18 - Der entscheidende Stoß
Der Sportplatz in New Rocket ist kein Vergleich zu dem in meiner Heimatstadt Silver Fields. Viel eher erinnert er an ein riesiges Stadion, das man nur von den internationalen Wettkämpfen aus dem Fernsehen kennt.
Wie in einer Arena befindet sich eine gigantische Tribüne rings um die Laufbahn herum. Überall sitzen Menschen, die sich lautstark miteinander unterhalten, motivierende Fangesänge anstimmen oder Fahnen mit Schullogos schwenken.
Bei diesem Anblick könnte man fast schon meinen, dass hier die Olympischen Spiele und nicht bloß irgendwelche belanglosen Schulmeisterschaften stattfinden würden.
„Wow", raune ich beeindruckt, während ich den anderen aus meinem Team folge.
Scheinbar bin ich die Einzige, die von diesem Sportstadion überwältigt ist, denn meine Mannschaftskollegen watscheln schnurstracks Coach Miller und Coach Snow hinterher, ohne auch nur einen Blick auf die blaue Tartanbahn oder die Tribüne zu werfen.
Meiner Meinung nach ist dieser Sportplatz der absolute Wahnsinn! An diesem besonderen Ort für die Southwest High antreten zu dürfen, ist mir eine große Ehre.
So motiviert, wie ich mich in diesem Moment fühle, war ich glaube ich noch nie zuvor.
Eigentlich ein gutes Zeichen, dass nachher alles rund läuft, oder?
„Hey, du Träumerchen!", reißt mich auf einmal Roccos belustigte Stimme in die Realität zurück. „Leg mal einen Zahn zu, sonst sind die besten Plätze gleich schon weg."
Ich blinzele einmal irritiert, ehe ich mit zügigen Schritten zu Rocco aufschließe und mir gemeinsam mit ihm einen Sitzplatz auf der Tribüne suche.
Ob es sich bloß um einen blöden Zufall handelt, dass sich Cara auf die andere Seite von Rocco setzt, weiß ich nicht, aber es stört mich. Kann sie sich nicht einen anderen Sportler aussuchen, den sie nerven kann?
So sehnsüchtig, wie die Hexe Rocco anschmachtet, könnte selbst ein Blinder sehen, wie vernarrt sie in ihn ist.
Zu meinem Bedauern scheint Rocco aber auch nicht gerade abgeneigt zu sein, denn die beiden unterhalten sich angeregt, sodass sie ihre Umwelt – also auch mich – komplett ausblenden. Weder der Begrüßungsrede noch den letzten motivierenden Worten von Coach Miller schenken sie ihr Gehör.
Alles, was die beiden tun, ist dämlich zu kichern und leise miteinander zu tuscheln.
Ich wünschte, es wäre mir egal, dass mich Rocco ignoriert, aber leider ist es das nicht. Ein unangenehmes Stechen, das eindeutig der Eifersucht zu verschulden ist, durchbohrt mein Herz und lässt mich schwer schlucken. Plötzlich fühle ich mich total fehl am Platz und einfach nur überflüssig.
Besser, ich gehe jetzt, bevor ich mich noch länger dem Risiko aussetze, von Caras dämlichem Kichern Ohrenkrebs zu bekommen.
Sollen die beiden doch so viel herumturteln, wie sie wollen. Mir egal!
Auch wenn das Kugelstoßen erst in einer Stunde beginnt, schnappe ich mir meinen Rucksack und verlasse dann das Sportstadion. Da auf der Laufbahn in wenigen Minuten die ersten Wettkämpfe ausgetragen werden, kann diese nicht zum Aufwärmen genutzt werden.
Glücklicherweise befindet sich aber eine kleine Rasenfläche neben dem Sportplatz, auf welcher ich mich für das Kugelstoßen vorbereiten kann.
Bis es jedoch so weit ist, kapsele ich mich mittels meiner Musik von der Außenwelt ab und schließe die Augen. Die warmen Sonnenstrahlen tanzen munter über mein Gesicht und entspannen auf wundersame Art und Weise meine verkrampften Muskeln.
Ich versuche, meine Gedanken abzuschalten und einzig und allein die Ruhe, die mich hier draußen umgibt, zu genießen.
Schneller als mir lieb ist, verfalle ich in romantische Tagträume von Rocco und mir. Den Bezug zur Realität verliere ich dabei komplett.
☆☆☆
„Marley!" Jemand rüttelt unaufhaltsam an meinen Schultern. „Verdammt, Marley! Mach die Augen auf!"
Genervt von dieser schrillen Stimme, die meinen schönen Strandurlaub mit Rocco durchkreuzt, stoße ich ein Seufzen aus. Können wir nicht einfach ungestört unsere Zweisamkeit genießen, statt von irgendeiner Nervensäge belästigt zu werden?
