Februar 2008
Ich blätterte lustlos in meinem Mathebuch herum. Josias war der Meinung, wir müssten unbedingt jetzt Hausaufgaben machen, und hatte sich dafür ordentlich an unseren Schreibtisch gesetzt, während ich mich auf dem Boden ausgebreitet hatte und Aufgabenstellungen anstarrte, ohne sie wirklich zu lesen. Weil ich mich nicht konzentrieren konnte.
„Wenn du weiter trödelst, wirst du nie fertig." Er warf mir über die Schulter hinweg einen mahnenden Blick zu, der nach ein paar Sekunden von Stirnrunzeln begleitet wurde, bevor er sich vollständig zu mir umdrehte. „Was ist los?"
„Findest du Maike hübsch?"
„Meine Ex?" Er musterte mich genauer. „Wir haben Schluss gemacht – du kannst mit ihr ausgehen, wenn du möchtest."
„Nein, ich will nicht mit ihr ausgehen." Frustriert richtete ich mich auf und verrenkte meine Beine, bis ich im Schneidersitz dasaß. „Ich will wissen, ob du sie hübsch findest."
Das Stirnrunzeln nahm an Intensität zu. „Ich schätze", sagte er schließlich langsam. „Die anderen Jungs finden sie hübsch, also ist sie das wohl."
„Meinst du, du weißt es nicht so genau, weil du vielleicht schwul bist?"
Sein Blick wanderte an mir vorbei. „Das wäre sehr unpraktisch. Homosexuelle haben es gesellschaftlich meistens schwerer als Heterosexuelle. Aber das ist allgemein unwichtig für mich."
Ich rutschte näher zu ihm hin. „Wieso ist das unwichtig für dich?"
„Weil nicht vorhabe, jemals wieder eine Beziehung zu führen."
Ich blinzelte. „Hast du nicht?"
„Nein." Er schlug seine Beine übereinander und verschränkte zeitgleich die Arme vor der Brust. „Möglicherweise werde ich mal heiraten, falls das irgendwelche Vorteile mit sich bringt, aber in diesem Zusammenhang wird es eine reine Zweckehe sein mit einer Frau, die weiß, dass ich sie nicht lieben kann."
„Hm." Ich rückte noch ein Stück weiter in seine unmittelbare Nähe. „Und denkst du, ich könnte schwul sein?"
Er legte den Kopf schief. „Vor ein paar Wochen hast du gemeinsam mit unseren Mitschülern die Mädchen in unserer Klasse nach Ansehnlichkeit bewertet."
„Ja, aber was ist, wenn mir auch Jungs gefallen?"
„Dann wärst du bisexuell und nicht homosexuell." Er hob die Schultern an. „Aber herausfinden solltest du es erst, wenn wir nicht mehr länger hier wohnen. Du weißt, wie konservativ Papa ist, und Gerüchte machen schnell die Runde. Vergiss es einfach für die nächsten vier Jahre, bis wir achtzehn sind."
Bloß waren vier Jahre so eine unendlich lange Zeit.
Ich entwirrte meine Beine wieder und streckte sie aus, wackelte mit den Zehen. „Wir ziehen dann direkt weg, oder? An meinem achtzehnten Geburtstag?"
„Sobald wir mit der Schule fertig sind und ich Zugriff auf das Konto erhalte, das Papa für mich angelegt hat. Vorher können wir nicht gehen, das können wir uns nicht leisten." Er nickte zu meinem Mathebuch hin. „Erst recht nicht mit deinen Noten."
Ich schnitt eine Grimasse. „So schlecht sind die gar nicht", murrte ich.
„Du hast überall nur Vierer."
„Und eine Vier ist ausreichend."
Er verdrehte die Augen und wandte sich wieder seinen Hausaufgaben zu, während ich aus dem Fenster nach draußen blickte.
Vielleicht hatte Efraim etwas Besseres dazu zu sagen.
Ich war vor Kurzem erst vierzehn geworden, Efraim würde in sieben Wochen fünfzehn werden. Es waren nur neun Monate Unterschied, aber trotzdem war er eine Klasse über Josias und mir. Deswegen sahen die Leute bei ihm besser aus als bei uns im Jahrgang.
Sie trugen fast alle keine Zahnspangen mehr.
„Hi." Er öffnete mir die Tür und hielt mir noch im selben Atemzug einen hellgrünen Apfel hin, den er halb aufgegessen mit seinen Fingern umklammerte. „Willst du probieren? Oder kriegst du von einem Bissen auch schon direkt Dünnschiss?"
Es war ein Fehler gewesen, Josias und ihn einander vorzustellen. Weil Josias ihm natürlich sofort von unserer Fruktoseintoleranz hatte erzählen müssen. Die Petze.
