11 - Das Problem mit der Hose
Noch nie in meinem ganzen Leben habe ich mich so sehr für etwas geschämt, wie jetzt gerade.
Mal wieder wird mir knallhart vor Augen geführt, dass ich viel zu dick bin und unbedingt abnehmen muss. Viel zu unsportlich und viel zu tollpatschig bin ich übrigens auch.
Eigentlich sind das keine besonders guten Voraussetzungen, um weiterhin am Leichtathletiktraining teilzunehmen, oder?
Vielleicht wäre es besser gewesen, letzte Woche einen Schlussstrich zu ziehen und nicht Roccos Trainingspartnerin zu werden. Auf Dauer halten uns meine ganzen Blamagen bloß vom Sporttreiben ab.
Mit brennenden Tränen in den Augen schaue ich zu Rocco auf. Sein Blick, der geradewegs auf mich gerichtet ist, spiegelt eine Mischung aus Mitleid und Verwirrung wider.
„Wie meinst du das, Marls?", erkundigt er sich leise bei mir, während er vor mir in die Hocke geht. Ohne nach meinem Einverständnis zu fragen, wischt er mir vorsichtig die Glasperlen von den Wangen.
Ganz schön peinlich, dass ich innerhalb weniger Minuten zum zweiten Mal vor seinen Augen wie ein Schlosshund heule ...
Obwohl ich mich immer noch in Grund und Boden schäme, helfen mir Roccos Berührungen dabei, meinen rasenden Herzschlag zu beruhigen und den Tränenfluss unter Kontrolle zu bekommen.
Dass er mich nicht auslacht und keine hämischen Bemerkungen von sich gibt, rechne ich ihm wirklich hoch an.
Rocco hat heute schon unfassbar viel für mich getan. Mehr als nur einmal hat er die Scherben meines Herzens wieder zusammengesetzt.
Dafür bin ich ihm unendlich dankbar.
„Meine Worte sind so gemeint, wie ich sie gesagt habe", bringe ich schließlich mit einem riesigen Kloß im Hals hervor. „Meine - oder eher gesagt deine - Hose ist bei dem Sprung gerissen. Wahrscheinlich war es sowieso nur eine Frage der Zeit, weil ich viel zu dick für deine Klamotten bin."
Am liebsten würde ich mich erneut in Selbstmitleid suhlen, doch Rocco lässt mir keine Gelegenheit dazu. Seine grünen Augen fesseln mich und sorgen dafür, dass ich mich einzig und allein auf ihn konzentriere.
Seit wann ist er eigentlich so nett und süß? Wo ist der arrogante Parkplatzdieb geblieben?
„Hör mir zu, Marls", wispert Rocco so leise, dass sein Atem wie der Flügelschlag eines Schmetterlings über meine Haut streicht. „Du bist nicht dick. Und dass die Hose gerissen ist, ist auch kein Weltuntergang. Das kann jedem passieren. Hast du das verstanden?"
Während ich innerlich wild den Kopf schüttele, nicke ich nach außen hin brav, um einer längeren Moralpredigt von Rocco aus dem Weg zu gehen. Auch wenn er seine Worte nur gut meint und mir helfen möchte, fühle ich mich bloßgestellt.
Mein Körpergewicht war schon immer meine Schwachstelle. Dass es mir heute zum gefühlt tausendsten Mal zum Verhängnis wird, tut weh.
Sehr sogar.
„Mir ist auch schon mal eine Hose gerissen", erzählt Rocco weiter, nachdem ich ihm keine Antwort gebe. „Das war in der sechsten Klasse im Turnunterricht. Du glaubst gar nicht, wie peinlich mir das war, als plötzlich alle meine Feuerwehrmann-Unterhose sehen konnten. Seitdem wurde ich nur noch Feuerwehrmann Roc genannt."
Auch wenn mir überhaupt nicht nach lachen zumute ist, schleicht sich ein breites Grinsen auf meine Lippen.
In diesem Moment bin ich Rocco sehr dankbar, dass er mich auf andere Gedanken bringt und mir versucht, mein Schamgefühl zu nehmen.
Das würde nicht jeder für mich tun. Der Großteil würde vermutlich lachend neben mir stehen und noch mindestens die nächsten drei Wochen über mein Malheur herziehen.
