Kapitel 30
Kapitel 30
Ben
Es hat noch einmal den halben Nachmittag gedauert, aber jetzt bin ich fertig. Ich scrolle noch einmal durch Olivers Webseite der Bewerbung. Sie sieht gut aus. Er sieht gut aus. Wenn das die Jury nicht überzeugt, dann haben sie Tomaten auf den Augen. Noch ein letzter Blick, dann klicke ich auf Senden. Mit einem leisen Woosh Geräusch zeigt mir die Webseite an, dass die Bewerbung verschickt wurde.
Ich atme tief durch und lehne mich in meinem Stuhl zurück. Belzi hat sich auf meinem Schoss zusammengerollt und ich streichle ihn hinter den Ohren. Jetzt liegt es an dir Oliver. Ich habe getan was ich konnte. Auch wenn du mir nicht vergeben kannst, dass ich gelogen habe, dann habe ich es hiermit vielleicht ein klein wenig wieder gut gemacht.
Da es schon fast sechs Uhr ist, lasse ich Belzi nach draußen, schnappe ich mir meine Jacke und mache mich auf den Weg zum White Whale. Es nieselt und ist kalt, aber das ist mir egal. Ich merke es kaum. Meine Gedanken sind bei der Bewerbung. Ob ich alles richtig geschnitten habe? Ob Oliver die Fotos mag? Jetzt hat er zumindest eine Chance auf ein neues Leben. Er hat es sich verdient.
Ich habe den Pub schon fast erreicht, als ein Stück vor mir ein weißer Van am Straßenrand hält. Die Seitentür geht auf. Drei maskierte Männer springen heraus, Skimasken über dem Gesicht. Was zum....
Bevor ich reagieren kann, packen mich zwei der Männer an den Armen und zerren mich in Richtung Van. Ich strampele mit den Füßen. Was soll das? Was... Der dritte Mann presst mir etwas auf das Gesicht. Es brennt, es sticht in den Augen. Es riecht chemisch, wie Krankenhaus. Ich kann nicht atmen! Oh Gott...ich zerre an den Armen die mich halten und stemme ich dagegen, aber um mich herum wird alles schwammig. Ich kann mich kaum noch bewegen. Was passiert hier? Was ist mit mir los? Ich...
Grobe Hände zerren mich in den Van. Mein Knie knallt gegen Metall. Es tut weh, aber der Schmerz registriert kaum. Warum kann ich mich nicht bewegen? Ich will schreien! Um mich schlagen! Treten! Davonrennen! Aber ich kann nichts davon tun. Meine Glieder gehorchen mir nicht. Alles dreht sich um mich und dann wird alles schwarz.
Das Letzte was ich wahrnehme ist das Geräusch von quietschenden Reifen und einer Tür die zuschlägt.
Marie
Marie [6:45 pm]: Wo bist du? Deine Schicht hat vor 15 Minuten angefangen.
Marie [7:22 pm]: Ben? Wo bleibst du?
Marie [8:16 pm]: Ist alles okay bei dir? Langsam mache ich mir Sorgen.
Marie [10:56 pm]: Ruf mich bitte sofort an, wenn du das liest. Ich mache mir Sorgen.
Ben
Als ich aufwache ist es dunkel. Das erste was ich registriere, ist die Kälte. Es ist kalt und feucht. Wo auch immer ich hier bin. Meine Erinnerungen kommen nur langsam zurück. Mein Kopf pocht wie bei einem Kater. Aber ich habe nicht getrunken. Da war ein Van....und....vermummte Männer. Mein Herz rast und ich setze mich auf. Adrenalin schießt durch meine Adern.
Alles ist dunkel, ich kann nichts sehen. Wo bin ich? Was ist passiert? Mein Atem geht viel zu schnell. Ich schmecke Metall. Meine Hände werden feucht und zittern. Was ist hier los? Ich fahre mir an die Augen, doch da ist nichts. Keine Binde, meine Augen sind nicht verbunden. Und sie schmerzen auch nicht. Also ist es hier einfach nur dunkel. Okay, okay.
Ich lasse meine Hände sinken und taste um mich herum. Eine Matratze, ich sitze auf einer Matratze. Und da ist Stoff. Rau, dünn, muffig. Eine Decke? Vermutlich. Ein Kissen kann ich nicht erspüren. Dann bewege ich meine Beine. Ein Rasseln erklingt, wie von Metall. Ich lasse meine Hände an meinen Beinen herabgleiten. An meinem linken Bein spüre ich nichts Ungewöhnliches. Aber an meinem rechten Bein werde ich fündig. Um meinen Knöchel spüre ich Metall. Eine Art Ring. Und daran ist eine dicke Metallkette befestigt. Ich folge der Kette bis zu einem Bolzen in der Wand. Ich bin an die Wand gekettet. Mit einer Fußfessel und einer Metallkette.
Mir wird schlecht. Mein Atem geht stoßweise und mir ist schwindelig. Meine Fingerspitzen fangen an zu kribbeln. Meine Zunge auch. Oh Gott. Ich bin entführt worden. Gekidnappt!
Oh Gott. Oh Gott. Bitte nicht, bitte nicht!
Tränen schießen mir in die Augen, ob vor Panik oder Angst weiß ich nicht. Ich taste zu meiner Hosentasche, aber sie ist leer. Kein Telefon. Mein Atem geht noch schneller. Ich kann nichts dagegen tun. Ich bin gefangen. Allein. Im Dunkeln. Und niemand weiß davon. Niemand wird mich finden. Niemand wird nach mir suchen. Zitternd und nach Atem ringend rolle ich mich zu einem kleinen Ball zusammen, ziehe die Knie an die Brust und schlinge die Arme darum. Die Kette rasselt leise. Ein Wimmern entfährt mir und ich presse meine Hand vor den Mund. Still. Sei still!
Allein. Hilflos. Bitte nicht. Bitte, bitte nicht.
Ollie
Ungläubig starre ich auf die E-Mail, die ich gerade erhalten habe. Ich lese sie zwei Mal. Dann rufe ich Vicky.
„Was gibt es denn, Ollie?" fragt Vicky und sieht mir über die Schulter.
Ich reiche ihr mein Handy. „Hier, lies mal."
Sie hebt überrascht die Augenbrauen und liest die E-Mail. Dann liest sie sie laut vor.
„Sehr geehrter Herr Oliver Hunter,
wir freuen uns ihnen mitteilen zu können, dass wir Ihre Bewerbung für den Great Brighton Bake Off erhalten haben. Ihre Einsendung entspricht den Teilnahmevoraussetzungen und wird daher unserer Jury vorgelegt.
Alle Bewerbungen sind noch bis zum 31.12.2022 auf der Webseite des Wettbewerbs einzusehen. Sehen Sie sich Ihre Konkurrenz an! Lassen Sie sich inspirieren.
Die Gewinner der ersten Runde werden spätestens am 31.12.2022 auf unserer Webseite bekannt gegeben. Außerdem werden alle Gewinner per E-Mail benachrichtigt.
Wir bedanken uns für Ihre Teilnahme und wünschen Ihnen viel Glück!
Ihr Great Brighton Bake Off – Support Team"
Vicky lässt das Handy sinken und starrt mich an. „Ich dachte du hättest den Memory Stick zerstört."
„Hab ich auch. War nicht zu retten."
„Du meinst, glaubst du....denkst du...Ben hat das für dich eingereicht?" Sie sieht mich mit großen Augen an.
Ich zucke mit den Schultern. „Muss wohl. Jemand anderen gibt es nicht."
Vicky sieht wieder auf die Mail. „Hast du dir deine Bewerbung schon angesehen?"
Ich schlucke. „Nein." Was, wenn mir Ben eins auswischen wollte und meine Bewerbung total verhunzt hat? Wenn es es so geschnitten hat, dass ich auf den Videos total bescheuert aussehe? Damit jede Chance in der Zukunft noch einmal irgendwo angenommen zu werden, dahin ist? Eigentlich glaube ich das nicht. So ist Ben nicht. Aber wenn doch? So wie ich ihn behandelt habe, als er hier war? Und dabei wollte er nur nett sein und mir den Stick geben.
