Verloren
Wenn sich meine Augen schließen,
Und alle Erinnerungen in einem riesigen Strom fließen,
Dann sehe ich die vergangene Zeit,
Als du noch bei mir warst und ein Lächeln trugst, so breit.
Du hattest Träume, hattest Freude und hattest Glück,
Und dann verlor mein Herz dies kleine Stück.
Mein Glück, das in dir lebte,
Mein kleiner Bruder, der fröhlich über den Boden schwebte.
Mein liebster Verwandter, der mir noch übrigblieb,
Ich hoffe, du weißt, dass ich dich über alles lieb'.
{Arthur Kirkland, Großbritannien}
Die Uhr tickte. Das feine Porzellangeschirr klimperte bei jedem Kontakt mit dem Löffel, welcher in der braunen Brühe seine Kreise zog. Warme, wohlriechende Dämpfe stiegen in die kühle Luft und verschwanden nach wenigen Sekunden wieder. Stille beherrschte die kleine Londoner Wohnung, die lediglich von dem Prasseln der gröbsten Regentropfen gebrochen wurde, ehe auch diese kraftlos an der Scheibe nach unten rannten. Nur wenige, die sich an der glatten Oberfläche festzuhalten wussten, strahlten wie Perlen im goldenen Dämmerlicht, behielten sogar den winzigen Regenbogen in sich, als wäre dieser permanent in ihren imaginären Herzen festgeschrieben.
Vorsichtig nippte ich an meinem Tee; die herausströmende Wärme umschlang mein Gesicht und versetzte mich für den Moment in ausgeglichene Ruhe, weit weg von dem Chaos, das sich in meinem Inneren jahrelang angesammelt hatte und sich wie eine bleischwere Fußfessel an meine Fersen heftete – mich davon abhielt weiterzukommen.
Es musste bestimmt schon fast fünfzehn Jahre her sein, seit man mich in diesen immerwährenden, totenstillen Teufelskreis gestoßen hatte, der mein Herz in willkürliche Fetzen zerfleischte und es nach und nach ausbluten ließ, bis es nur noch ein willenloses Organ, ohne jegliches Gefühl, war, das mich am Leben hielt. Freunde hätten gesagt, ich klammere mich zu sehr an die Vergangenheit und an den Fakt, dass ich etwas verloren habe, das mir wichtig war, anstatt dankbar zu sein, dass ich jenes Verlorene Zeitlang bei mir hatte. Egal wie sehr ich es versucht hatte, es schleuderte mich immer wieder zurück in meinen selbstgeschaffenen Käfig. Ich wollte vergessen.
Vielleicht war genau das mein Fehler gewesen. Vielleicht hätte ich die Sache anders anschneiden müssen, einen Anhaltspunkt inmitten der inneren Sturmflut suchen sollen, anstatt mich erbärmlich den Wellen hinzugeben. Aber wie viele Menschen erlebten schon denselben Schmerz wie ich? Einige bestimmt und doch wäre jeder Fall ein individuelles Kreuz, das sich auf den Betreffenden stützte.
Ich schüttelte den Kopf und warf einen Blick auf die Zeitung vor mir. Das Datum zeigte den 4. Juli, also genau eine Woche bevor sich der Tag, an dem sich alles änderte, abermals jährte. Seufzend schob ich das bedruckte Papier zur Seite und würdigte es keines Blickes. Es war mir keinesfalls wert, nur aufgrund eines einfachen Datums in eine melancholische Stimmung zu verfallen. Dennoch wollte sich dieser krampfhaft unterdrückte Gedanke herauskämpfen. Einen geliebten Menschen zu verlieren war für mich ein nicht-lindbarer Schmerz geworden. Ich war wie zartes Porzellan zersprungen...nur darauf wartend, dass jemand meine Scherben wieder zusammenfügte.
