Kapitel 39
Kapitel 39
Ben
Das Fieber geht nicht weg. Aber es wütet nicht mehr so, glaube ich. Es ist immer da, in meinen Adern, meinem Blut. Es lässt mich frösteln und schwitzen, aber es vernebelt meine Gedanken nicht mehr. Oder doch?
Ich hätte schwören können, dass jemand hier bei mir war. Der etwas zu Essen gebracht hat und Wasser und eine neue Lampe. Doch als hinsehe ist da nichts. Das Wasser ist leer, die Lampe steht noch an genau derselben Stelle und zu Essen sehe ich auch nichts. Aber ich habe eh keinen Hunger. Nur Durst. Und wie. Aber es gibt nichts.
Also schlafe ich. Wenn ich schlafe, tut es nicht so weh. Wenn ich schlafe, sehe ich keine Menschen, die gar nicht da sind. Dann träume ich vom Meer, vom Strand, von hungrigen Möwen, die mir hinterherjagen. Ich kann den kühlen Meereswind beinahe auf meiner Haut spüren. Die frische Luft, die durch meine Haare fährt. Die meine Wangen kühlt und tief in meine Lunge dringt, um das Feuer, das dort herrscht, zu löschen.
Manchmal, wenn ich wach bin und meine Gedanken klar, frage ich mich, wie lange es wohl dauert, um hier unten zu sterben. Der Mensch kann drei Monate ohne Nahrung überlegen. Etwa drei Tage ohne Wasser? Wie viele Tage waren es jetzt? Einer? Zwei? Ich weiß es nicht. Alles ist so verwirrend.
Mir ist kalt. Ich rolle mich unter der dünnen Decke zusammen. Meine gebrochenen Finger sind mittlerweile taub. Es sollte mich beunruhigen, aber das tut es nicht. Taubheit ist besser als Schmerz. Ich komme hier nicht aus. Werde nicht mehr im White Whale Klavierspielen. Also ist es egal. Ich sterbe lieber ohne Schmerzen.
Es kommt keiner, um mich zu retten.
Niemand kommt.
Detektive Wright
20 Tage und wir haben versagt. Seit dem Video haben sich die Erpresser nur ein einziges Mal gemeldet. Doch Charles Montgomery hat sich geweigert, das Telefonat auch nur anzunehmen. Ich bin drangegangen. Doch die Kidnapper haben aufgelegt. Und seither....Funkstille. Nichts Neues.
Monroe sagt, dass Bentley Montgomery vermutlich tot ist. Dass sie in dem Video zu weit gegangen sind. Oder dass sie ihn hinterher getötet haben. Dass dies kein Entführungsfall mehr ist, sondern ein Mordfall. Welchen anderen Grund sollte es geben, dass sich die Entführer nicht mehr melden?
Wenn Bentley tot ist, wäre das schlimm. Sehr schlimm. Und traurig. Aber schlimmer wäre es noch, wenn die Entführer nicht wissen, wie es weitergehen soll. Wenn sie eingesehen haben, dass sie kein Lösegeld bekommen werden. Dann müssten sie sich jetzt überlegen, was sie mit der Geisel machen. Einfach laufen lassen und riskieren, dass Bentley sie identifiziert? Oder die Geisel töten? Aber wohin mit der Leiche? Man stellt sich das so einfach vor, aber das ist es nicht. Und jemanden zu töten ist eine Grenze, die viele Leute nicht überschreiten wollen. Entführen, okay. Aber töten?
Viele Entführungsopfer sterben, weil die Kidnapper es mit der Angst bekommen. Kurzschlusshandlung. Andere sterben, weil die Entführer einfach überfordert sind. Sie lassen die Geiseln sterben, haben aber nicht den Mut, es selber zu tun. Diese Geiseln verdursten, verbluten oder ersticken. Ein solcher Tod ist grausam. Einsam. Langsam.