„Dann lass uns nachsehen", sagt Vicky und deutet auf das Handy. „Jetzt gleich."
„Ich weiß nicht", sage ich und nehme ihr mein Handy aus der Hand. „Was, wenn es schlecht ist?"
„Ollie, früher oder später wirst du es dir sowieso ansehen. Dann lieber gleich. Sonst geistert dir das den ganzen Tag durch den Kopf."
Da hat sie recht, wie eigentlich immer. Also nehme ich meinen Mut zusammen, atme noch einmal tief durch, und klicke dann auf den Link, der in der Mail steht. Vicky stellt sich neben mich und sieht ebenfalls auf mein Handy.
Das Wlan hier im Café ist scheiße und die Seite baut sich nur langsam auf. Aber dann kann ich meine Bewerbung sehen. Der Hintergrund der Seite ist vom Wettbewerb vorgegeben (Blau, Weiß und Gelb, dazu kleine Muscheln und Seesterne), aber der Rest ist von Ben. Die Überschriften über den einzelnen Abschnitten sind in geschwungener Schrift. Der Text ist kurz, prägnant und liest sich leicht. Dazu gibt es Fotos, die mich beim Backen zeigen. Und eines, dass er auf dem Markt gemacht haben muss, denn ich halte gerade einen Hummer in der Hand und sage etwas zu dem Verkäufer. Er hat irgendwas mit den Fotos gemacht, denn sie sehen richtig professionell aus. Wie mit einem goldenen Glanz bearbeitet.
Und dann die Videos. Ich klicke das Oberste an. Meine Stimme hallt aus dem kleinen Lautsprecher. „Nachdem man das Mehl gesiebt hat, gibt man die Eier dazu, die am besten Raumtemperatur haben sollten. Dann lassen sie sich besser verarbeiten." Ich spule vor. „Jetzt geht das ganze für 30 Minuten in den Ofen und wird goldgelb und fluffig gebacken. Während uns der Ofen die Arbeit abnimmt, bereiten wir die Marmelade vor. Ich habe mich für Minze und..." Ich halte das Video an. Dann klicke ich auf das zweite Video.
Ich sehe mich, wie ich auf dem Markt die Muscheln einkaufe. Dann in Bens Küche, wie ich meine Pie vorbereite und dann backe. Er hat die Videos ebenfalls bearbeitet. Meine jeweiligen Schritte hat er am unteren Bildrand eingeblendet, damit man mitlesen kann. Außerdem hat er die Videos so geschnitten, dass sie nicht zu lang sind. Ich sehe...gut aus. Ungewohnt. Es muss an der Kamera gelegen haben oder den Filtern oder was weiß ich. Aber ich sehe in den Bildern so aus, als ob ich wüsste, was ich tue und Spaß dabeihabe.
Dann scrolle ich mich weiter durch die Seite. Nur am Rande registriere ich, dass Kunden hereinkommen. Vicky bedient sie. Allein. Doch sie lässt mich machen. Ich sehe mir alles zwei Mal an, dann schalte ich das Handy aus.
Ben hat meine Bewerbung fertiggestellt und hochgeladen. Keine Ahnung woher er wusste, dass ich es nicht tun würde. Aber das ist egal. Er hat es getan. Er hat mir meinen Traum gerettet.
„Ollie?" ruft mir Vicky nach, als ich durch das Café zur Tür laufe. „Ollie!" Doch ich bleibe nicht stehen, sondern reiße mir nur das dämliche Basecap vom Kopf und werfe sie ihr zu. Dann bin ich auf der Straße und laufe auf die Uni zu.
Ich habe keine Ahnung, ob Ben jetzt gerade Vorlesung hat. Aber das ist mir egal. Ich muss mit ihm reden. Jetzt. Ich muss mich entschuldigen.
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