Gefunden
Ich schritt voran, meinen Atem anhaltend. Jeder Schritt auf dem, von Kieselsteinen knirschenden, Pfad verzögerte mein Realitätsgefühl um ein Vielfaches. Ich schien in eine Trance zu fallen; in eine völlig andere Realität, obwohl mein Körper doch einwandfrei auf dem kleinen Feldweg am Rande einer Kleinstadt vor sich hin taumelte. Mein Geist jedoch war in meiner Fantasie eingesperrt, wurde von den vielen Möglichkeiten, die in meinem Kopf schwirrten, bedrückt.
Wie würde das Treffen verlaufen?
Würden wir uns als Brüder wiederfinden oder als entfernte Bekannte?
Hatte ich die richtige Entscheidung getroffen oder hatte mich meine Verzweiflung in den blanken Wahnsinn getrieben?
All dieser Selbstzweifel verlangsamte mich, schien meine schweren Glieder an den Boden zu heften, als durchquerte ich in diesem Moment einen hüfttiefen Sumpf, der mich behinderte. Jede Bewegung fühlte sich an wie die Ewigkeit, zog sich unnötig in die Länge und vergrößerte meine Ungeduld.
Wann käme ich endlich an?
War ich pünktlich?
Was, wenn ich den falschen Weg genommen hatte?
Ich warf einen Blick auf die Straßenschilder, las die darauf versehenen Namen.
Nein, ich musste richtig liegen.
Der Treffpunkt läge nur wenige Meter weit vor mir.
Der warme Sommerwind pfiff um die Häuser, wiegte die Blätter der Bäume sanft. Das umliegende Gras hatte eine trockene, bräunlich-gelbe Farbe angenommen und ähnelte dabei frischem Heu. Die letzten Wochen mussten wohl von strahlendem Sonnenschein geprägt worden sein. Ich bog nach rechts in einen Park ein, mein Herz hämmerte immer wilder gegen meine Brust. Ausschau haltend irrte ich auf dem angelegten Weg, umrahmt von zahlreichen Bäumen, umher. Das goldene Abendlicht schien nur spärlich herein, brach lediglich stückchenweise hinter dem dichten Blätterdach hervor und bemalte den Boden mit seinem wertvollen Lichterspiel. Ich spürte das letzte bisschen Wärme auf meiner Haut, genoss, trotz all dem inneren Stress, für einen kurzen Moment diesen behüteten, stilleren Ort. Tief einatmend blieb ich stehen, schloss meine Augen und verabschiedete mich von all der Last, die mich jahrelang wie zersprungenes Porzellan einsam zurückließ. Der Käfig, der mein Herz einkerkerte, zersprang in seine Einzelteile, beschenkte es mit der Freiheit, die ihm geraubt wurde und schloss ein für alle Mal die Vergangenheit ab wie ein Autor, der seiner Geschichte das Schlusswort verpasste.
Denn im nächsten Moment sah ich es.
Ich sah ihn.
Ich sah Alfred.
Und mein Herz setzte aus; die Zeit blieb stehen.
Alle Wörter, die ich mir für diesen Moment beiseitegelegt hatte, lösten sich in Luft auf, verpufften wie ein Häuflein Asche im Sommerwind. Meine Beine wurden mir fremd, sie hörten nicht auf mich und trugen mich dennoch voran, bis ich die Parkbank nahe des schwarzen Gittertores erreichte, auf der Alfred, nein, auf der mein Bruder bereits wartete. Ich schluckte. Nun war der Moment gekommen, den ich mir jahrelang ersehnt hatte. Dass ich ihn jemals wieder zu Gesicht bekommen könnte, hätte ich mir vor wenigen Monaten nicht mal zu träumen gewagt. Doch das hier war real. Ich stand hier, mitten in einem riesigen Land, wimmelnd von den verschiedensten Menschen und hatte meinen Bruder nach fünfzehn langen Jahren wiedergefunden. Wie vielen Menschen war wohl das Glück, wieder mit ihren Liebsten vereint zu sein, zugutegekommen, nachdem sie Ewigkeiten gewartet haben?
Auf einmal sah Alfred auf, bemerkte mich und sprang sofort von der einsamen Parkbank auf. Sichtlich erfreut und ein breites Grinsen im Gesicht tragend winkte er mir zu, auf dieselbe Art und Weise, wie er es als Kind immer tat.
Mein Herz pochte aufgeregt.
„Hey!", war das Erste, was ihm über die Lippen kam, „Du wirst wohl Arthur sein, richtig?" Alfred zeigte mir Offenheit und Vertrautheit, trotz unserer jahrelangen Abwesenheit, wobei lediglich der digitale Raum uns näher führte. Dennoch schluckte ich meine Anspannung und Unsicherheit runter und nickte auf seine Frage. „Ja."
„Hätte ich mir denken können, deine buschigen Augenbrauen sind wirklich ein Markenzeichen." Er lachte, als er meinen verdutzten Gesichtsausdruck erblickte und klopfte mir freundschaftlich auf die Schulter. „Kleiner Scherz, Bro, ich bin froh dich mal in Person zu treffen!"
„Das kann ich nur so zurückgeben. Es sind auch fünfzehn Jahre vergangen."
Und ich lächelte. Meine Furcht war zunichte gemacht, war wie ein Spiegel zersprungen und hatte keine Macht mehr über mich und meine Sicht. Ich war glücklich, erfüllt von unendlicher Freude, als ich ihn traf, ihn endlich kennenlernte und in meine Arme schließen konnte.
Nach fünfzehn Jahren...
Nach fünfzehn Jahren meiner Hölle auf Erden...
Nach fünfzehn Jahren unendlichen Wartens...
Alfred und ich verbrachten Stunden miteinander, Tage und Nächte. Wir teilten unsere Erlebnisse, die nach dem schlimmen Ereignis geschehen waren, erzählten von unseren Familien. Und zum ersten Mal in meinem Leben vergaß ich sogar den Fakt, dass ich ihn einst verlor. Denn ich hatte ihn wiedergefunden und er war hier. Wieder hier bei mir. Diese neue Zeit, dieser Neuanfang, diesen konnte mir niemand mehr wegnehmen.
Denn nach all der Zeit, nach all den Strapazen, die uns beide herausforderten und uns trennten, waren es die bittersüße Wiederfindung und die nie erloschene Hoffnung, die meine Porzellanscherben der Seele wieder zusammenflickte, mich aufbauten und mir eine neue Chance gab, die ich wertschätzen würde. Denn ich hatte etwas gegen meine inneren Dämonen getan; ich hatte meinen Bruder gesucht, nicht aufgegeben und ihn wiedergefunden.
Denn das war das schönste Geschenk, was man mir jemals hätte geben können.
Ein Geschenk, wertvoller als irdischer Reichtum.
Ein Geschenk, auf das ich gewartet hätte ein Leben lang.
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