert.
Selbst das eiskalte Wasser, das ich mir ins Gesicht spritze, hilft mir nicht dabei, klare Gedanken zu fassen.
Ich möchte diese dämliche rosarote Brille nicht tragen. Und auch diese blöden Schmetterlinge, die neuerdings wie verrückt Salti in meinem Magen schlagen, sollen wieder verschwinden.
Ich will das nicht! Nichts von alledem!
Ich bin maßlos überfordert.
Am liebsten würde ich jetzt Liana anrufen und sie um ihre Hilfe bitten, aber da es sich um Rocco handelt, auf den meine beste Freundin selbst mal ein Auge geworfen hat, verwerfe ich diesen Gedanken schnell wieder.
Irgendwie werde ich schon zurechtkommen. Ich darf nur nicht mehr mit Rocco allein sein und muss allgemein versuchen, seine Nähe zu meiden.
Dass das Schicksal anderer Meinung ist als ich, wird mir bewusst, als ich die Toilette wieder verlasse und direkt vor einem lächelnden Rocco zum Stehen komme.
Scheinbar ist er mir doch gefolgt und hat sogar auf mich gewartet.
‚Oh Gott, wie peinlich!', schießt es mir durch den Kopf.
Nach meinem überstürzten Abgang auf der Tanzfläche denkt er bestimmt, dass ich nicht mehr alle Tassen im Schrank habe – was in gewisser Weise auch stimmt.
„Da bist du ja wieder. Ich hoffe jetzt einfach mal, dass du nicht meinetwegen abgehauen bist, sondern wirklich auf die Toilette musstest", murmelt Rocco mit einem Hauch von Nervosität in der Stimme. „Komm mit, Marls. Ich möchte mit dir reden."
Ohne mir die Chance zu geben, etwas auf seine Worte zu erwidern, schnappt sich Rocco mein Handgelenk. Statt mich jedoch direkt aus dem Club zu führen, bestellt er zunächst zwei Gläser Cola an der Bar für uns.
Zucker ist jetzt genau das Richtige für mich. Vielleicht kann ich dann auch wieder klare Gedanken fassen.
In dem kleinen Außenbereich des Clubs angekommen, lassen sich Rocco und ich auf einem roten Sofa nieder. Da mir der Lockenkopf schon wieder viel zu nahe ist und mich somit aus dem Konzept bringt, rutsche ich ein Stück von ihm weg.
Um mich nicht auf die Schmetterlinge in meinem Bauch konzentrieren zu müssen, nippe ich schnell an der Cola. Leider beruhigt der Zucker meinen Herzschlag aber auch nicht, sondern treibt ihn noch weiter in die Höhe.
„Es tut mir leid, falls du dich gerade auf der Tanzfläche von mir bedrängt gefühlt haben solltest", beginnt Rocco leise zu sprechen.
Obwohl ich es nicht wage, meinen Kopf in seine Richtung zu drehen, spüre ich, wie sich sein intensiver Blick durch meine Haut frisst.
Automatisch macht mein Herz einen aufgeregten Hüpfer.
„Ich dachte nur irgendwie, dass du auch dieses Knistern zwischen uns gespürt hättest."
Dieses Mal wirken sich Roccos Worte nicht nur auf mein rasendes Herz aus, sie kämpfen sich zusätzlich unter meine Haut. Ein angenehmes Kribbeln, das sich mit den Schmetterlingen in meinem Magen vermischt, breitet sich in meinem Körper aus.
Zu wissen, dass ich Roccos Nähe und seine Blicke doch nicht falsch gedeutet habe, erleichtert mich.
Auf der anderen Seite macht mir seine Zuneigung aber eine furchtbar große Angst, da ich nicht weiß, wie das zwischen uns beiden weitergehen soll.
Gut möglich, dass Rocco irgendein Knistern zwischen uns gespürt hat, aber ich bezweifele dennoch, dass er tiefergehende Gefühle für mich entwickeln könnte.
Wir zwei spielen in ganz verschiedenen Ligen. Mädchen wie Liana oder Cara wären viel eher auf Roccos Augenhöhe.
Warum also schaut er ausgerechnet mich mit diesem liebestrunkenen Blick an?
„Du bist ein ganz besonderer Mensch für mich, Marley", wispert Rocco nach einer Weile. Seine Hände legen sich vorsichtig an meine glühenden Wangen und sorgen dafür, dass ich meinen Blick nicht von ihm abwenden kann.
„Hast du überhaupt eine Ahnung, was du alles mit mir anstellst?"
Wie hypnotisiert schüttele ich den Kopf.
„Du-Du-", stammelt Rocco überfordert. „Ach, weißt du was? Scheiß drauf!"
Noch bevor ich realisieren kann, was Rocco mit seiner Aussage meint, beugt er sich zu mir hinüber und nähert sich langsam meinen Lippen. Wie von selbst schwingen seine Augenlider dabei zu.
Mit jedem Herzschlag, der beinahe meine Rippen zertrümmert, wächst die Angst in mir.
Ein einziger Millimeter – mehr Platz befindet sich nicht zwischen unseren Lippen.
‚Steh auf und renn weg! Es ist zu früh, für deinen ersten Kuss!', schreien mich meine Gedanken an.
Am liebsten würde ich auf sie hören und tatsächlich davonlaufen, doch mein Körper gehorcht mir nicht. Stattdessen bleibt mir nur noch eine einzige Möglichkeit: Den Kopf zur Seite zu drehen, damit Roccos Lippen lediglich auf meine Wange treffen.
Wie bei einem Blitzeinschlag durchzucken mich elektrisierende Wirbel, als Rocco meine Wange küsst.
Seine Berührungen sind sanft und vorsichtig – fast so, als wäre ich etwas Kostbares für ihn, das nicht kaputtgehen darf.
Lange bleibt dieses schöne Gefühl aber nicht bestehen, denn nur eine Sekunde später löst sich Rocco verwirrt von mir. Ein Schleier aus Unsicherheit umhüllt seine dunkle Iris, während ihm die Schamesröte langsam in die Wangen kriecht.
„Oh, ich, ähm, es tut mir leid, Marls", verhaspelt er sich peinlich berührt. „Das, na ja, das kam jetzt bestimmt total falsch rüber, aber es hat sich einfach richtig angefühlt. Ich wollte nicht-"
Ohne seinen Satz fortzuführen, hält Rocco auf einmal inne. Sein Blick wandert an mir vorbei und fokussiert stattdessen etwas anderes. Binnen eines Wimpernschlages breiten sich Wut, Abneigung und Ekel auf seinem Gesicht aus.
Was hat das bloß zu bedeuten? Bemerkt er endlich, was für ein hässliches Entlein ich bin?
„Rocco?", frage ich meinen Gegenüber unsicher und greife dabei nach seiner Hand. „Alles in Ordnung?"
Keine Antwort. Er scheint meine Frage nicht einmal registriert zu haben.
Ob er wohl sauer oder eingeschnappt ist, weil ich meinen Kopf zur Seite gedreht habe?
„Hör mir zu, Rocco, ich mag dich auch sehr gerne", beginne ich vorsichtig. „Aber ich weiß nicht, ob jemand wie du mit jemandem wie mir glücklich werden könnte."
Verzweifelt suche ich nach seinen grünen Augen, doch sie bleiben weiterhin von mir abgewendet.
„Rocco?"
Im Einklang mit seinem Namen erhebt sich der Lockenkopf von dem Sofa.
Sein Cola-Glas zersplittert lautstark auf dem Boden.
Mit zielstrebigen Schritten eilt er über die Terrasse, geradewegs auf ein knutschendes Pärchen zu.
Im ersten Moment verstehe ich nicht, warum Rocco so aufgewühlt ist, doch sobald er den Jungen mit den schwarzen Haaren von dem leichtbekleideten Mädchen wegzieht, bleibt mir das Herz stehen.
Der Junge und das Mädchen sind keine Fremden.
Es sind Valentin und Cara.
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