Ein aufgezwungenes Lächeln setzte sich auf meine Lippen. „Was du wohl an meiner Stelle gemacht hättest, kleiner Bruder? Wo wärst du jetzt?" Für einen kurzen Moment schloss ich die Augen, bildete mir ein, sein Gesicht gesehen zu haben, das sich fest in mein Gehirn gebrannt hatte.
Blondes Haar, mit einem auffälligen Haarwirbel, den nicht einmal ein Kamm zu bändigen wusste...Blaue Augen, die strahlten, wann auch immer sie Süßes erblickten. Nicht zuletzt war es das breite Lächeln, das die Sonne selbst an tristen Tagen mit ins Haus schleppte.
Ich könnte ihn wohl niemals vergessen, egal wie sehr ich es auch versuchte. Wieder trank ich einen Schluck meines dampfenden Schwarztees und bemerkte erst jetzt die vielen Kratzer, die das alte Geschirr aufwies. Ich würde es wohl bald ersetzen müssen.
Ich raufte mir die Haare, stieß einen lauten Seufzer aus und griff nach der Fernbedienung; meine Gedanken hafteten jedoch noch an meinem verlorenen Bruder und an dem Tag, der ihn mir raubte...ihn mir wie Sand durch die Finger gleiten ließ, ohne Chance, ihn wiederzufinden.
„Hätte ich nur besser aufgepasst..." Ich war verantwortlich gewesen. Er war unter meiner Aufsicht aus unserem Leben getreten und befand sich womöglich bereits an einem anderen Ort, den ich niemals erreichen könnte. Ich schaltete durch die vielen Sender, suchte mir verzweifelt eine Sendung, die mich ablenken konnte. „Nur Schrott...", seufzte ich und machte weiter, während sich die Geschichte abermals in meinem Kopf abspielte und all die damit verbundenen Emotionen wiederaufleben ließ.
Ich hörte den Wind pfeifen. Ich spürte die Kälte. Ich schmeckte die salzigen Tränen. Ich sah den Wald, dessen Bäume gewaltvoll herausgehoben wurden. Und allen voran fühlte ich, wie die Hand, an der ich meinen Bruder gehalten hatte, immer kälter und einsamer wurde.
Ich hatte mich bemüht, bei ihm zu bleiben, gab ihm sogar meine viel zu große Bomberjacke mit der selbstgestickten bunten Sternschnuppe, als er begann im Regen zu frieren. Aber irgendwann, als es anfing gewaltig zu donnern, ließ er vor Schreck meine Hand los, verlief sich im schier endlosen Wald, in einem fremden Land weit weg von hier. Ich hatte erbärmlich geweint, meine Stimme nach ihm heiser gerufen...alles vergebens. Mein Kopf warf in einem unaufhörlichen Echo die Phrase „Tu was! Irgendwas!" herum, stieß mich in ein schwarzes Loch voller Angst und Schrecken, aber ich blieb hilflos und hinterließ meine Eltern in großer Sorge und Enttäuschung, als ich einsam, heulend und vom Regen durchnässt am Rande des Waldes stand. Selbst der Einsatz der Polizei blieb erfolglos. Was seitdem mit meinem Bruder geschehen war, blieb in den Sternen geschrieben, die ich nie zu entziffern vermochte.
Letzten Endes führte allein mein kindlicher Leichtsinn dazu, meinen Bruder zu verlieren und ihm jeden zu rauben, der ihn geliebt hatte.
Ich hatte eine erdrückende Sünde, ein schweres Kreuz, auf meinen Schultern zu tragen, wurde zum Ursprung aller Trauer meiner Liebsten, bis auch sie ihren letzten Atemzug taten. Von der ewigen Schuld reingewaschen und erlöst zu werden, davon konnte ich nur träumen, denn sie hatte sich wie eine Eisenkette um meine Beine geschlungen, ließ mich nicht voranschreiten und fesselte mich bis in alle Ewigkeit an den Punkt, an dem ich bereits stand.
