Kapitel 9
Kapitel 9
Ollie
Ich bin nicht mehr weit vom Pub entfernt. Da höre ich Lachen. Gemeines Lachen. Ich kann es nicht anders beschreiben. Oh man, heute Abend habe ich wirklich keine Lust auf Stress. Da einzige was ich will, ist das Gespräch mit diesem Ben hinter mich bringen. Und mich dann bis zur Besinnungslosigkeit betrinken und eine riesen Portion Käsetoast zu mampfen.
Als ich um eine Ecke biege, sehe ich, woher das Lachen kommt. Drei große Kerle in Bomberjacken prügeln auf eine Gestalt am Boden ein. Oder eigentlich prügelt nur einer der drei, die anderen stehen daneben, grölen und lachen, trinken und feuern ihren Kumpel an.
„Los, tritt die Schwuchtel da wo's wehtut!", grölt einer der drei und sein Kumpel kichert. „Ja, los, mach!"
Der Typ der auf den Mann am Boden eingeschlagen hat, grinst gemein. Dann holt er zu einem weiteren Fußtritt aus. Fuck!
„Oi!" rufe ich und renne auf die Gruppe zu. „Ich hab die Bullen gerufen, die sind gleich hier." (oops, vielleicht hätte ich das wirklich machen sollen).
Die drei Typen sehen zu mir her. „Verpiss dich, Alter!" ruft einer. Die zwei anderen zeigen mir einen Vogel. Doch davon lasse ich mich nicht beeindrucken. In der Schulzeit habe ich mich oft geprügelt. Das passiert, wenn die Mutter abhaut und der Vater ein alkoholabhängiger, arbeitsloser Mistkerl ist. Deswegen bleibe ich nicht stehen, sondern gehe direkt auf den Typen zu, der immer noch neben dem Mann am Boden steht.
Ohne Vorwarnung verpasse ich ihm einen Haken. Damit hat er nicht gerechnet. Er stolpert und stürzt fast. Sein Kumpel hält ihn am Arm fest. Der Typ grunzt, dann reißt er sich von seinem Kumpel los und greift an. Aber ich bin nicht betrunken wie er und ich kann kämpfen. Nach zwei Schlägen liegt der Typ mit einer blutigen Lippe am Boden. Ich stelle mich breitbeinig vor ihm auf. „Und jetzt hau ab, bevor die Bullen hier sind."
Ich muss der größte Glückspilz der Welt sein, denn in diesem Moment hört man in der Ferne Sirenen. Die drei Typen blicken sich an und ich sehe in ihren Augen, dass ich gewonnen habe. Der Typ den ich geschlagen habe steht auf und droht mir mit dem Zeigefinger. „Wenn ich dich je wiedersehe, mache ich dich fertig, Alter." Dann spuckt er auf den Boden. Einer seiner Kumpels wirft seine leere Bierflasche gegen die Häuserwand, wo sie zerspringt. Scherben fallen auf den Boden.
Jetzt bloß nicht verbal nachtreten, denke ich. Einfach gehen lassen. Und sie gehen tatsächlich. Ohne mich zu bewegen, die Hände noch immer zu Fäusten geballt, sehe ich zu, wie sie um die Ecke verschwinden. Selbst dann warte ich noch ein paar Augenblicke, bis ich sicher bin, dass sie weg sind. Die Sirenen verhallen in der Ferne.
Puh...
Hinter mir ertönt ein Stöhnen, dann leise Bewegungsgeräusche. Schnell drehe ich mich um und beuge mich hinunter. „Hey, Mann, alles okay bei dir?"
Mit langsamen Bewegungen dreht sich der Mann am Boden auf den Rücken.
Oh Fuck.
Ben
Nein, gar nichts ist okay.
Alles tut weh, aber die Schläge und Tritte haben aufgehört. Jemand hat die Kerle verjagt, soviel habe ich mitbekommen. So vorsichtig wie möglich drehe ich mich auf den Rücken. Meine Kleidung ist vom Regen und der nassen Straße durchweicht. Als ich zu meinem Retter aufblicke, sehe ich goldene Locken und grüne Augen.
Oh nein.
Ausgerechnet Oliver.
Ich stöhne und schließe die Augen. Ich will nicht, dass er mich so sieht.
„Uhm, bist du verletzt? Soll ich einen Krankenwagen rufen?"
Oh Gott, auf keinen Fall. Diese Demütigung ist so schon schwer genug zu ertragen. Mit zusammengekniffenen Zähnen schüttele ich den Kopf und setze mich auf. „Nein, mir geht es gut." Als ich sitze, atme ich einmal tief durch, doch sofort muss ich husten. Mein Brustkorb schmerzt. Ich krümme ich zusammen. Hoffentlich keine gebrochenen Rippen.
Über mir höre ich Olivers zweifelnde Stimme. „Ich weiß nicht, Mann, du sieht nicht gut aus. Vielleicht rufe ich doch besser Hilfe."
„Nein", presse ich hervor und schüttele nochmals den Kopf. Ich schmecke Blut und stelle fest, dass ich mir heftig auf die Wange gebissen habe. Außerdem blutet meine Unterlippe. Behutsam betaste ich sie. Meine Fingerkuppen sind blutverschmiert. Langsam wird mir kalt und erst jetzt registriere ich, dass ich noch immer auf dem nassen Boden sitze.
Mühsam ziehe ich die Knie an und stehe auf. Oliver streckt seinen Arm aus, wie um mir zu helfen, doch dann lässt er ihn wieder fallen. Ich schwanke einen Moment, weil mein Rücken und meine Beine und mein Unterleib weh tun, doch der Schmerz verebbt. Schlimmer als die Schmerzen ist die Demütigung. Oliver hat mitgekriegt, wie ich von so ein paar Hooligans verprügelt wurde. Was muss er jetzt nur von mir denken? Wenn er mich vorher schon für einen hoffnungslosen Fall gehalten hat, dann jetzt auf jeden Fall. Ich will nur noch weg von hier und nach Hause.
Weil es sich gehört (und weil er mich tatsächlich gerettet hat, ohne sein Einschreiten hätte das ganze viel, viel schlimmer ausgehen können), nicke ich ihm kurz zu und sage: „Danke. Ich weiß zu schätzen, dass du mir geholfen hast." Ich warte seine Antwort nicht ab, drehe mich um und humpele die Straße herunter. Meine Rippen tun weh, deswegen presse ich eine Hand auf meine Brust. Aber das hilft nicht. Ich will nur noch weg von hier.
„Hey, warte mal!" ruft Oliver hinter mir her und ich höre seine Schritte. Dann ist er neben mir. „Willst du nicht doch zu einem Arzt?"
Ich schüttele wieder den Kopf. Warum geht er nicht einfach und lässt mich in Ruhe im Boden versinken? „Nein, alles okay."
„Siehst aber nicht so aus. Hier", sagt er und reicht mir ein Taschentuch. Ich runzele die Stirn? Wozu das denn?
Ollie
Ben wurde überfallen und verprügelt. Ausgerechnet er. Er blutet an der Lippe und an der Schläfe. Ein kleines Rinnsal aus Blut und Wasser läuft ihm an der Seite des Gesichts herunter. Das scheint er gar nicht gemerkt zu haben, denn er sieht mein Taschentuch an, als ob es ihn jedem Moment beißen könnte.
Ich wedele etwas verlegen mit dem Taschentuch vor seinem Gesicht herum und deute dann auf seine Schläfe. „Du blutest".
Ben runzelt die Stirn, doch dann nimmt er das Taschentuch und tupft sich seine Lippe ab, bevor er sich das Tuch an die Schläfe hält. Als er es wegnimmt, ist es nass von Wasser und Blut.
Wird er blasser? Oh fuck. Er kippt mir doch jetzt nicht um, oder? Die ganze Situation ist verrückt genug. Zur Sicherheit trete ich näher an hin heran, sodass ich ihn auffangen kann, sollte er umkippen. Egal was ich von ihm halte, niemand sollte überfallen und zusammengeschlagen werden. Und schon gar nicht drei gegen einen. Doch Ben zerknüllt nur das Taschentuch, wirft es in einen Mülleimer und geht weiter.
