1 - Auf dem Gaspedal
Welcher Mensch kam eigentlich auf die dämliche Idee, einen Montag zu erfinden?
Vermutlich derselbe Idiot, der sich dafür eingesetzt hat, dass Mathe, Physik und Chemie zu unverzichtbaren Fächern in der Schule gewählt wurden.
Am liebsten würde ich diesen namenlosen Unmenschen gerne weiter beschimpfen - immerhin muss ich mich seinetwegen an einem Montagmorgen zum Matheunterricht quälen - doch meine beste Freundin, die vollkommen verkrampft auf dem Beifahrersitz neben mir hockt, hindert mich daran.
„Ähm, könntest du eventuell ein bisschen langsamer fahren, Marley?" Ariellas Stimme zittert, als sie das Karussell meiner Gedanken stoppt. „Ich weiß nicht, ob du das schon wusstest, aber der häufigste Grund für tödliche Unfälle ist zu schnelles Autofahren."
Ich seufze, denn natürlich wusste ich das nicht.
Wenn jemand mit so unnötigem Wissen auftrumpfen kann, dann ist es Ariella. Nicht umsonst ist sie Jahrgangsbeste und bekommt in allen Unterrichtsfächern ein A - selbst in Mathe, Physik und Chemie.
Wie genau sie das schafft, ist mir ehrlich gesagt bis heute noch ein Rätsel.
„Erst letzte Woche sind wieder zwei junge Männer gestorben, weil sie mit viel zu hoher Geschwindigkeit über eine nasse Straße gefahren sind. Das Auto kam ins Schleudern, ist gegen einen Baum geprallt und-"
„Schon gut, schon gut", unterbreche ich Ariella augenverdrehend. „Ich hab's verstanden."
Meiner Freundin zuliebe drücke ich auf die Bremse und versuche mich nun an die Richtgeschwindigkeit zu halten. Leicht fällt mir das allerdings nicht, denn normalerweise liebe ich Tempo, quietschende Reifen und Adrenalin.
Ariella ist diesbezüglich ganz anders als ich. Vermutlich lässt sie sich auch nur von mir zur Schule kutschieren, weil sie selbst panische Angst vor dem Autofahren hat und ihr im Bus immer übel wird.
Seufzend drehe ich die Stereoanlage auf. Ohne Musik überlebe ich diesen Montagmorgen nicht, schließlich wurde mir schon mein heißgeliebter Kaffee verwehrt.
Bei vier älteren Geschwistern, die allesamt koffeinabhängig sind, kann man es sich einfach nicht erlauben, zu verschlafen. Da ist der Kaffee schneller weg, als man das Wort überhaupt buchstabieren könnte.
„Muss die Musik so laut sein, Marls?" Erneut dominiert das Zittern in Ariellas Stimme. Man sollte meinen, dass sie sich in den letzten zehn Monaten an meinen Fahrstil gewöhnt hätte, doch das hat sie nicht. „Was, wenn du die Sirenen eines Krankenwagens überhörst? Oder dich zu sehr ablenken lässt und deshalb einen Unfall verursachst?"
„Gott, Ari", murre ich genervt. „Mach dich mal locker. Ich habe meinen Führerschein schließlich nicht im Lotto gewonnen."
Ausgerechnet heute, wo ich sowieso schon mit dem falschen Fuß aufgestanden bin und auf meinen lebensnotwendigen Kaffee verzichten musste, jammert mir Ariella die Ohren voll.
Nicht zu vergessen, dass es Montagmorgens ist und der Satz des Pythagoras auf mich wartet ...
Wie gut, dass wir nur wenige Sekunden später vor einem weißen Reihenhaus zum Stehen kommen und meine beste Freundin somit keinen weiteren Grund findet, sich über irgendetwas, das mit Autos in Verbindung steht, Sorgen zu machen.
Manchmal ist Ariellas panische Angst vor dem Autofahren wirklich total anstrengend und kräfteraubend.
Der Schleier aus meinen Gedanken lichtet sich, als die Tür des weißen Reihenhauses geöffnet wird und eine strahlende Liana zum Vorschein kommt.
In dem roten Sommerkleid und den dunklen High Heels, die sie trägt, sieht sie wie immer unbeschreiblich hübsch aus. Die blonden Locken umrahmen ihr perfekt geschminktes Gesicht und lassen sie wie einen Engel erscheinen.