Ich stieß einen lauten Seufzer aus, bemerkte wie mein angestrengtes Nachdenken jegliches Gefühl in den Hintergrund schob und der inneren Leere unendlich viel Platz bescherte. Währenddessen hatte ich mich dazu entschieden, nicht mehr ziellos durch die vielen Fernsehsender zu schalten, sondern es einfach bei den Nachrichten von heute zu belassen. Vielleicht gab es dort etwas, worüber ich mir den Kopf zerbrechen konnte. Mein Tee war nur mehr lauwarm und fast leer, weshalb ich den Rest in einem Schluck austrank und mir noch ein wenig von der schmackhaften Flüssigkeit in meine Porzellantasse einschenkte. Berieseln ließ ich mich derweil von Neuigkeiten aus dem Inland, ehe es zu internationalen Themen wechselte.
Es wunderte mich nicht, als die Nachrichtensprecherin etwas von den Vereinigten Staaten erwähnte, diese hatten immerhin einen festen Platz in den Medien gefunden. Gelangweilt driftete ich wieder ab, hatte Probleme damit, mich auf den Inhalt der Sendung zu konzentrieren, da es lediglich wiederkehrende Probleme waren, die mich weder interessierten noch wollte ich damit in die Tiefe gehen. Ich war bereits dabei, den Fernseher einfach wieder abzuschalten, als mir plötzlich ein kleines Detail zu Ohren kam, das sofort meine gesamte Aufmerksamkeit erregte, mich sogar für den Moment lähmte und mein Bewusstsein von der Realität abtrennte. Ich fühlte mich, als hätte ich eine andere Welt betreten, fernab von meiner kleinen Londoner Wohnung; meine Sinne schalteten sich ab und mein Herz blieb stehen. Mein Verstand wurde blank, ähnelte nur mehr einem leeren Nichts, während jedes Wort, jede Information, die sich jemals in mein Gehirn gebrannt hatte, in Vergessenheit geriet. Selbst die Wärme des Tees, den ich gerade noch zu mir genommen hatte, verschwand mit einem raschen Wimpernzucken.
Es wurde eine Meldung bezüglich eines amerikanischen Teenagers angekündigt, der nach seiner Familie suchte, die er vor vielen Jahren auf Reisen verlor. Das war zunächst nicht der springende Punkt, wäre da nicht ein Name gefallen, der mir binnen Sekunden einen Schauer über den Rücken jagen konnte.
Alfred.
Dieser Name gehörte einst meinem geliebten Brüderchen.
Wie aus Instinkt lenkte ich all meine Aufmerksamkeit auf den Bildschirm, schaffte es nicht einmal, mich unter Kontrolle zu bringen. Das Bild, das sich zunächst in der oberen linken Ecke befand, vergrößerte sich, als es zum eigentlichen Beitrag überging. Meine Augen weiteten sich schlagartig und mein Hals schnürte mir die Luft ab, als hätte sich ein Strick darum gewickelt.
Ich sah blondes Haar mit dem markanten Haarwirbel.
Ich sah blaue Augen, die so strahlten wie früher.
Ich sah das Gesicht, das meinem kleinen Bruder nur zum Verwechseln ähnlich sah.
Mein Herz machte einen Aussetzer, zwang meine Brust dazu, sich schmerzvoll zusammenzuziehen. Es war, als breche meine gesamte Welt in sich zusammen, als fiele ich zurück in die Vergangenheit, die mich nach und nach einholte und mit ihren dunklen Schlingen nach mir griff. Innerlich bemühte ich mich, durch den Sturm des Schocks zu kämpfen, doch das Wetter wurde immer verzerrter, immer wilder. Dieser Alfred sah meinem verschollenen Bruder zu ähnlich, dass man sie beinahe als Zwillinge betrachten könnte. Ich musste diesen Gedanken verwerfen. Dieser junge Mann konnte niemals etwas mit meinem Alfred zu tun haben. Ich würde es mir nur aus Verzweiflung einreden, dass er derselbe ist. Ich war bereits töricht genug, nach über zehn Jahren noch an jemandem zu hängen, der auf ewig fort war. Ich hatte „Alfie" in den USA verloren und niemand konnte ihn wiederfinden. Warum sollte er dann nach all diesen Jahren auf einmal quicklebendig im Fernsehen auftauchen?
Ich schüttelte den Kopf. Ich musste diese Gedanken aus meinem Kopf verbannen und mich eher darauf konzentrieren, was gesagt wurde. Denn anscheinend war dieser Blondschopf ein vierjähriges Findelkind gewesen, das man auf einmal völlig erschaudert und geschockt in einem Wald fand. Anscheinend konnte er sich nach dem Vorfall nur spärlich wieder daran erinnern, was geschehen war. Ich begann zu spekulieren, aber als Alfred plötzlich eine Bomberjacke hervorzauberte, traf es mich wie ein Blitz. Ich musterte die Ärmel genau, achtete darauf, ein gewisses Detail zu finden und fluchte ein wenig, als er nicht eine Sekunde lang stillsaß.
Ich wollte es sehen. Ich wollte sehen, das sich auf dieser alten Bomberjacke die aufgestickte Sternschnuppe befand. Stress nagte an mir; mein Kopf und alle möglichen Fragen und Antworten bekriegten einander. Ich wollte in diesem Mann meinen verschollenen Bruder sehen, meine Verzweiflung verkrampfte sich mit diesem flehenden Funken Hoffnung, ihn endlich wiederzusehen und Vergebung zu finden.
Dann sah ich es. Die kleine Sternschnuppe. Und meine Glieder waren wie gelähmt. Mein Kopf wurde leer und meine Ohren rauschten, alles fiel in sich zusammen. Einzig und allein die Erzählungen des Amerikaners trauten sich durch meine plötzliche Taubheit zu brechen.
Sie deckten sich mit meinen Erinnerungen, erweiterten diese mit seiner Sichtweise.
„...Ich bekam die Jacke von jemand sehr wichtigem."
Sie hatten Lücken, die wie ein fehlendes Puzzleteil nur einen kleinen Teil des gesamten Konstrukts ausmachten.
„Was davor geschah, hatte ich vergessen. Ich war zu sehr in Schock und die Familie, die mich aufnahm, kümmerte sich um mich."
Sie beantworteten meine Fragen, die ich mir seit Jahren stellte.
Ich war wie vom Blitz getroffen, meine Sinne hatten sich ausgeschaltet und lediglich mein schwermütiges Herz hatte die Kraft, weiterzuschlagen. Die Zeit stand still, der Fernseher strahlte immer noch dieselbe Sendung aus, wechselte aber das Thema. Ich konnte meinen eigenen Atem hören, spürte den kräftigen Puls bis in die Fingerspitzen. Erfassen konnte ich das Ganze jedoch nur spärlich. Ich tastete mich langsam an die Realisation heran, baute die Mauer, die sie versteckte, Stück für Stück wie eine alte Mauer aus Ziegelsteinen ab, bis ich das Verborgene dahinter endlich erblickte.
Er lebte...Er lebte! Ich konnte es nicht glauben und mein Atem begann zu stocken, während zarte Tränen meine Wangen herunterrollten. All die Jahre, die ich trauernd und mit all der Bittersüße auskosten musste, standen an ihrer letzten Hürde; an dem letzten Hindernis, bevor sie als abgeschlossener Lebensabschnitt das Ziel erreichten und ein Neustart begann.
Ich wollte diesen Alfred kennenlernen.
Ich wollte mich ein letztes Mal vergewissern, dass es wirklich er war.
Ich wollte diese letzte Chance nutzen, meinen geliebten Bruder wiederzufinden.
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