„Ich habe einen Pullover in meinem Rucksack. Wenn du möchtest, hole ich ihn für dich, damit du ihn um deine Taille binden kannst", schlägt Rocco vor. Im Einklang mit seinen Worten streicht er mir auch die letzten Tränen von den Wangen und schenkt mir zusätzlich ein aufmunterndes Lächeln.
Mehr als ein Nicken bringe ich daraufhin nicht zustande.
Zum Glück reicht das Rocco als Antwort aus, denn er springt sofort aus der Sandgrube und joggt dann in Richtung Tribüne.
Schneller als der Wind, der unangenehm über meinen Körper tanzt, steht er wieder vor mir und drückt mir einen grauen Hoodie in die Hand. Dabei berühren sich unsere Fingerspitzen für einen kurzen Augenblick, sodass ein warmer Blitz durch meine Venen zuckt.
Als hätte ich mich an Roccos Haut verbrannt, ziehe ich meine Hand mitsamt dem Hoodie schnell wieder zurück. „Da-Danke", stammele ich peinlich berührt. „Du hast echt etwas gut bei mir, Rocco."
„Ach Quatsch!", winkt mein Gegenüber direkt ab. „Ich helfe gerne hübschen Mädchen in der Not."
Während Rocco bis über beide Ohren grinst, schießt mir feurige Hitze in die Wangen.
Mit Komplimenten konnte ich noch nie sonderlich gut umgehen. Erst recht nicht, wenn sie von einem attraktiven Jungen stammen.
Da ich nicht weiß, was ich auf Roccos Aussage erwidern soll, bin ich froh, als er munter fortfährt: „Aufstehen, Krone richten und weiter geht's, Marls. Das Training ist noch nicht beendet."
Charmant wie Rocco manchmal sein kann, streckt er mir seine Hand entgegen und zieht mich ruckartig auf die Beine. Weil ich etwas zu viel Schwung habe, pralle ich wie ein Komet gegen seine muskulöse Brust.
„Woah", lacht Rocco amüsiert. „Nicht so stürmisch, meine Liebe."
Ein freches Funkeln, das mein Herz zu einem Salto veranlasst, tanzt durch seine grünen Augen.
In dieser Sekunde bin ich Rocco so nahe, dass ich die goldenen Sprenkel in seiner Iris sehen und seinen Geruch nach Pfefferminze inhalieren kann. Selbst seinen gleichmäßigen Herzschlag kann ich spüren - jedenfalls bilde ich mir das ein.
Bevor ich mich endgültig in den Tiefen von Roccos Augen verlieren kann, löse ich mich von seinem Anblick, räuspere mich einmal und binde mir danach seinen Hoodie um die Taille.
Sofort fühle ich mich etwas besser und nicht mehr ganz so entblößt, wie noch ein paar Minuten zuvor.
Hoffentlich verläuft das restliche Training jetzt ohne weitere Zwischenfälle, denn noch mehr Blamagen vor Roccos Augen ertrage ich nicht.
Bitte, liebes Karma, hab Mitleid mit mir! Danke!
☆☆☆
Am Abend sitze ich gemeinsam mit Kaylee auf meinem Balkon. Vor uns auf dem Tisch stehen zwei köstlich duftende Pizzen - natürlich mit extra viel Käse - und zwei Cocktailgläser.
Obwohl es mitten in der Woche ist und wir morgen zur High School müssen, haben wir uns spontan zu einem Mädelsabend verabredet.
Da bei Kaylee zu Hause sowieso viel Stress und Unruhe herrschen und ich mit jemandem über Rocco sprechen muss, hat sich unser Treffen perfekt angeboten. Die Pizzen und die Cocktails sind bloß ein netter Nebeneffekt, auf den ich aber ehrlich gesagt nicht gerne verzichten wollen würde.
Nach einer anstrengenden und nervenaufreibenden Trainingseinheit gibt es nichts Besseres als eine fettige Salamipizza und ein kühles Getränk. Fehlt eigentlich nur noch die Massage ...
„Willst du meine ehrliche Meinung hören, Marls?", fragt mich meine beste Freundin mit hochgezogenen Augenbrauen, nachdem ich ihr von meinem Hosen-Debakel erzählt habe.
Die ganze Zeit hat mir Kaylee aufmerksam zugehört, ohne mich zu unterbrechen. Diese Eigenschaft schätze ich besonders an ihr.
„Natürlich", murmele ich, ehe ich einen großen Schluck von meinem Caipirinha nehme. Da mir Kaylees Meinung zu 50 Prozent nicht gefallen wird, kann etwas mehr Alkohol im Blut sicherlich nicht schaden.
Normalerweise trinke ich nur am Wochenende Alkohol, aber in Betracht meiner heutigen Blamage musste ganz dringend ein Cocktail her. Zum Glück hatte Kaylee ebenfalls Lust auf etwas Alkoholisches, sodass ich wenigstens nicht allein trinken muss.
„Na schön ... Rocco ist einer der aufrichtigsten, loyalsten und hilfsbereitesten Menschen, die ich jemals kennengelernt habe", beginnt Kaylee mit ihrer Schwärmerei über den Parkplatzdieb. „Ich kenne ihn noch nicht lange, aber er trägt sein Herz eindeutig am rechten Fleck. Siehst du das denn nicht, Marls?"
Ohne es verhindern zu können, muss ich an all die Momente, die ich gemeinsam mit Rocco erlebt habe, zurückdenken.
Direkt am ersten Schultag ist er wie eine Bombe in meinem Leben eingeschlagen, indem er mir meinen Parkplatz an der Southwest High geklaut hat. Zwar hat er sein Auto mir zuliebe nicht woanders hingestellt, aber trotzdem war es ihm wichtig, sich mit mir auszusprechen und sich keine Feindin angelacht zu haben. Immer wieder hat er das Gespräch zu mir gesucht, um die Wogen zwischen uns zu glätten.
Letztendlich hat sich sogar herausgestellt, dass er extra meinen Parkplatz blockiert hat, damit ich einen Grund habe, mit ihm zu sprechen.
Beim ersten Leichtathletiktraining dieser Saison hat mich Rocco zu seiner Trainingspartnerin auserwählt. Seitdem unterstützt er mich im Training und motiviert mich besser, als es Coach Miller und Coach Snow jemals könnten.
Auch bei meinem Zusammenbruch auf der Laufbahn war Rocco einer der Ersten, der sich um mich gekümmert hat. Ebenso hat er mir heute aus der Klemme geholfen, als meine Hose gerissen ist.
Kein einziges Mal hat er mich ausgelacht oder über meine Unsportlichkeit hergezogen. Stattdessen lobt er mich ununterbrochen und vermittelt mir ein positives Selbstwertgefühl.
Es mag ungewöhnlich klingen, aber selbst nachdem ich mein Knie in Roccos Weichteile gerammt habe und seine Autoreifen zerschlitzen wollte, war er nett zu mir. Er hätte nachtragend und wütend auf mich sein müssen, nicht aber die Schuld bei sich selbst suchen und sein Auto auf einem anderen Parkplatz abstellen sollen.
Rocco war immer für mich da und hat mir nie etwas Böses getan.
Erst jetzt wird mir so richtig bewusst, dass ich Rocco die ganze Zeit unfair behandelt habe. Während er sich um ein gutes Verhältnis zwischen uns bemüht hat, habe ich sein goldenes Herz achtlos mit Füßen getreten.
Automatisch meldet sich mein schlechtes Gewissen wieder zu Wort.
„Gerade weil Rocco so ein toller Mensch ist, solltest du dich auch unbedingt nochmal anständig bei ihm bedanken. Oh, und entschuldigen natürlich auch", reißt mich Kaylee aus meinen Gedanken in die Realität zurück. „Liana ist es bestimmt auch wichtig, dass ihr euch gut versteht."
Es bedarf nur wenigen Worten und schon bröckelt mein Lächeln.
„Liana?", hake ich misstrauisch nach. „Was geht sie denn die Beziehung zwischen Rocco und mir an?"
Eine steile Falte, die mir Kopfschmerzen bereitet, bohrt sich in meine Stirn. Zusätzlich schwirren tausend Fragezeichen um mich herum.
Habe ich irgendetwas verpasst?