Ich hoffe, dass Bentley dieser Tod erspart bleibt. Aber mit jeder Stunde die ohne ein Lebenszeichen, ohne eine weitere Kontaktaufnahme verstreicht, wird dieser Ausgang weniger wahrscheinlich.
Ich sehe hinüber zu meinem Partner. Monroe zuckt die Schultern. Es ist ruhig im Büro. Wir haben nichts zu tun. Alle Spuren sind ausgewertet. Wir können nur noch warten.
Aber ich kann nicht einfach nur herumsitzen. Also lade ich wieder das Überwachungsvideo der Bibliothek hoch, in der die Kidnapper das Foltervideo hochgeladen haben. Die Techniker haben niemand verdächtigen gefunden. Selbst Nachts um vier gehen die Leute dort ein und aus. Monroe hat nichts gefunden. Ich habe nichts gefunden. Aber da muss etwas sein. Irgendwas.
Es muss einfach.
Ben
Es ist ein Knirschen, dass mich weckt. Dann Licht. Es brennt in meinen Augen. Die Campinglampe ist schon lange verloschen und es ist dunkel hier drin. Schwarz. Ich kann nicht einmal die Hand vor meinen Augen sehen. Es ist Raucher. Ich erkenne es an seinem Schritt. Dem Geruch nach kaltem Zigarettenrauch. Er stößt die Tür mit dem Fuß auf und kommt herein. Ich bleibe liegen. Ich bin müde. Und mir ist kalt. Es ist mir egal.
„Stinkt hier drin wie in einem Pumagehege", sagt er und kommt zu mir. Er lässt etwas auf den Boden fallen. Ein Sixpack Wasser. Sechs Flaschen. Neun Liter. „Da", sagt er und tritt mit dem Fuß dagegen. „Das sollte eine Weile reichen. Hab keinen Bock jeden Tag hieraus zu fahren."
Dann sieht er auf mich herunter. Seine Augen hinter der Skimaske verengen sich. „Wasn mit dir los, hé?" Er gibt auch mir einen Tritt. Er trifft mein Bein. Ich bleibe liegen. Wende den Blick ab. „Hey, ich rede mit dir." Raucher gibt mir noch einen Tritt. „Glaubst wohl, ich hätte jetzt Mitleid mir dir, oder was? Hab ich aber nicht. Ganz und gar nicht."
Ich sage nichts. Was soll ich auch sagen? Die hören ja doch nicht auf mich. Ich könnte auch gegen eine Wand reden. Doch Raucher redet. Mit einer Stimme, die es mir kalt den Rücken herunterlaufen lässt.
„Dein alter Herr hat nicht gezahlt. Bist ihm wohl egal. Scheißegal." Noch ein Tritt, aber nicht doll. Ich rolle mich weiter zusammen. Warum geht er nicht einfach und lässt mich in Ruhe?
„Charles – high and mighty – Montgomery redet nicht mal mehr mit uns. Als ob wir es nicht wert wären. Hochnäsiger, alter Sack." Da kann ich ihm nicht einmal widersprechen.
„Hält uns wohl nicht für würdig mit ihm zu reden." Raucher läuft umher. Seine Schritte hallen von den Wänden wieder. „Alter Wichtigtuer. Jackie meint, wir sollen ihm Zeit geben. Ihn weichkochen und Schuldgefühle machen. Ihm Angst machen, dass du kleiner Scheißer tot bist und dann erst wieder anrufen. Damit er vor lauter Erleichterung zahlt. Aber eh eh, nicht nicht mir."
Jackie? Wer ist Jackie? Der Anführer? Hat mir Raucher gerade einen Namen verraten? Der Gedanke lässt mein Gehirn fast explodieren. Doch dann ist es wieder vorbei. Auch wenn ich ihre Namen und Adressen wüsste, habe ich nichts davon. Ich komme hier nicht raus.