„Ein Bissen geht", meinte ich, legte meine Hand um seine und drückte sie mitsamt dem Apfel zu meinem Mund hin, knabberte ihn an. Er schmeckte süß und sauer gleichzeitig.
„Wenn ich dich jetzt über einem Drehspieß aufhänge, bist du ein Spanferkel." Er schmunzelte, nahm den Apfel wieder an sich und stopfte sich den Rest selbst in den Schlund. „Ich zieh mir grad 'nen Horrorfilm rein, der ist eigentlich erst ab sechzehn. Willst du mitgucken? Die Qualität ist aber echt mies, weil ich den von irgend so einer komischen Website runtergeladen hab."
„Klar." Ich schob mich an ihm vorbei nach drinnen und räumte meine Straßenschuhe ordentlich beiseite, ehe ich mir von ihm Schlappen geben ließ und wir nach oben in sein Zimmer verschwanden. Imani war nicht zuhause.
„Bin sowieso erst bei 'ner Viertelstunde, also können wir einfach nochmal von vorne gucken." Er scheuchte mich die Leiter zu seinem Bett hoch, wo ich es mir erstmal bäuchlings bequem machte und seine Decke zu einer Wurst zusammenrollte, bevor ich sie wie ein U um mich herum drapierte, damit mein Oberkörper etwas erhöht war und ich leichter zu dem klobigen Laptop schauen konnte, auf dem Efraim gerade den Film von Anfang an starten ließ.
Und die Qualität war tatsächlich saumäßig mies. Außerdem interessierten mich Filme gerade absolut gar nicht.
„Effy?"
„Hm?" Er klaute mir eine Seite des Bettdecken-Us und fläzte sich neben mich. Sein Bett war nicht sehr breit, seine Schulter drückte gegen meine.
Ich drehte mein Gesicht in seine Richtung. Bei ihm konnte ich nicht so direkt sein wie bei Josias, schließlich war er nicht mein Bruder und musste mich daher nicht zwangsläufig mögen. Er könnte sich jederzeit dazu entscheiden, nichts mehr mit mir zu tun haben zu wollen, und das wäre doof, weil er der erste Mensch war, der tatsächlich mit mir befreundet war und sich nicht nur wegen Josias mit mir beschäftigte. „Wie läuft's mit Selina?"
Efraim schwieg kurz, bevor er mit den Schultern zuckte. „Keine Ahnung. Die nervt in letzter Zeit extrem, vielleicht mach ich Schluss. Mal gucken."
„Warum nervt sie?"
Er wandte den Kopf nun seinerseits mir zu. Im Hintergrund lief der Film von uns unbeachtet weiter. „Sie meckert immer, wenn ich lieber was mit dir machen will als mit ihr. Aber alles, worauf sie Bock hat, ist halt scheiße langweilig."
Eine Steilvorlage!
Ich hob die Schienbeine von der Matratze und überkreuzte die Knöchel in der Luft. „Vielleicht solltest du dann lieber Jungs daten, wenn Mädchen dich langweilen."
Aber er lachte bloß über meinen Vorschlag. „Verzichte. Da wird mir schon vom Gedanken dran speiübel."
Oh. Unter diesen Umständen war es bestimmt besser, ich ließ das Thema in seiner Gegenwart bleiben.
„Musst du dich eben weiter langweilen", antwortete ich und ließ meine Beine wieder aufs Bett fallen, den Blick erneut beim Laptopdisplay. „Sag mal, will der Kerl sich jetzt ernsthaft das Bein absägen?"
„Worauf du wetten kannst!" Efraim ruckelte seine Aufmerksamkeit ebenfalls zurück zu seinem Laptop und warf hier und da sinnlose Kommentare ein, während ich ihn immer wieder heimlich von der Seite aus betrachtete.
Ich fand Maike hübsch, Selina auch, aber genauso Greg und Matteo und Ben. Ich fand irgendwie jede und jeden hübsch, ganz egal, ob Mädchen oder Junge.
Aber insbesondere Efraim. Ihn fand ich hübscher als sie alle miteinander.
In der Schule war Efraim immer umgeben von der coolen Clique seines Jahrganges. Sie mochten ihn, weil er ein Ass im Fußball war – und gefühlt generell in allen anderen Sportarten auch –, und die Mädchen fanden ihn schick, weil er groß war und echt geil zeichnen konnte. Zudem merkte es bei ihm keiner, wenn seine Mimik nicht stimmte. Er konnte das kaschieren.
Bei mir hingegen merkte es jeder. Es war zwar nicht mehr wie in der Grundschule, wo die andere mich gemieden hatten, aber da war trotzdem eine Distanz, die sie gegenüber Efraim nicht an den Tag legten. Josias meinte, es läge daran, dass ich nicht traurig war, wenn ich traurig sein sollte, und lachte, wenn ich nicht lachen sollte.
Dieser Mist war verwirrend.
„Buh!"