„Danke", sagt er leise. Er sieht auf den Boden und humpelt weiter. Ich laufe neben ihm her. Nach ein paar Schritten bleibt er stehen und sich mich an. „Was machst du da?" fragt er.
„Uh", mache ich und kratze mich am Nacken. „Ich bringe dich nach Hause?" Ich sage die Worte, bevor ich nachdenken kann. Aber ja, ich denke das mache ich. Zur Sicherheit. Ich kann seine Miene nicht lesen, aber er sieht nicht glücklich aus.
„Das brauchst du nicht. Ich komme alleine klar."
Jep, gar nicht glücklich. Was glaubt der denn, wer er ist? Doch ich werde ihn ganz sicher nicht alleine und verletzt durch Brighton laufen lassen. Außerdem könnten diese Typen hier noch irgendwo sein. Und ich war ja sowieso auf dem Weg zu ihm. Aber das passt jetzt irgendwie nicht hierher. Ich kann ihn ja jetzt schlecht fragen, ob er mir eine Webseite baut.
„Ich glaube", sage ich und zucke mit den Schultern, „dass es mir wohler wäre, wenn ich dich begleite."
Jetzt runzelt er die Stirn. Ich kann sehen, wie er versucht, aufrechter zu stehen, doch er sackt wieder nach vorne und hält sich die Rippen. „Das ist sehr hilfsbereit, aber es geht schon."
Mann, warum kann er denn nicht einfach meine Hilfe annehmen? Arroganter Depp. Da es immer noch regnet und ich langsam durchweiche, zucke ich die Schultern und stecke meine Hände in meine Jackentaschen. „Okay. Ich komme aber trotzdem mit. Wegrennen kannst du mir ja nicht."
Bei meinen Worten sackt er noch ein Stück weiter in sich zusammen. Scheiße, das hätte ich auch anders formulieren können. Doch bevor ich noch etwas sagen kann, setzt er sich wieder in Bewegung. Ich gehe schweigend neben ihm her.
Ein paar Straßen weiter hört es endlich auf zu regnen. Die Stille zwischen uns ist mir unangenehm. Aber was soll ich sagen? Komm schon Ollie, lass dir was einfallen. Irgendwas. Da schießt mir etwas durch den Kopf, was die Typen gerufen haben. Bevor ich mich stoppen kann, platzt es aus mir heraus.
Ben
„Bist du schwul?"
Das fragt er. Einfach so. Er schreit es fast heraus, als ob ihm diese Frage schon die ganze Zeit auf der Seele gebrannt hat und er sie jetzt oder nie stellen muss. Seiner Stimme kann ich nicht anhören, ob ihm ein „Ja" unangenehm wäre oder nicht. Deswegen sehe ich ihn von der Seite her an.
Seine grünen Augen sind groß in seinem Gesicht. Er reibt sich den Nacken und unter meinem Blick röten sich seine Wangen. Ist es ihm peinlich, dass er gefragt hat? Meine Sexualität ist mir nicht peinlich. Ich wusste schon mit 14, dass ich schwul bin und für mich selber war es nie ein Thema. Für meinen Vater sah es dahingehend ganz anders aus. Bevor ich den dunklen Pfad in die Vergangenheit einschlage, stelle ich Oliver eine Gegenfrage.
„Wieso fragst du?"
Jetzt wird er sogar noch röter. Sein Hals zeigt rote Flecken und für eine Sekunde frage ich mich, ob sich das Rot auch auf seiner Brust ausbreitet. Nein, stopp, Ben. Denk nicht an seine Brust. Wieder reibt er sich den Nacken.
„Na ja", sagt er verlegen. „Weil die Kerle da so Sachen gesagt haben."
Ah ja, in der Tat. Das haben sie. Aber darunter waren keine Schimpfworte, die ich nicht schon einmal gehört habe. Kreativ waren diese Kerle jedenfalls nicht. Als ich nicht sofort antworte, schiebt Oliver hinterher: „Wäre völlig okay, wenn du es wärst. Ich bin selber bi."
Bei diesem Worten setzt mein Herz einen Schlag aus, um dann schneller weiter zu schlagen. Er ist bi. Hat er das wirklich gesagt? Hat er sich gerade einfach so geoutet? Mein Magen flattert. Aber im nächsten Moment sinkt er mir in die Kniekehlen. Also kann er mich einfach nur nicht leiden und hängt es nicht auf irgendeine Art und Weise mit meiner Sexualität zusammen. Na wunderbar. Der Tag kann gar nicht mehr schlechter werden. Da er mich immer noch erwartungsvoll ansieht, nicke ich.
„Ja, ich bin schwul."
„Und deswegen haben die dich zusammengeschlagen?" Er klingt beinahe ungläubig.
„Scheint so."
Endlich haben wir meine Straße erreicht. Ich will nur noch ins Bett, mich zusammenrollen und unter der Decke verkriechen.
„Das ist scheiße, Mann", sagt Oliver. „Mistkerle." Klingt er wütend oder bilde ich mir das ein? Ich muss es mir einbilden. Und wenn er wütend ist, dann nicht weil mir das passiert ist, sondern wohl eher im Allgemeinen. Weil es solche Typen wie diese Hooligans gibt.
Vor der Treppe zu meinem Apartment (bzw. dem meines Onkels) bleibe ich stehen. „Hier wohne ich."
Oliver sieht an der Fassade hoch. „Nett."
„Ja, dann", sage ich und trete auf die unterste Stufe. „Jedenfalls, danke nochmal. Dass du mir geholfen hast. Das hätte nicht jeder gemacht."
Oliver zuckt wieder die Schultern. „Es war richtig. Diese Kerle hätten dich umbringen können. Du solltest Anzeige erstatten, weißt du."
Ja klar. Als ob man die Typen finden oder belangen würde. Bei dem Gedanken an die Schlagzeilen, die es geben würde, wenn das rauskäme, wird mir ganz schlecht. „Sohn von Multimillionär Charles Montgomery Opfer von Gaybashing!" Nein danke, auf keinen Fall. Bisher habe ich es vermeiden können, dass die Presse erfährt, dass ich schwul bin, und das soll auch so bleiben. Wenn das herauskommt, würde mich mein Vater glatt enterben (wenn er das nicht sowieso schon gemacht hat, als ich nach Brighton gezogen bin).
„Also dann", sage ich, krame meinen Schlüssel hervor und gehe langsam die Treppe hinauf. Mein Rücken tut weh und meine Rippen schmerzen. Ich bin schon fast an der Haustür, als Oliver sagt: „Dann gute Nacht, Ben."
Ich sehe, wie er den Mund zu einem halben Lächeln verzieht, dann dreht er sich um und geht in die Dunkelheit davon.
Er hat mir gute Nacht gewünscht. Ich muss eine Gehirnerschütterung haben. Das ist die einzige Erklärung die es dafür geben kann, dass ich denke, dass mir Oliver eine gute Nacht gewünscht hat.
In der Wohnung hänge ich meine Jacke auf, dann gehe ich ins Bad, um mir den Schaden anzusehen. An meiner Schläfe bildet sich eine Beule. Sie ist jetzt schon dunkelblau verfärbt. Außerdem ist die Haut aufgeschürft. Die Beule werde ich eine Weile mit mir herumtragen. Außerdem ist meine Lippe aufgeplatzt. Ich wasche mir das Blut ab, dann ziehe ich mir Hemd und T-Shirt aus. Auch auf meinem Oberkörper zeigen sich bereits Blutergüsse. „Ha..." zische ich, als meine Finger über eine Rippe fahren. Es tut weh, ist aber wohl nicht gebrochen. Wenigstens etwas.
Wenn Oliver nicht gekommen wäre, hätte das viel schlimmer ausgehen könne. Vielleicht hat er mir sogar das Leben gerettet. Ich dusche, um diesen Tag von mir abzuwaschen, dann nehme ich zwei Schmerztabletten und lege ich mich ins Bett. Mein Kopf tut weh...
Bevor ich einschlafe, sehe ich noch einmal Oliver vor mir. Wie seine Locken vom Regen feucht an seiner Stirn geklebt und seine Augen besorgt zu mir heruntergesehen haben. Und ich frage mich, warum er mich nach Hause gebracht hat, obwohl er das nicht hätte tun müssen.
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