Raucher kommt zu mir. Ich kann seinen Atem riechen. Zigaretten, Bier und ungeputzte Zähne. Mir dreht sich der Magen um. Er beugt sich über mich. Die Angst ist zurück, Angst vor dem, was er tun könnte. Ich habe so viele Geschichten gelesen, ich weiß, was Menschen anderen antun können. Ich will zurückweichen, weg von ihm. Nur weg. Doch die Wand ist in meinem Rücken und ich stoße dagegen.
„Jetzt halt still, verdammt!" knurrt Raucher, dann presst er sein Knie auf meine Seite. Schmerz durchzuckt meine Brust, meine gebrochene Rippe piekst und sticht und mein Hals blockiert. Ich muss husten, doch ich kann nicht. „Jetzt kommt schon", zischt Raucher und er zieht die Decke weg. Kalte Luft lässt mich erschaudern. Was will er von mir? Meine Gedanken überschlagen sich. Seine Hände sind überall, tasten, grapschen, suchen.
Dann zieht er meinen Arm unter meinem Körper hervor. Meinen linken Arm mit der gebrochenen Hand. Von einer Sekunde auf die andere wird aus Taubheit glühende Lava. Ich reiße meinen Arm zurück, doch Raucher ist stärker. Er krallt seine Finger in mein Handgelenk und zieht und zerrt und ich kann nicht mehr. Ich huste und keuche und lasse ihn einfach machen.
„Scheiße, Mann." Raucher flucht, dann greift er sich meinen rechten Arm. „Na bitte, komm her zu Papa." Raucher klingt fröhlich. Er lässt meinen Arm los, der schlaff auf die Matratze fällt. Meine gebrochene Hand pocht und mein Hals schmerzt. Mühsam sauge ich die Luft in meine Lungen. Mein Blick fällt auf meine linke Hand. Die gebrochenen Finger sind blau und lila, fast schwarz in diesem Licht. Grotesk geschwollen. Die ganze Hand sieht aus wie durch einen Fleischwolf gedreht. Am Handgelenk habe ich blutige Striemen von den Fesseln.
Raucher hat sich meine Uhr genommen. Die Rolex. Meinen Notgroschen. Meine Versicherung.
„Wenn dein alter Herr nicht zahlt, dann nehme ich mir eben, was mir zusteht", sag Raucher, dann gibt er mir noch einen Tritt. Heftig, diesmal. Gegen den Oberschenkel. Ich keuche, doch ich bleibe liegen. Was soll ich auch sonst tun?
Als Raucher geht, wird es wieder dunkel um mich. Er hat mir keine neue Lampe gebracht. Nichts zu essen. Aber Wasser. Sechs Flaschen. Neun Liter.
Ob er wieder zurück kommt?
Detektive Wright
26 Tage. 26 Tage seit dem letzten Kontakt.
Wir sollten die Kollegen von der Mordkommission einschalten.
Ollie
28 Tage. Ich kann nicht mehr.
Aufstehen, Arbeiten, Essen, Schlafen. Ein Tag wie der andere. Sie laufen in einander über. Wäre da nicht jedem Morgen das Wissen, dass wieder ein Tag angebrochen ist, an dem Ben in der Gewalt dieser Leute ist., wüsste ich nicht einmal, dass die Tage vergehen. Ich kann an nichts anderes Denken.
Vicky sagt ich soll mich krank melden. Aber ich will nicht. Ich will nicht alleine zu Hause sitzen. Dann machen mir meine eigenen Gedanken Angst. Was sie mir zeigen, mir zuflüstern. Arbeit ist besser. Arbeit ist Ablenkung.
28 fucking Tage.
Vicky
„Okay, das sieht gut aus", sage ich und nicke zu dem Laptop, der vor Ravi und mir auf dem Tresen des White Whale steht.
„Bist du dir sicher, dass wir das machen sollen?" Ravi zieht zweifelnd die Lippe zwischen die Zähne. „Das könnte so was von nach hinten losgehen."
Ich weiß. Und ob ich das weiß. Trotzdem. „Wir machen das jetzt. Wenn die Zeitungen schon nicht die Wahrheit schreiben, dann müssen wir das eben tun. Ben ist unser Freund, oder? Irgendjemand muss in seiner Ecke stehen."
