Fünf Türen
Alice schloss die Tür ihres Ateliers ab und drehte sich um. Auf dem Rand des offenen Fensters im Treppenhaus saß ein Rabe. Er beobachtete sie; nicht mit den ruckartigen Kopfbewegungen und dem stumpfen Starren eines Vogels, sondern mit einem ruhigen, kalkulierenden Blick, als warte er auf etwas.
"Na", sagte Alice, "was machst du denn hier?"
Es knisterte in ihrem Kopf. Ich brauche deine Hilfe.
Alice erstarrte. "Was?"
Du brauchst Geld, nicht? Du könntest Millionärin werden. Und wenn du willst, noch viel mehr.
***
Alice fröstelte in der Kälte der alten Lagerhalle, in dessen halboffenem Nebeneingang sie nun stand. Der Weg war nicht lang gewesen, und so hatte nur eine Zigarette das wirbelnde Kreisen ihrer Gedanken beruhigen können. Sie wusste nicht, was seltsamer war – der telepathische Rabe neben ihr, oder dass sie ihm folgte. Sie blies eine kleine Rauchwolke aus und dachte an das Geld, das sie da gerade verbrannte. Vielleicht doch nicht so seltsam.
"Und jetzt?"
Schau auf die andere Straßenseite.
Einige mehrstöckige Häuser hinter einem schmalen Bürgersteig, an dem zwei Autos parkten, beide mit schmutzigen Windschutzscheiben und abblätternder Farbe.
"Ja...?"
Schau genauer hin. Sieh, was wirklich da ist, nicht, was du denkst, was da ist. Stell dir vor, du würdest es malen wollen.
Alice konzentrierte sich, und wäre es nicht ein Rabe gewesen, der ihr diese Anweisung erteilte, so wäre sie sich ein wenig veräppelt vorgekommen. Eben hatte sie bereits Fotos von irgendeinem Mann memorisieren müssen, "um ihr fotografisches Gedächtnis zu testen". Wofür das alles nötig war, weigerte er sich zu sagen. Moment. Dort, zwischen den beiden Häusern...
"Da ist... Da ist gar kein Zaun, oder? Da ist eine Tür..."
Der Rabe flatterte aufgeregt mit den Flügeln. Du siehst sie? Sicher?
"Falls das hier wirklich Zigaretten sind und nicht etwas ganz anderes, ja."
Gehen wir hin.
"Unter einer Bedingung."
Was? Die Stimme klang nervös. Ich habe dir bereits alles versprochen, was du dir wünschen kannst.
"Ich will Antworten."
Der Rabe scharrte in der sandigen Erde.
Ich verspreche, dass du bei unserer Rückkehr alles wissen wirst. Aber wir sollten uns beeilen.
"Okay."
Alice zertrat ihre Zigarette, stieß sich ab und ging den Vorhof hinunter. Hinter ihr fiel die Tür mit einem lauten Knall zu.
Vielleicht sollte sie öfter rausgehen. Es war windig, die Wolken gischtweiße Spritzer auf chinablauem Grund. Ein guter Tag zum Malen. Der nächste Windstoß ließ die Bäume rauschen und blies den Geruch feuchter Erde zu ihr.
Sie zuckte vor Schmerz zusammen, als der Rabe seine Krallen in den dünnen Stoff ihrer Jacke sank.
"Hey!"
Es muss sein. Wer weiß, was sonst passiert.
"Und ich?"
Dir kann nichts geschehen.
Ein Auto sauste vor ihnen über die Straße, rot, wie ihr eigenes es gewesen war. Bis sie direkt vor ihr stand, ließ Alice die Tür nicht aus den Augen.
"Und jetzt hier durch?"
Es schien eine ganz gewöhnliche Tür zu sein, Eichenholz mit einer messingfarbenen Klinke. Vollkommen gewöhnlich, bis auf den Fakt, dass sie scheinbar nirgendwohin führte. Alice streckte ihre Hand nach dem Griff aus.
Warte. Ich will dir etwas zeigen. Hast du irgendwas zu essen?
"Ich habe Kaugummi."
Ihre Mutter hielt nicht viel vom Rauchen, und nachdem sie die Kaugummis einmal bei einem Besuch vergessen und damit ein riesiges Donnerwetter ausgelöst hatte, trug sie sie lieber immer mit sich herum.
Steck dir eines in den Mund, öffne dann die Tür.
Hinter der Tür wartete...
"Wieso sind wir wieder beim Lagerhaus?"