Ich stolperte einen Schritt nach vorne, als ein Körper von hinten gegen meinen prallte, bevor ich mich mehr schlecht als recht wieder fing.
„Irgendwann verletzt du ihn, wenn du ihn ständig so anrempelst." Josias rümpfte die Nase und warf einen Blick auf seine Armbanduhr. „Wir sollten uns beeilen, in einer Viertelstunde beginnt der Unterricht."
„Ich? Ihn verletzen? Niemals." Efraim schlang beide Arme um meinen Hals und stützte sich mit seinem vollen Gewicht auf mir ab. „Oder, Jude? Hab ich dich jemals verletzt?"
„Nö." Seine Brust war warm an meinem Rücken. „Ich bin robust."
„Siehst du, Oberstleutnant Nieselpriem?"
Josias beachtete ihn nicht weiter. „Das ist mir zu anstrengend", meinte er und ging voraus. „Wir sehen uns gleich, Judah."
Ich sah ihm hinterher, bevor Efraim meine Aufmerksamkeit zurückverlangte, indem er seine Wange von hinten gegen meine drückte.
„Ist mir immer wieder unbegreiflich, wie ihr beiden miteinander verwandt sein könnt." Er schnaufte, bevor er von mir abließ und sich neben mich stellte. „Übrigens", meinte er und zerrte sich dabei seinen grau Eastpak-Rucksack mit dem schwarzen Lederboden von den Schultern, „muss ich für Frau Lämmer nächste Woche in Kunst ein Bild zum Thema Beste Freunde abgeben. Ich will es mit Aquarellfarben auf eine Leinwand malen, habe aber mit Bleistift schon mal einen ersten Entwurf angefertigt. Willst du ihn dir ansehen?"
„Klar." Efraim hatte viele Freunde. Ich hatte also keinen blassen Schimmer, welchen von ihnen er auf Papier verewigt haben sollte.
„Ich bin mir immer noch nicht ganz sicher, welches Motiv das Thema am besten zum Ausdruck bringt, deswegen musst du ehrlich sein. Ich brauche mindestens 'ne Zwei, um meine Sechs in Geografie auszugleichen." Er stellte seinen Rucksack kurz auf dem bernsteinfarbenen PVC-Boden ab, den unsere Schule für alle Flure und Klassenzimmer ausgesucht hatte, und kramte etwas darin herum, bevor er eine schwarze Mappe herausfischte, sie aufschlug und mir in die Hand drückte. „Es ist gleich das oberste Blatt."
Das Bild zeigte eine Wiese mit vereinzelten Gänseblümchen und wucherndem Löwenzahn, auf der ein Junge saß, die Beine ausgestreckt und mit gehobenem Blick, hin zu einem gefängnisähnlichen Zaun, an den ein weiterer Junge sich mehr schlecht als recht klammerte, um hinüberschauen zu können.
Ich blinzelte. „Sind das wir?"
„Hm?" Seine Brauen zuckten in die Höhe. „Ja, wer denn sonst?"
Ich hielt meinen Blick starr auf die Zeichnung gerichtet. Es war der Moment, an dem wir uns kennengelernt hatten. „Heißt das, wir sind beste Freunde?"
„Was soll die Frage? Natürlich sind wir das."
„Aber du hast viele Freunde."
„Und die Hälfte von denen mag ich nicht mal." Er verpasste mir eine schmerzlose Kopfnuss. „Im Gegensatz zu dir."
Die Freunde, die ich momentan hatte, waren eigentlich Josias' Freunde, die sich notgedrungen mit mir abgaben, weil es uns nur im Doppelpack gab. Weil Josias der Meinung war, mich sozialisieren zu müssen.
Aber Efraim und Josias mochten sich nicht.
„Das Bild gefällt mir. Es wird bestimmt eine Eins." Ich blickte auf. „Kann ich es behalten?"
Efraim grinste kilometerbreit, nahm das Bild aus der Mappe und reichte es mir, bevor er sein Zeug wieder zusammenpackte und sich seinen Rucksack überwarf. „Wenn ich echt eine Eins dafür kriege, dann schenke ich dir auch das Aquarell dazu."
Ich faltete das Blatt ordentlich zusammen und stopfte es mir in die hintere Hosentasche, während wir uns langsam in Bewegung setzten. „Sind Aquarellfarben das gleiche wie Wasserfarben?"
Efraim wiegelte den Kopf hin und her. „Gibt ein paar Unterschiede." Und dann begann er zu erklären, was diese Unterschiede waren, bis unsere Wege sich an meinem Klassenzimmer trennten. Ich beobachtete ihn dabei, wie er rückwärts um die Ecke verschwand, mit dem Gesicht zu mir, winkend und mit einem Grinsen, das den Rest seines Gesichtes nicht erreichte.
Ich hatte einen besten Freund.
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