Mir gegenüber nickt Marie. „Stell es online. Dann sehen wir ja, was passiert."
Ravis Finger streichen über die Tastatur. „Sollten wir nicht doch auf Oliver warten? Ich meine, das geht ja auch ihn was an, oder?"
Da hat er Recht, aber ich habe Ollie schon zig Nachrichten geschrieben. Er kommt nicht. Das ist alles zu viel für ihn. Aber er hat sein Okay gegeben. Deswegen deute ich auf den Bildschirm. „Ollie steht hinter uns. Also los."
Ravi sieht noch einmal von Marie zu mir, dann nickt auch er. „Also gut, here we go." Er klickt auf den Bildschirm und einen Moment später baut sich die neugestaltete Seite des White Whale vor uns auf. Darauf ist jetzt ein Foto von Ben zu sehen, wie er hier am Klavier sitzt und spielt. Er sieht entspannt aus, lächelt und seine Augen strahlen. Marie hat es aufgenommen. Darunter steht ein Text den wir alle zusammengeschrieben haben, als Freunde von Ben. Da steht, dass wir ihn vermissen und uns Sorgen machen. Dass wir wollen, dass er nach Hause kommt. Dass die Entführer ihn gehen lassen sollen, dass er mit allem nichts zu tun hat. Wir erwähnen Bens Vater mit keinem Wort, aber das brauchen wir auch gar nicht. Die ganze Welt weiß, dass Charles Montgomery sich in seinem Hochhaus in London versteckt und für Ben keinen Finger krummmacht.
Wenn sich niemand für Ben einsetzt, dann tun wir das.
Ben
Ich sterbe hier. Das weiß ich jetzt. Raucher ist nicht wieder gekommen. Seit Tagen (wie lange?) habe ich nichts gegessen. Als der Hunger kam, kam er plötzlich. Wie eine Lawine. Fordernd. Ein Loch in meinem Bauch, das gefüllt werden wollte. Dann war mir lange übel. Und jetzt fühle ich mich einfach nur leicht. Fast schwerelos. Als könnte ich fliegen, wenn mich die Kette um meinen Knöchel nicht festhalten würde. Hunger habe ich keinen mehr. Ich kann kaum schlafen, liege wach und starre in die Dunkelheit. Aber wenn ich schlafe, träume ich von Essen. Von Pasta mit Tomaten, warmer Suppe, Fish & Chips, heißem Curry. Tee, Earl Grey, mit einem Schuss Zitrone. Der Durst ist geblieben. Ist immer da. Geht nie weg.
Ich habe mir das Wasser gut eingeteilt. Immer nur kleine Schlucke genommen. Aber jetzt sind von den sechs Flaschen drei leer und von der vierten fehlt ein guter Teil. Also habe ich noch 2 volle Flaschen und eine halbvolle. Vielleicht dreieinhalb Liter. Wie viele Tage komme ich damit aus, wenn ich noch weiter rationiere? Sechs Tage? Acht?
Ein Kribbeln in meinem Hals lässt mich husten. Meine Lungen fühlen sich komisch an. Schwer. Voll. Der Husten hat nachgelassen, aber er ist noch da, in meinen Lungen, und wartet. Ich weiß nicht worauf, aber er wartet. Wenn ich zu tief einatme, überfällt er mich regelrecht.
Vielleicht noch acht Tage.
Acht Tage sind eine lange Zeit zum Sterben. Und dann?
Ob mich das Fieber und der Husten vor dem Durst umbringen? Wenn ich wetten würde, würde ich mein Geld auf den Durst setzen.
Ob sie meine Leiche jemals finden werden? Vielleicht nur noch die Knochen, angekettet an die Wand. Wie im Tower of London vor hunderten von Jahren. Aber mit der modernen Technik müssten sie mich identifizieren können. Oder?
Ob sich überhaupt jemand die Mühe macht?
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