Eine Art Raum-Zeit-Schleife. Sagte man mir. Merkst du irgendwas?
"Außer das mit der Schleife, meinst du? Nein. Warte. Was zur Hölle?"
Sie spuckte den Kaugummi aus.
Geschmack. Ergibt Sinn, oder?
"Nein, tut es nicht. Was ist das hier?"
Stell es dir vor wie beim Drucken. Erst werden die cyanfarbenen Teile des Bildes gedruckt, dann kommen Magenta, Yellow und Schwarz. Das fertige Bild ist unsere Realität.
"Von sowas habe ich noch nie gehört."
Nur wenige wissen davon.
"Und wonach suchen wir?"
Nach der blanken Seite. Los, weiter geht's.
Sie spürte den Frost an ihrer Haut nagen. Die Fabriktür fiel mit einem lauten Knall hinter ihr zu. Sie sah zum Himmel, die Wolken gischtweiße Spritzer auf chinablauem Grund. Der nächste Windstoß ließ die Bäume rauschen und blies den Geruch feuchter Erde zu ihr.
"Ernsthaft, deine Krallen sind wirklich sehr scharf."
Ich kann nicht durch die Tür fliegen. Du musst mich tragen.
Ein rotes Auto sauste vor ihnen über die Straße.
"Es ist..."
Ja. Wie gesagt, eine Raum-Zeit-Schleife.
Die Tür knarrte.
"Was ist es diesmal?"
Riech mal.
"Oh."
Sie fröstelte in der Kälte. Der Nachhall der Fabriktür begleitete sie auf ihrem Weg. Die Wolken waren gischtweiße Spritzer auf einer chinablauen Basis. Der nächste Windstoß ließ die Bäume rauschen.
Er suchte nach der blanken Seite. Doch folgten die Farben nicht immer einem Plan, einer Zeichnung? Die blanke Seite...
Warum zögerst du?
"Versprich mir, dass das hier keine negativen Folgen haben wird. Versprich mir, dass durch das hier niemand verletzt wird."
Das hängt von dir ab.
"Was meinst du?"
Gibt es jemanden, den du verletzen möchtest?
"Nein!"
Gut. Mir geht es genauso. Eher das Gegenteil.
Alice betrachtete ihn.
"Okay, aber... wieso ich?"
Ich brauchte einen Künstler – ihr habt ein Auge für sowas, und andere Fähigkeiten, die wir später brauchen werden. Du bist trotzdem besonders. Nicht jeder kann die Türen sehen, auch unter Künstlern. Aber bitte, öffne jetzt.
Nichts. Nein, nicht nichts. Es war nicht so, dass sie nichts sah – sie sah nicht. Sie konnte sich kaum an das Gefühl erinnern, zu sehen. Ihr Lieblingsrot, das Abendlicht auf ihrem billigen Laminat, das Gesicht, das ihr aus dem Spiegel entgegen sah... Dass ihr Beruf auf solch flüchtigen Details basierte, erschien ihr plötzlich unvorsichtig, unverständlich.
Sie ging los.
Ein Knall. Die Tür.
Bäumerauschen. Ein kalter Windstoß auf ihrer Hand.
Das Brummen eines Automotors, anschwellend, abschwellend.
Wo war der Bürgersteig? Ihre Schritte verlangsamten sich. War das hier überhaupt die richtige Richtung? Und wo war der Rabe?
Sie blieb stehen.
Was, wenn das hier schon die letzte Schicht war? Hatte der Rabe sie zurückgelassen? Ihr Atem wurde schneller. Wann würde das nächste Auto kommen? Was, wenn sie das Gleichgewicht verlor? Was-
Schmerz in ihrer Schulter.
Geh weiter, Alice. Stopp. Hier ist der Bürgersteig. Jetzt noch drei Schritte.
Ihre Beine zitterten noch, als sie langsam einen Fuß vor den anderen setzte.
Taste dich entlang.
Luft. Hart. Grobes Holz. Kaltes Messing.
Ein Knarzen.
Stille. Ein Kokon, das sie umgab. Panik stieg in ihr hoch. Als würde sie ertrinken, eingewickelt in eine Wolldecke.
Kalt.
Wind.
Schmerz. Krallen in ihrer Schulter.
Sie war gestolpert. Steinchen in ihrer Handfläche.
Einfach nur weiter.
Holz. Kaltes Metall. Diese Stille...
Alice?
Sie blinzelte und rappelte sich auf.
Das ist normal. Am Anfang brachte es mich auch durcheinander.
"Spinnst du?! Du sagtest, es würde nichts Schlimmes passieren!", sagte Alice. Dann schaute sie sich um.
Weiß war alles, was sie sah. Nein. Schlieren. Schlieren in Form von Bäumen, Häusern, Autos, Menschen. Und hinter ihr ein schwarzes Loch.
Es ist beeindruckend, nicht? Aber lass dich nicht zu sehr davon einfangen.
"Wieso existiert das hier?"
Wieso existiert das Universum? Niemand weiß es.
"Was willst du denn nun von mir?"
Du hast die offensichtlichste Frage noch nicht gestellt.
"Und die wäre?"
Wieso bin ich ein sprechender Rabe?
"Eher ein telepathischer."
Ich bin eigentlich ein Mensch, weißt du. Mir zeigte eine andere die fünf Türen. Ich musste sie tragen; ab der Hüfte abwärts bestand ihr Körper aus purem Gold, doch ihr fehlte ein Fuß. Er wurde ihr abgehackt und gestohlen. Doch so oder so hätte sie die Schwellen nicht alleine überschreiten wollen. Sie erklärte mir die Regeln dieser Türen.
"Regeln? Das Universum stellt keine Regeln auf."
Die Erschaffer dieses Tunnels schon, wer auch immer sie waren. Die erste Veränderung, die du hier bewirkst, muss dem Wohle anderer zu Gute kommen. Die zweite darf eigennützig sein. Es ist alles erlaubt, außer Mord von mehr als zehn Personen.
"Oh Gott. Damit kann man immer noch so viel Schaden anrichten."
Ja.
"Und bei mehr als zwei Wünschen?"
Bei mehr als zwei Wünschen... gehen Dinge schief. Vielleicht nicht beim ersten Mal, oder beim zweiten, oder beim dritten, doch ganz sicher irgendwann.
Er zupfte an seinem Brustgefieder.
"Du willst, dass ich dich wieder zum Menschen mache. Du warst das auf den Fotos vom Anfang."
Bitte. Der Rabe schaute auf. Du musst mich dir nur vorstellen.
"Was hast du dir gewünscht, bevor du zum Raben wurdest?"
Das Übliche. Geld, Freunde, Ansehen... Aber ich habe nie jemanden verletzt. Bitte, Alice.
"Na gut."
Sie vergegenwärtigte sich den Mann von den Fotos. Ende 30, rasiert, dunkle Haare, Brille. Die dunklen Augenringe, die buschigen Brauen, die Lachfalten.
Neue Schlieren entstanden vor ihr, sich rankend und windend, nach ihrem Belieben. Ihrem jeden Gedanken folgend.
***
"Alice", sagte er vor der letzten Tür, "dies alles ist eine Falle. Mach nicht denselben Fehler, sei nicht so gierig wie ich, und alle anderen vor mir."
"Keine Sorge, in meiner Wohnung wartet eine Million auf mich."
Auf dem Rückweg zu ihrem Appartement begann sie zu rechnen. Die Mietschulden... ein neues Auto... der tägliche Verbrauch an Farben und Leinwänden... der Kredit ihrer Mutter.
Sie blieb stehen. Wieso, oh wieso hatte sie sich keine Milliarde vorgestellt, keine Billion? Sie konnte die Geldscheine jetzt vor sich sehen, ordentlich gestapelt, im Licht der Abendsonne glitzernd.
Eine Billiarde... Sie hätte am nächsten Tag in einer Villa auf Hawaii sein können. Sie hätte sich zur reichsten Person der Welt machen können, dachte sie, und kicherte.
Wieso hatte ihr der Rabe nicht gesagt, wie mickrig eine Million wirklich war, wieso hatte er ihr nicht geraten, sich mehr zu wünschen? Und dann das Versprechen, das sie ihm gegeben hatte... Dabei interessierte ihn doch nur sein eigenes Schicksal.
Was hatte er gesagt? Nicht beim ersten, zweiten, dritten Mal? Milliardärin sein oder den Rest des Lebens durch die Lüfte sausen, oder die Füße für soviel Geld verkaufen, dass es locker für eine Prothese und noch viel mehr reichen würde? Und so gierig war sie schließlich nicht. Ein-, zweimal...
Alice drehte sich um und lief beschwingten Schrittes den Weg zurück, den sie gekommen war. Das Leben war zu kurz, um keine Risiken einzugehen.
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