In den letzten Tagen haben Liana und ich kaum ein Wort miteinander gewechselt, da ich immer noch sauer auf sie bin, dass sie mir wie eine Verräterin in den Rücken gefallen ist. Dementsprechend könnte es also gut sein, dass ich nicht mitbekommen habe, wie sie und Rocco ein Paar geworden sind.
Hätte mir Liana so eine wichtige Neuigkeit wirklich verschwiegen?
Bevor ich mich noch tiefer in dem wirren Strudel aus meinen Gedankenfetzen verlieren kann, erlöst mich Kaylee aus der Ungewissheit. „Na ja, Liana und Rocco haben heute ihr zweites Date. Laut Liana wird es nicht mehr lange dauern, bis die beiden ein Paar sind."
Obwohl ich schon häufiger gesehen habe, dass zwischen Liana und Rocco die Funken sprühen, verpassen mir Kaylees Worte einen unangenehmen Fausthieb in die Magengrube.
Jetzt, wo ich endlich sehen konnte, was für ein gutes Herz Rocco hat, weiß ich, dass er jemand Besseren als Liana an seiner Seite verdient hat.
Trotz unserer derzeitigen Differenzen schätze ich Liana als Person immer noch wert, aber als Beziehungspartnerin eignet sie sich leider überhaupt nicht. Eigentlich geht sie auch nur Beziehungen ein, um die verwöhnte Prinzessin spielen zu können. Sobald ihr dann langweilig wird, macht sie Schluss und sucht sich ihr nächstes Opfer aus, das sich ihr blind zu Füßen wirft.
Vor diesem Szenario möchte ich Rocco bewahren. Er soll sein Herz nicht an ein Mädchen verschenken, das bloß mit ihm und seinen Gefühlen spielt.
„Ich weiß, was du gerade denkst, Marley, aber dieses Mal ist es anders", bringt Kaylees Stimme die Mauern meiner Gedanken zum Einsturz. Ihre rehbraunen Augen bohren sich unangenehm in meine, als sie fortfährt: „Liana entwickelt zum ersten Mal echte Gefühle für einen Jungen. Wahrscheinlich klingt das total kitschig, aber Rocco tut ihr gut. Man merkt, dass sie jetzt viel ausgeglichener ist."
Mit jedem Wort, das Kaylees Lippen verlässt, schnürt sich meine Kehle enger zu.
Ich kenne Liana seit meiner Geburt. Schon im Kindergarten hat sie damit angefangen, Jungs gegen ihren Willen auf den Mund zu küssen. Mit elf Jahren hatte sie dann ihr erstes Mal - wohlbemerkt mit einem Jungen, der schon sechzehn Jahre alt war.
So etwas wie romantische Emotionen hat Liana noch nie entwickelt. Dafür liebt sie es viel zu sehr, mit den Jungs zu spielen.
Liana kann sich nicht ändern und vor allem nicht so schnell. Seit gerade mal einer Woche kennt sie Rocco. In dieser kurzen Zeit ist es unmöglich, sich zu verlieben.
Oder?!
„Abgesehen von Rocco sollten du und Liana euch so langsam mal wieder zusammenraufen, Marls", spricht Kaylee nun mit einem vorwurfsvollen Unterton in der Stimme weiter. „Du kannst schließlich nicht ewig sauer auf Lia sein, nur weil sie deinen Aufstand auf dem Parkplatz nicht toleriert hat."
Ich schlucke schwer. Mein Herz verwandelt sich zu Blei und die Schuldgefühle nagen wie lästige Parasiten an meiner Seele.
Kaylee hat Recht. Ich muss mich endlich mit Liana aussprechen, um unsere kindischen Differenzen zu beseitigen. Im Zuge dessen kann ich sie dann auch auf ihre Gefühle bezüglich Rocco ansprechen und ihr sagen, dass sie nicht mit ihm spielen soll.
Bevor ich allerdings mit meiner besten Freundin reden werde, muss ich ein anderes Gespräch führen.
Rocco hat eine Entschuldigung verdient. Vermutlich ist es ein bisschen spät dafür, aber endlich habe ich verstanden, dass er ein guter Mensch ist und nie böse Absichten hatte.
Und wer weiß?
Vielleicht können wir ja wirklich so etwas wie Freunde werden?
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