Ich gebe es nicht gerne zu, aber jedes Mal, wenn ich Liana anschaue, durchzuckt mich ein Blitz der Eifersucht.
Während sie mit einem wunderschönen Gesicht und einem traumhaften Körper gesegnet wurde, habe ich bloß eine dicke Knollnase, kaum vorhandene Wimpern und ein bisschen zu viel Speck auf den Rippen abbekommen.
Wenn ich könnte, würde ich alles dafür tun, um mehr wie Liana und weniger wie ich selbst auszusehen.
„Hey Mädels!" Liana nimmt gut gelaunt auf der Rückbank Platz. „Na, seid ihr bereit für unser letztes Schuljahr?"
Es bedarf nur wenigen Worten und schon sinkt meine Laune weiter dem Nullpunkt entgegen.
Ich habe absolut keine Ahnung, warum sich Liana so sehr auf das letzte Schuljahr an der High School freut. Seit wir in die Elementary School gegangen sind, hat sie täglich auf den heutigen Tag hin gefiebert.
Mir persönlich machen die bevorstehenden Abschlussprüfungen und die Wahl, auf welchem College ich mich einschreiben soll, schon jetzt Angst. Außerdem fürchte ich mich davor, dass ich am Ende des letzten Schuljahres von meinen besten Freundinnen weggerissen werden könnte.
Ein Leben ohne sie kann und möchte ich mir nicht vorstellen.
„Natürlich bin ich bereit", übernimmt Ariella den Part des Antwortens, während ich mich wieder in den Straßenverkehr einfädele. „So viel wie in diesen Sommerferien habe ich noch nie gelernt."
Ein flüchtiger Blick in den Innenspiegel verrät mir, dass Liana ebenso wie ich die Augen verdreht.
Ehrgeizig zu sein, ist sicherlich keine schlechte Eigenschaft, aber Ariella übertreibt es mit dem Ehrgeiz. Statt in den Ferien mit uns an den See zu fahren und Spaß zu haben, hat sie bei über 30 Grad bereits die ersten Inhalte für die Schule vorgearbeitet.
Ihre Eltern haben sogar einen ihrer Cousins aus Frankreich einfliegen lassen, damit dieser Ariellas Fremdsprachenfähigkeiten auf den Höchststand bringt - und das, obwohl sie in Französisch sowieso schon alle Prüfungen ohne Fehler besteht.
Ehrgeiz und Perfektion werden in der Familie Foley seit klein auf großgeschrieben.
„Dann weiß ich ja, bei wem ich wieder die Hausaufgaben abschreiben kann", grinst Liana nach einer Weile zufrieden. „Und wenn ich ganz viel Glück habe, kann ich vielleicht sogar in den Klausuren neben dir sitzen und bei dir abpinnen, Ari."
Das ist typisch Liana. Mit der Schule und dem Lernen kann sie noch weniger anfangen als ich.
„Warum bist du eigentlich so still da vorne, Marls?", erkundigt sich Liana nun neugierig bei mir. „Hast du etwa noch keinen Kaffee bekommen?"
„Volltreffer, Miss Clark", seufze ich.
„Dann dreh doch einfach die Musik auf! Davon wirst du bestimmt auch wach", überlegt meine beste Freundin laut.
Noch bevor ich etwas auf Lianas Vorschlag entgegnen kann, mischt sich Ariella mit ihrer gewohnt zittrigen Piepsstimme ein. „Bei lauter Musik kann man sich nicht mehr so gut konzentrieren. Es sollte also im Interesse unserer Sicherheit liegen, wenn das Radio leise bleibt."
Im Einklang mit Ariellas letztem Wort stoßen Liana und ich ein Seufzen aus.
Ob Ariella und Autos in diesem Leben wohl noch einmal Freunde werden? Vermutlich nicht.
Statt weiter auf diesem heiklen Auto-Musik-Thema herumzureiten, schweige ich und beobachte Liana im Innenspiegel dabei, wie sie ihr Handy zückt und dann eine neue Schicht roten Lippenstift aufträgt.
Auch ohne das viele Make-up sieht sie wunderschön aus, aber Liana liebt es nun mal, sich zu schminken. Der knallrote Lippenstift und der Eyeliner sind gar nicht mehr aus ihrem Gesicht wegzudenken.
Während Liana also ihr Make-up optimiert und Ariella ihre Nase in ein verdammtes Mathebuch steckt, bringe ich das Auto vor einem schicken Mehrfamilienhaus zum Stehen.