Scheinbar nicht, denn die Person rüttelt erneut an meinen Schultern. Dieses Mal so stark, dass ich meine Augenlider aufreiße.
Sofort lösen sich das Meer, der Strand und leider auch Rocco, der eine knappe Badeshorts trägt, in Luft auf. Stattdessen schieben sich braune Augen, Sommersprossen und eine schwarze Igel-Frisur in mein Sichtfeld.
Mit verschränkten Armen und einem verkniffenen Gesichtsausdruck hat sich Valentin vor mir aufgebaut.
Dass er alles andere als glücklich ist, ist nicht zu übersehen.
Schnell ziehe ich mir die Kopfhörer aus den Ohren, ehe ich von meinem Gegenüber wissen möchte: „Ist alles okay, Valentin?"
Wie überflüssig diese Frage ist, realisiere ich erst, als der Angesprochene ein verächtliches Schnauben von sich gibt.
„Du fragst mich ernsthaft, ob alles okay sei?!", wiederholt er ungläubig meine Worte. „Seit fast zehn Minuten sucht dich das halbe Team, weil du unauffindbar warst, Marley. Das Kugelstoßen geht in fünf Minuten los. Besser, du schwingst deinen Arsch sofort ins Stadion, bevor ich dich noch für deine Dummheit ohrfeigen kann! Jetzt gerade ist kein guter Zeitpunkt, um Harlows Verspätungskünste zu übernehmen."
Valentins Worte schlagen wie eine Bombe in meinem Kopf ein.
Im ersten Moment verstehe ich überhaupt nicht, was sein Problem ist, bis ich einen Blick auf meine Armbanduhr werfe und sich der Nebel in meinem Gedächtnis lichtet.
11:25 Uhr.
In fünf Minuten beginnt mein Wettkampf.
Scheiße!
Wie konnte ich nur so dämlich sein und mich vollends der Musik und meinen Tagträumen hingeben? Ich hätte fokussierter bleiben müssen und nicht einschlafen dürfen!
Verflucht sei Rocco, der in seiner roten Badehose unwiderstehlich heiß aussah!
„Gott, bin ich dumm!"
Da mir aktuell keine Zeit für weitere Selbstvorwürfe bleibt, schultere ich hektisch meinen Rucksack, ehe ich mich mit Valentin an meiner Seite zurück in das riesige Sportstadion begebe. Tatsächlich befinden sich schon mehrere Athletinnen am Kugelstoßring und lauschen aufmerksam den Worten eines Wettkampfrichters.
Verdammt! Hoffentlich habe ich nichts Wichtiges verpasst und darf noch an dem Wettkampf teilnehmen.
Mit glühenden Wangen und rasendem Herzen komme ich neben Cara zum Stehen. Ihre Augen, die sie zu schmalen Schlitzen verengt hat, schießen wütende Blitze auf mich ab.
Auch wenn ich es nicht gerne zugebe, ist ihre Abneigung mir gegenüber in diesem Moment mehr als nur berechtigt. Wäre ich nicht rechtzeitig erschienen, hätte das das Aus für unser Team bedeuten können.
Meine Gedanken verpuffen, sobald mein Name ertönt. Wie es scheint, beginnt das Kugelstoßen in genau dieser Sekunde – ohne, dass ich mich aufgewärmt habe.
Oh je, Augen zu und durch, richtig? Eine andere Möglichkeit habe ich sowieso nicht.
Mein Körper zittert wie Espenlaub, als ich meine Hände mit Magnesium einreibe. Ich atme noch ein letztes Mal tief durch und versuche meine Konzentration auf meinen ersten Versuch zu fokussieren, ehe ich mich mit der Kugel in den Ring begebe.
Mein Herz schlägt so laut, dass es den Lärm der Zuschauer übertönt. Zu allem Überfluss machen sich auch noch Schwindel und Übelkeit in mir breit, was meiner Nervosität zu verschulden ist.
„Ganz ruhig, Marley", versuche ich mir selbst Mut zuzureden. „Du kannst das."
Mit geschlossenen Augen platziere ich die kalte Kugel in meiner Halsbeuge. Meine Finger beben so sehr, dass ich die Kugel beinahe wieder fallenlasse.
‚Konzentriere dich!', ermahne ich mich gedanklich.
Für genau diesen Moment habe ich wochenlang trainiert und Caras Schikanen über mich ergehen lassen. Wenn ich mein Potenzial jetzt nicht abrufe, dann war die ganze Anstrengung umsonst.
Ein letztes Mal bündele ich all meine Kraft, bevor ich mich explosionsartig umdrehe und die Kugel von mir wegstoße. Da ich jedoch viel zu viel Schwung habe, kann ich mein Körpergewicht nicht abfangen und trete vorne über.
„Ungültig!", ertönt sofort das Wort, das ich unter keinen Umständen hören wollte.
Es sind nur acht Buchstaben und dennoch erfüllen sie mich mit tiefsitzender Enttäuschung.
Direkt den ersten Versuch zu versemmeln, war definitiv nicht geplant.
Der Scham kriecht mir unangenehm in die Wangen, als ich mit gesenktem Kopf den Kugelstoßring verlasse. Obwohl ich nicht aufschaue, spüre ich die messerscharfen Blicke meiner Konkurrentinnen mehr als nur deutlich in meinem Rücken.
Auch Caras vernichtenden Blick nehme ich aus dem Augenwinkel wahr. Wären wir allein hier, würde sie mich vermutlich am liebsten in eine hässliche Kröte verzaubern.
Begleitet von der Frustration lasse ich mich im Schatten auf der Rasenfläche nieder. Das schlechte Gewissen nagt wie ein lästiges Insekt an mir und auch die Wut auf mich selbst nimmt mit jeder Sekunde an Größe zu.
Nur weil ich so dämlich war und mich mit Musik von meiner Aufregung – und zugegebenermaßen auch von Roccos und Caras Flirterei – ablenken wollte, habe ich meinen Fokus für den Wettkampf verloren.
Was, wenn ich zwei weitere ungültige Versuche an den Tag lege? Dann können wir uns das Finale der Schulmeisterschaften so gut wie abschminken.
Ich allein würde dann die Schuld an unserer Niederlage tragen.
Und ganz ehrlich? Das würde ich mir nie verzeihen!
Der Druck, den ich mir selbst mache, wird mir bei meinem zweiten Versuch direkt zum Verhängnis. Da ich krampfhaft versuche, alles richtig zu machen, achte ich nicht auf meine Füße und trete erneut über – wenn auch nur ein paar Millimeter.
Wieder hebt der Wettkampfrichter seine rote Fahne und wieder ist mein Versuch ungültig.
„Scheiße!" Ich raufe mir verzweifelt die Haare.
Eine Mischung aus Wut, Scham und Selbsthass braut sich in meinem Inneren zusammen. Es ist mir furchtbar peinlich, bei dem wohl wichtigsten Wettkampf des Jahres solch eine schlechte Leistung zu zeigen.
Besonders leid tut es mir für meine Teamkameraden, die alle auf mich und meine Leistung zählen.
Gott, wie soll ich ihnen nachher bloß erklären, dass ich versagt habe? Dass alle Anstrengungen umsonst waren? Dass wir meinetwegen das Finale nicht erreichen werden?
Auch wenn ich dagegen ankämpfe, kann ich nicht verhindern, dass sich die ersten Tränen aus meinen Augenwinkeln lösen. Normalerweise ist es mir egal, wenn ich keine gute Leistung erbringe, aber heute ist das anders.
Heute bin ich nämlich nicht nur für mich selbst, sondern für ein ganzes Team verantwortlich. Wohlbemerkt für mein Team.
Mit hängendem Kopf und beißenden Schuldgefühlen lasse ich mich wieder auf meinem Schattenplätzchen nieder. Die Tränen kullern noch immer über meine Wangen und wollen einfach keinen Stillstand herbeiführen.
„Na Marls?", ertönt plötzlich eine bekannte Stimme hinter mir. Ohne mich umdrehen zu müssen, weiß ich sofort, dass Rocco derjenige ist, der seine warmen Hände auf meinen Schultern ablegt. Nicht nur sein Geruch nach Pfefferminze verrät ihn, sondern auch das aufgeregte Kribbeln in meiner Magengrube. „Wie läuft es bis jetzt? Bist du zufrieden mit deiner Leistung?"
„Nein, es läuft scheiße!", presse ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
„Was? Warum?" Rocco lässt sich neben mich auf den Rasen plumpsen. Sobald seine Augen auf meine treffen, bahnen sich weitere Glasperlen einen Weg an die Freiheit.
Das alles ist mir furchtbar peinlich. Ich hätte mich mehr auf meinen Wettkampf konzentrieren müssen, denn dann wäre dieses Desaster vermutlich gar nicht erst entstanden.
„Hey! Alles ist gut, Marls", versucht mich Rocco zu trösten. Liebevoll streicht er mir die Tränen von der Haut, ehe er mich an seine Brust zieht.
Obwohl das schlechte Gewissen und der Scham noch immer wie Parasiten an mir nagen, entspanne ich mich ein wenig. In Roccos Gegenwart habe ich das Gefühl, dass es okay ist, schwach zu sein und meinen Emotionen freien Lauf zu lassen.
Er ist die einzige Person hier in New Rocket, die mich nicht verurteilt. Alle anderen werden mich hassen, wenn sie von meinem Auftritt erfahren.
„Möchtest du mir verraten, warum dein Wettkampf bisher scheiße läuft?"
Vorsichtig löse ich mich aus Roccos Armen, um ihm in die Augen schauen zu können. Eine Mischung aus Mitleid und Zuversicht verschleiert seinen Blick.
„Beide Versuche waren ungültig", gestehe ich deprimiert. „Tja, wer aber auch so dumm war und die Zeit verpennt hat, sodass er sich nicht mehr aufwärmen konnte, hat vermutlich auch nichts anderes verdient."
Ein riesiger Kloß, der sich einfach nicht herunterschlucken lassen möchte, bildet sich in meinem Hals. Zusätzlich steigt Schwindel in mir auf und mir wird abwechselnd heiß und kalt.
Kurz gesagt: Ich fühle mich schrecklich.
Da hilft es leider auch überhaupt nicht, als Rocco aufmunternd meine Hand drückt und behauptet: „Du musst an dich selbst glauben, Marls! Du kannst das! Ich weiß, wie gut du bist. Du kannst ruhig etwas selbstbewusster sein! Zeig den ganzen Mädels hier, was du draufhast!"
Wie zwei Magnete, die nicht voneinander ablassen können, verliere ich mich in Roccos grünen Augen.
Zu wissen, dass er an mich und meine Fähigkeiten glaubt, verleiht mir unheimlich viel Kraft und Stärke.
„Danke", wispere ich so leise, dass meine Stimme nichts weiter als ein Hauchen ist. Wie von selbst komme ich Rocco immer näher, bis unsere Lippen nur noch wenige Zentimeter trennen. Sein warmer Atem kriecht schauernd über mein Gesicht und verpasst mir eine Gänsehaut.
Wenn ich nicht aufpasse und schleunigst etwas Abstand zwischen uns bringe, verabschiedet sich meine Konzentration gleich komplett.
Glücklicherweise werde ich in genau diesem Moment für meinen letzten Versuch aufgerufen, sodass ich mich ruckartig von Roccos intensivem Blick losreiße. Das Rasen meines Herzens und die Ameisen, die unter meiner Haut Samba tanzen, bleiben jedoch bestehen.
„Du schaffst das, Marls! Gib alles!"
Mit Roccos Stimme im Hinterkopf betrete ich den Ring. Meine Atmung geht stoßweise, als ich die Kugel an meinen Hals presse, mich explosiv umdrehe und die Kugel abschließend mit all meiner Kraft von mir wegdrücke.
Ein lauter Schrei, der meine Frustration widerspiegelt, verlässt dabei meine Lippen.
Auch bei meinem letzten Versuch drohe ich, mein Körpergewicht nicht abfangen zu können, doch irgendwie schaffe ich es in letzter Sekunde, nicht überzutreten.
Mein Versuch ist gültig.
Und verdammt gut!
„Zehn Meter und 51 Zentimeter!", lautet das Ergebnis des Wettkampfrichters.
Tatsächlich ist das eine neue Bestleistung für mich.
Kreischend vor Glück – und natürlich auch vor Erleichterung – renne ich zu Rocco zurück und werfe mich in seine Arme. Nur seinetwegen habe ich nicht komplett die Nerven verloren und konnte wenigstens in meinem letzten Versuch meine Leistung abliefern.
„Danke, Rocco!", strahle ich ihn überglücklich an. Um meinen Dank zum Ausdruck zu bringen, hauche ich ihm einen federleichten Kuss auf die Wange. „Ohne dich wäre das in einem absoluten Desaster geendet. Danke, dass du an mich geglaubt hast."
Rocco erwidert meinen Blick. Seine grünen Augen funkeln, wohingegen ein breites Grinsen an seinen Mundwinkeln zupft.
Wie von selbst schießt mein Herzschlag in die Höhe.
„Sehr gerne, Marls", wispert Rocco in mein Ohr. „In der Zukunft werde ich dich wohl öfter aufmuntern, wenn das bedeutet, dass ich im Gegenzug einen Kuss von dir bekomme."
Im Einklang mit seinen Worten wird die Hitze, die in meinem Körper brodelt, unerträglich.
Irgendetwas passiert da gerade zwischen uns, das ich nicht in Worte fassen kann.
Rocco und ich sind uns mittlerweile so vertraut, dass der einzige Gedanke, der mir durch den Kopf schießt ‚Nichts lieber als das!' lautet.
Was das zu bedeuten hat?
Dass ich dabei bin, mein Herz endgültig an Rocco Levine zu verlieren.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro