16 - Mario Kart Weltmeister
Mein Bauch kribbelt aufgeregt, als ich mich am Freitagnachmittag nach Schulschluss neben Rocco in den riesigen Reisebus setze.
Einerseits bin ich nervös, weil wir in wenigen Minuten nach New Rocket - dem Ort, an dem die Qualifikation für das Finale der Schulmeisterschaften ausgetragen wird - aufbrechen werden, aber andererseits ist es Roccos Anwesenheit zu verschulden, dass ich so hibbelig bin. Mein Herz springt mir beinahe aus der Brust und meine Atmung geht viel zu schnell.
Seit mir Ariella den Floh ins Ohr gesetzt hat, dass Rocco und ich ineinander verliebt seien, nehme ich den Lockenkopf mit ganz anderen Augen wahr.
Ständig achte ich darauf, wie er mit mir redet und was für Blicke er mir zuwirft. Außerdem erwische ich mich selbst dabei, wie meine Augen im Klassenzimmer oder auf dem Schulhof immer zuerst nach Roccos schwarzem Haarschopf Ausschau halten.
Ich bin definitiv nicht verliebt, aber nur als einen guten Freund sehe ich Rocco irgendwie auch nicht an.
Oh man. Was ist bloß los mit mir? Aktuell verstehe ich mich selbst nicht. Ich muss dringend mehr Kaffee trinken und mehr Schokoladenkekse essen, um meine verwirrenden Gedanken bezüglich Rocco loszuwerden.
Gott sei Dank bleibt mir auf der dreistündigen Fahrt nach New Rocket keine Zeit, um über mein Gefühlschaos nachzudenken, da Rocco und ich gemeinsam Musik hören und nebenbei auf unseren Nintendos Mario Kart spielen.
Dafür, dass ich mir die beiden Nintendos über das Wochenende von meinen kleinen Schwestern ausleihen durfte, musste ich ihnen im Gegenzug jeweils 30 Dollar zahlen. Wie man verhandelt, wissen die Zwillinge ganz genau, schließlich haben sie von der Besten - also mir - gelernt.
„Das gibt es doch nicht!", flucht Rocco frustriert, als sein Charakter die Ziellinie überfährt. „Wie kann es sein, dass du jedes verdammte Mal gewinnst und ich immer kurz vor dem Ziel von einem Panzer getroffen werde? Du hast doch bestimmt irgendwas eingestellt, damit ich verliere, oder?"
In Roccos Augen spiegelt sich eine Mischung aus Enttäuschung und purer Verzweiflung wider.
Laut eigenen Aussagen war Rocco als Kind ungeschlagener Weltmeister im Mario Kart fahren, doch von seinen Fähigkeiten ist nichts übriggeblieben. Ständig fährt er in Bananen, verliert die Orientierung oder fällt von der Strecke.
Mit einem Weltmeister hat das absolut gar nichts zu tun.
„Du musst dich mehr anstrengen, mein Lieber", ärgere ich Rocco, indem ich ihm die Zunge herausstrecke. „Vielleicht ist Yoshi aber auch einfach von Grund auf langsamer als Peach."
Während ich amüsiert über meinen Sieg grinse, sacken Roccos Mundwinkel immer weiter nach unten. Scheinbar kratzt es gerade gehörig an seinem Ego, dass er schon wieder verloren hat - und dann auch noch gegen ein Mädchen.
„Ich verliere nur die ganze Zeit, weil du so blöde Strecken aussuchst", behauptet Rocco nach einer Weile eingeschnappt.
Um ehrlich zu sein sieht es furchtbar niedlich aus, wie er einen Schmollmund zieht und dabei seinen besten Hundeblick aufsetzt. Würden wir uns nicht in einem überfüllten Bus, in dem gefühlt jedes zweite Mädchen ein Auge auf Rocco geworfen hat, befinden, dann würde ich ihm jetzt lachend in die Wange kneifen - einfach, weil er so süß und unschuldig aussieht.
Da ich allerdings nicht noch mehr Zorn - vor allem nicht von Cara - auf mich ziehen möchte, behalte ich meine Hände lieber bei mir.
Wahrscheinlich sorgt es sowieso schon für genug Lästereien und Gerüchte, dass Rocco und ich nebeneinandersitzen und uns Kopfhörer teilen.
Ich schlucke einmal schwer und verbanne die negativen Emotionen aus meinem Körper.
„Es liegt also nur an der Streckenauswahl, dass du die ganze Zeit verlierst?", frage ich Rocco mit hochgezogenen Augenbrauen, woraufhin er sofort nickt. „Okay. Dann darfst du dir die nächste Strecke aussuchen."
Freundlich, wie ich manchmal sein kann, überreiche ich Rocco meinen Nintendo, damit er sich die verschiedenen Bahnen anschauen kann.
Es dauert gar nicht lange, da hat er sich auch schon entschieden.
„Ernsthaft?", seufze ich unzufrieden, als mir schillernd bunte Farben auf meinem Display entgegenspringen.
Es gibt genau eine Strecke, die ich nicht mag, und natürlich hat Rocco genau diese ausgewählt: Die berühmt berüchtigte Regenbogenbahn.
„Ja, ernsthaft!", bestätigt Rocco grinsend, während er konzentriert den Countdown auf seinem Bildschirm verfolgt. „Jetzt zeigt sich, wer der wahre Meister bei Mario Kart ist."
„Du meinst wohl die wahre Meisterin", korrigiere ich ihn, bevor das Spiel startet.
Sofort geben wir Vollgas und sausen über die regenbogenfarbene Rennstrecke. Um Rocco zu ärgern, dränge ich ihn extra an die Seite, sodass sein Auto wenig später von der Bahn in den Abgrund stürzt.
„Marley!", schreit Rocco daraufhin wütend. Seine grünen Augen bohren sich wie messerscharfe Pfeilspitzen in meine Haut und veranlassen mich zum Schmunzeln.
Zu sehen, wie sich Rocco wegen eines dämlichen Spiels aufregt, ist äußerst amüsant. Wie schon mal erwähnt: Er kann einfach nicht verlieren.
Ein Grund mehr, um auf ihn zu warten und ihn dann erneut von der Rennstrecke zu drängen.
„Jetzt reicht es mir!", grummelt Rocco, nachdem er ein weiteres Mal von der Bahn gefallen ist. „Ich habe keine Lust mehr! Das Spiel ist doof! Und du bist übrigens auch doof, Marley!"
Wie ein beleidigtes Kind, das seinen Willen nicht durchgesetzt bekommen hat, klappt Rocco seinen Nintendo mitten im Rennen zu, bevor er ihn komplett ausschaltet.
Dass er freiwillig aufgibt, sieht ihm überhaupt nicht ähnlich. Dennoch bringt mich seine Reaktion zum Lachen.
Endlich habe ich eine Sache gefunden, in der ich besser bin als Rocco: Mario Kart fahren auf dem Nintendo. Seine Niederlage werde ich ihm mindestens noch die nächsten zehn Jahre unter die Nase reiben.
„Wow", grinse ich Rocco schließlich frech an. „Dass du so schnell den Kopf in den Sand steckst, habe ich nicht erwartet. Na ja, umso besser für mich."
„Das Spiel hat einfach keinen Spaß gemacht", versucht sich Rocco zu rechtfertigen. „Außerdem müssten wir gleich in New Rocket sein. Da solltest du dir lieber die schöne Landschaft anschauen, statt auf einen kleinen Bildschirm zu starren, Marls. Im Grunde genommen wollte ich dir also nur einen Gefallen tun."
Obwohl mir noch ein paar feurige Kommentare auf der Zunge brennen, schlucke ich diese allesamt herunter. In den nächsten Tagen wird Rocco noch oft genug zu spüren bekommen, was es bedeutet, gegen mich verloren zu haben.
Auf der restlichen Fahrt nach New Rocket hören wir Musik und schauen neugierig aus dem Busfenster.
Die Natur rund um New Rocket ist unbeschreiblich schön. Überall ragen Berge in den Himmel empor, Seen glitzern in der matten Abendsonne und bunte Blumen liefern sich ein Duell mit grasgrünen Weiden. An einem kleinen Felsvorsprung können wir sogar einen Wasserfall entdecken.
So schön hatte ich diesen Ort überhaupt nicht in Erinnerung.
Jetzt, wo ich diese traumhafte Landschaft sehe, kann ich mir gut vorstellen, öfter herzukommen - wenn auch nur für ein verlängertes Wochenende.
Da bereits die Dämmerung eintritt und noch niemand aus dem Team etwas gegessen hat, legt der Bus einen kurzen Zwischenstopp bei einer Pizzeria ein.
Nett, wie Coach Miller und Coach Snow abseits des Sportplatzes sein können, spendieren sie uns das Abendessen - natürlich nicht, ohne dabei zu erwähnen, dass das ein Anreiz für neue Bestleistungen sein soll.
Fast schon fühle ich mich schlecht, dass ich als einziges Mädchen eine fettige Salamipizza esse, aber weil sich Rocco ebenfalls für eine Pizza mit Extraportion Käse entscheidet, nimmt mein schlechtes Gewissen schnell wieder ab.
Wie hat Rocco vor ein paar Monaten so schön gesagt? „Scheiß auf die ganzen Hungerhaken, die nur Salatblätter in sich hineinstopfen!"
Es ist halb zehn am Abend, als wir endlich die Jugendherberge am Rand von New Rocket erreichen. Gott sei Dank haben wir die Zimmer schon zuvor eingeteilt, sodass es nun keine unnötigen Diskussionen oder Streitereien gibt.
Alle scheinen einfach nur froh zu sein, wenn sie in ihre Betten fallen können - ich eingeschlossen.
Sobald mir Coach Snow einen Schlüssel mit der Nummer 108 in die Hand drückt, mache ich mich gemeinsam mit Rocco auf die Suche nach unserem Zimmer.
Anfangs waren Coach Miller und Coach Snow überhaupt nicht begeistert davon, dass wir uns ein Zimmer teilen wollten, aber letztendlich haben sie mit den Worten „Wehe, ihr benehmt euch nicht anständig" unserem Wunsch nachgegeben.
Für mich persönlich war das eine riesige Erleichterung, denn hätte ich mir mit den Mädels aus dem Team ein Zimmer teilen müssen, wäre das definitiv nicht gut ausgegangen.
Zwar hatte ich noch nie den besten Draht zu meinen Mannschaftskolleginnen, aber seit ich meine Zeit verstärkt mit Rocco verbringe, beschleicht mich das Gefühl, dass ich immer weiter auf der Beliebtheitsskala hinabsinke.
Na ja, wenigstens habe ich Ariella, Harlow, Kaylee und Liana, die immer hinter mir stehen. Andere Freundinnen brauche ich nicht.
„Boah, ich bin so froh, wenn wir gleich im Bett liegen und schlafen können", stöhnt Rocco neben mir müde, als wir mit dem Fahrstuhl in den zweiten Stock fahren. „Ich bin fix und fertig."
Ein Blick zur Seite genügt, um festzustellen, dass Rocco tatsächlich sehr erschöpft aussieht. Dunkle Ringe haben sich unter seinen Augen gebildet und sein sonst so funkelnder Blick wirkt ausdruckslos und leer.
Um die Stimmung etwas anzuheben, necke ich ihn: „Hätte ich gewusst, dass dich die Niederlage bei Mario Kart so sehr mitnimmt, hätte ich dich vielleicht gewinnen lassen." Zur zusätzlichen Provokation strecke ich ihm noch einmal frech die Zunge entgegen.
Wie erhofft bildet sich daraufhin ein Schmunzeln auf Roccos Lippen, ehe er murmelt: „Sehr witzig, Marls. Vielleicht lache ich morgen darüber, okay?"
Im Einklang mit seinen Worten öffnen sich die Fahrstuhltüren, sodass wir den Aufzug verlassen und in dem spärlich beleuchteten Flur nach unserer Zimmernummer suchen. Am Ende des Ganges werden wir endlich fündig - direkt neben dem Zimmer von Cara, wie ich bedauerlicherweise feststellen muss.
Gut, dass wir nur zwei Nächte in dieser Jugendherberge verbringen ...
Bevor ich Cara einen Blick, den sie sowieso falsch interpretieren würde, zuwerfen kann, hat Rocco auch schon die Tür zu unserem Zimmer aufgesperrt, weshalb ich schnell vor der rothaarigen Hexe flüchte.
Hoffentlich steht sie heute Nacht nicht vor meinem Bett und führt irgendein krankes Ritual durch ...
Der Raum, in dem Rocco und ich für die nächsten beiden Tage schlafen werden, ist sehr notdürftig eingerichtet. Neben zwei Einzelbetten, die jeweils mit einem kleinen Nachttischchen verbunden sind, befinden sich nur noch ein Kleiderschrank, ein Waschbecken und ein zersplitterter Spiegel in dem Zimmer.
Zum Schlafen wird es reichen, aber bei einem längeren Aufenthalt würde ich mich hier vermutlich nicht wohlfühlen. Na ja, wenigstens sehe ich keine Spinnen oder anderes Ungeziefer.
Da Rocco unheimlich müde ist und sich so langsam auch bei mir die Erschöpfung der letzten Stunden bemerkbar macht, schlüpfen wir sofort in unsere Schlafanzüge und machen uns bettfertig.
Während aus dem Nachbarzimmer noch albernes Gekicher, das von lauter Musik untermalt wird, zu uns herüberdringt, schalten wir bereits das Licht aus und kuscheln uns unter unsere Bettdecken.
Einerseits ist es komisch, mit Rocco in demselben Raum zu schlafen, aber andererseits fühlt sich seine Nähe sehr vertraut und schön an. Meiner Meinung nach gibt es keinen Grund, sich unwohl zu fühlen, schließlich sind wir gute Freunde. Außerdem schlafen wir in zwei Einzelbetten und sind nicht dazu gezwungen, uns eine Decke zu teilen.
Es ist alles in bester Ordnung!
„Rocco?" Mein Mund handelt schneller als mein Verstand, als ich leise seinen Namen in die Dunkelheit hauche.
Im ersten Moment befürchte ich, dass er bereits im Land der Träume verschwunden sein könnte, doch nach einigen Sekunden gibt er ein müdes „Hm?" von sich.
„Warum bist du eigentlich nach Silver Fields gezogen?", spreche ich nun die Frage aus, die mir schon seit mehreren Wochen wie Gift auf der Zunge brennt.
Seit ich Rocco kenne, haben wir nie darüber gesprochen, was ihn und seine Familie nach Silver Fields verschlagen hat. Meistens haben wir uns nur über oberflächliche Themen unterhalten oder miteinander herumgealbert, doch in diesem Moment spüre ich so eine tiefe Verbundenheit zwischen uns, dass ich unbedingt mehr über Rocco erfahren möchte.
Das, was ich bisher von ihm kenne, fasziniert mich. Jetzt ist es an der Zeit, unter der Oberfläche weiterzuschauen.
„Na ja", räuspert sich Rocco unwohl. „Meine Mum hat meinen Dad betrogen."
Seine Worte schlagen wie eine Bombe in meinem Herzen ein. Automatisch fühle ich mich schlecht, dass ich Rocco diese private Frage gestellt habe. Es war nicht meine Absicht, alte Wunden auf seiner Seele aufzureißen.
Verflucht sei meine dämliche Neugierde!
Bevor ich mich bei Rocco entschuldigen kann, fährt dieser fort: „Dad hat nicht lange gefackelt und sofort die Scheidung eingereicht. Um etwas Abstand zu Mum zu gewinnen, hat er sich nach einem neuen Job umgeschaut, den er dann auch wenig später in Silver Fields angeboten bekommen hat. Mir wurde es von meinen Eltern freigestellt, entweder bei meiner Mum in Loveville zu bleiben oder mit meinem Dad einen Neuanfang in Silver Fields zu wagen."
Um ehrlich zu sein berührt es mich tief im Herzen, dass mir Rocco diese persönlichen Details aus seinem Leben erzählt. Damit zeigt er mir, dass er mir vertraut.
Hoffentlich kann ich ihm dasselbe Vertrauen entgegenbringen.
„Obwohl ich all meine Freunde verlassen musste, habe ich mich für einen Neuanfang in Silver Fields entschieden", murmelt Rocco. „Und weißt du was? Ich bereue diese Entscheidung kein bisschen."
Dass Rocco die Wahrheit sagt, kann ich an dem lächelnden Unterton in seiner Stimme hören. Auch wenn er noch nicht lange in Silver Fields wohnt, ist das jetzt sein neues zu Hause.
„Du leistest übrigens einen großen Beitrag dazu, dass ich meine Entscheidung nicht bereue, Marls."
Roccos Worte ertönen so plötzlich, dass mir die Luft im Hals steckenbleibt.
Lauter elektrisierende Blitze zucken durch meinen Körper und verbreiten ein angenehmes Kribbeln in meinen Venen.
Es ist schön, zu hören, dass ich Roccos Leben in gewisser Weise bereichere - vor allem, weil er mir mit jedem Tag wichtiger wird und mir immer enger ans Herz wächst.
„Du bist süß, Rocco", spreche ich meine Gedanken laut aus. „Und was die Sache mit deiner Mutter angeht: Das tut mir total leid. Wenn du darüber reden möchtest, sag Bescheid. Dann können wir mal einen Nachmittag mit traurigen Familiengeschichten verbringen."
Ein bitterer Unterton schwingt in meiner Stimme mit.
Dass Roccos Mum seinen Dad betrogen hat, war sicherlich nicht leicht zu verarbeiten. Ich hoffe sehr, dass Roccos künftiges Glück nicht negativ davon beeinflusst wird.
„Danke, Marley." Rocco knipst die kleine Lampe, die auf seinem Nachttisch steht, an. Er sucht meinen Blick, ehe er begleitet von einem Grinsen sagt: „Genug mit dem Familiendrama. Ich fordere eine Revanche bei Mario Kart. Hier und jetzt!"
Überrascht hebe ich meine Augenbrauen. Nicht nur, dass Rocco auf einmal wieder hellwach ist, plötzlich scheint ihn auch die Lust an dem Rennspiel gepackt zu haben - und das, obwohl er vor wenigen Stunden noch freiwillig aufgegeben hat.
„Da will wohl jemand unbedingt ein weiteres Mal verlieren", lache ich, bevor ich aus dem Bett klettere und die beiden Nintendos hole. „Aber keine Sorge, Rocco, die Taschentücher liegen schon bereit."
Und mit diesen Worten beginnt eine lange und vor allem spaßige Nacht, in der mehr als nur einmal Schimpfwörter fallen.
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