Wie immer ist Kaylee auf die Minute pünktlich und wartet bereits auf uns.
Um ihrem Hals baumelt ihre neue Kamera, die sie heute unbedingt in der Mittagspause ausprobieren möchte.
Kaylee ist das kreative Köpfchen in unserer Runde. Sie fotografiert nicht nur für ihr Leben gern, sondern zeichnet auch wie ein Profi und denkt sich eigene Geschichten aus.
Für diese Talente beneide ich sie schon jahrelang, denn ich selbst bin so kreativ wie ein Stein - also gar nicht.
„Guten Morgen, ihr Hübschen", trällert Kaylee übermütig, als sie sich neben Liana fallen lässt. „Ein Vögelchen hat mir gezwitschert, dass es hier einen Kaffee-Notfall gibt?!"
Erst jetzt fällt mir der bunte Becher in ihrer Hand auf.
„Bitte erlöse Marls von ihrem Koffeinmangel", jammert Liana mit verstellter Stimme. „Sonst wird sie gleich noch unausstehlicher als im Matheunterricht bei dem alten Williams."
Daraufhin kichern Liana und Kaylee. Selbst Ariella, die wie ein Roboter irgendwelche Matheformeln in sich aufsaugt, kann sich ein Schmunzeln nicht verkneifen.
„Ha ha, sehr witzig", grummele ich genervt, ehe ich ungeduldig nach dem bunten Kaffeebecher greife. Zum Glück drückt mir Kaylee diesen sofort in die Hand, statt mich noch länger zappeln zu lassen.
Sobald die warme Flüssigkeit meinen Rachen hinabrinnt und sich ein bitterer Geschmack in meinem Mund ausbreitet, seufze ich erleichtert auf.
Das ist genau das, was ich jetzt gebraucht habe.
Vielleicht wird der erste Schultag also doch nicht so grausam werden, wie ich noch bis vor ein paar Minuten gedacht habe. Mit ausreichend Kaffee im Blut ist nämlich alles nur noch halb so schlimm, wie es scheint - abgesehen von Mathe natürlich.
Begleitet von einem minimalen Lächeln starte ich das Auto und fahre in die Richtung unseres letzten Zwischenstopps, bevor es dann abschließend zur Southwest High geht - meinem persönlichen Untergang.
Ebenso wie Liana scheint sich auch Kaylee auf unser letztes Schuljahr zu freuen. Die ganze Zeit reden die beiden über die Abschlussstreiche, den Abschlussball und die Abschlussfahrt. Die Prüfungen, das viele Lernen und der ganze Druck finden in ihren Schwärmereien allerdings keine Berücksichtigung.
Ich bin erleichtert, als wir fünf Minuten später vor einem roten Backsteinhaus halten und Liana und Kaylee ihr Gespräch fallen lassen. Stattdessen beschwert sich Kaylee nun genervt: „Auf Harlow ist echt kein Verlass. Dieses Mädchen ist noch unpünktlicher als meine Periode."
Dank des Koffeins, das brennend in meinen Adern pulsiert, muss ich leise lachen.
Wann immer sich Kaylee über Harlows Unpünktlichkeit ärgert, fallen ihr die lustigsten Vergleiche ein. Allgemein hat Kaylee einen so göttlichen Humor, dass sie unsere Freundinnen und mich beinahe dauerhaft zum Lachen bringt.
Eine schöne Eigenschaft, die ich sehr an ihr schätze.
„Wenn sich Harlow nicht beeilt, kommen wir noch zu spät", beklagt sich zu allem Überfluss auch noch Ariella. „Am ersten Schultag nach den Sommerferien würde das keinen besonders guten Eindruck hinterlassen."
„Entspann dich, Ari", säuselt Liana fröhlich, während sie durch ihre goldenen Engelslocken streicht. „Wenn wir zu spät kommen, können wir wenigstens einen unvergesslichen Auftritt im Klassenzimmer hinlegen."
„Liana Clark!" Ariella schnaubt empört. „Das ist nicht lustig! Ich bin in meinem ganzen Leben noch kein einziges Mal zu spät zum Unterricht erschienen. So kurz vor dem Abschluss möchte ich auch nicht damit anfangen."
Gott sei Dank kommt in genau dieser Sekunde eine gehetzte Harlow aus dem roten Backsteinhaus gestürmt. Ihre braunen Haare liegen wirr auf ihrem Kopf und ihre Schuluniform ist zerknittert.
Scheinbar bin ich nicht die Einzige, die heute verschlafen hat.
Begleitet von Kaylees und Ariellas bitterbösen Blicken steigt Harlow in das Auto und quetscht sich neben Kaylee. „Sorry", murmelt sie gestresst. „Hab' vergessen, mir einen Wecker zu stellen."
‚So wie jeden Tag', füge ich amüsiert in Gedanken hinzu.
Harlow ist ein absoluter Weltmeister im Verschlafen. Als wir die vergangenen Schuljahre noch auf den Bus angewiesen waren, ist sie beinahe täglich zu spät zum Unterricht erschienen.
Ich bin gespannt, wie oft wir sie dieses Jahr per Sturmklingeln oder per Autohupen aus dem Schlaf reißen müssen.
„Worauf wartest du noch, Marley?", befördert mich Ariellas ungeduldige Stimme in die Realität zurück. „Wenn wir pünktlich kommen wollen, musst du Gas geben!"
Überrascht schaue ich zu Ariella hinüber. Ihre katzengrünen Augen huschen angespannt zwischen ihrer Armbanduhr und dem Mathebuch, das in ihrem Schoß liegt, hin und her.
„Ich soll Gas geben?", vergewissere ich mich sicherheitshalber bei ihr.
Sobald sie nickt, trete ich das Gaspedal durch und sause mit quietschenden Reifen über den Asphalt. Das hat zur Folge, dass sich Ariella panisch in dem Sitz festkrallt und einen schrillen Schrei von sich gibt.
„Marley!", kreischt sie hysterisch meinen Namen. „Fahr langsamer!"
„Dann kommen wir aber nicht mehr pünktlich an", grinse ich schadenfroh.
Auch wenn es gemein ist, kann ich es ab und zu nicht lassen, Ariella mit ihrer Angst vor dem Autofahren zu ärgern. Wenn sie sich ihren Ängsten nicht stellt, kann sie diese auch nicht bezwingen.
Im Grunde genommen helfe ich ihr also nur dabei, nicht jedes Mal zu einem Zitteraal zu mutieren, wenn sie in ein Auto steigt.
„Marley!" Dieses Mal ist Harlow diejenige, die meinen Namen zischt. Dass sie alles andere als glücklich ist, verrät mir der eisige Unterton, der in ihrer Stimme mitschwingt. „Fahr gefälligst langsamer! Ansonsten kannst du Ari gleich wiederbeleben."
Wie schon so oft in diesen frühen Morgenstunden seufze ich.
„Ist ja gut. Die Rennfahrerin wird wieder zur lahmen Schnecke."
Grummelnd reguliere ich die Geschwindigkeit. Gerade noch rechtzeitig, denn sonst wäre ich mit Vollgas in einen Blitzer gerast.
Wie es scheint, hat Ariellas Angst also doch etwas Gutes - zumindest in diesem Moment.
Den restlichen Weg zur Schule halte ich mich an die Richtgeschwindigkeit. Dank einer grünen Ampelwelle biegen wir sogar ganze fünf Minuten vor Unterrichtsbeginn auf dem Schülerparkplatz ein.
Eigentlich möchte ich wie auch schon die letzten zehn Monate zuvor auf meinem Standardparkplatz unter einem alten Nadelbaum parken, doch erschreckenderweise ist dieser besetzt.
Ein roter Truck, der seine besten Jahre eindeutig schon hinter sich hat, steht dort und blitzt mir provokant entgegen.
„Was soll die Scheiße?!", fluche ich sofort verärgert.
Seit ich meinen Führerschein habe und mit dem Auto zur Schule fahre, habe ich jeden einzelnen Tag unter diesem Baum geparkt. In all den Monaten hat es niemand gewagt, mir meinen Platz wegzunehmen, weil niemand meinen Zorn auf sich ziehen wollte.
Scheinbar gibt es neuerdings aber irgendeinen Idioten an dieser Schule, der mich herausfordern möchte.
Zu seinem Pech sitzt er sogar noch in dem roten Truck, sodass einer Konfrontation nichts im Wege steht.
„Na warte", grummele ich wütend, während ich aus meinem Auto springe. „Du hast dich mit der Falschen angelegt, Freundchen!"
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro