Kapitel 29
Kapitel 29
Ben
Mr. Smith redet und redet und redet. Ich habe schon vor einer Stunde aufgehört zuzuhören. Immer wieder kehren meine Gedanken zu meinem Telefonat mit Oliver zurück. Vielleicht kann Victoria ja doch noch einmal mit ihm reden? Oder ich könnte Ravi anrufen. Er würde mich verstehen. Aber nein, Oliver hat ausdrücklich gesagt, dass er alleine sein will und dass er nicht mit mir (oder über mich) reden will. Vielleicht sollte ich das einfach respektieren? Aber es ist so frustrierend, dass ich das Ganze nicht richtigstellen kann. Wenn Oliver die Wahrheit wüsste, wenn er...
Mein Telefon vibriert. Zuerst will ich gar nicht drauf sehen. Was, wenn es eine Nachricht von Oliver ist, in der er definitiv mit mir Schluss macht? Doch dann kann ich nicht anders. Es ist ein verpasster Anruf von Victoria. Nur eine Sekunde später bekomme ich eine Nachricht von ihr.
Victoria [5:11pm]: Ruf mich an. SOFORT!!!!!! SOS!!!!!!
Ich sehe auf und merke, dass Mr. Smith aufgehört hat zu reden. Er sieht mich an.
„Mr. Montgomery, wenn ich Sie langweile, sagen Sie es nur."
Bevor ich etwas sagen kann, mischt sich mein Vater ein. „Wirklich, Bentley. Etwas mehr Respekt. Das hier ist wichtig, Herrgottnochmal."
„Ich muss kurz telefonieren", antworte ich und stehe auf, bevor ich überhaupt geendet habe. Ich bin schon halb zur Tür raus, als mein Vater hinter mir herruft.
„Bentley! Du bleibst hier! Das verbitte ich mir!"
Doch ich ignoriere ihn. Schnell sehe ich mich nach einem ungestörten Ort zum Telefonieren um. Die Toilette ist besetzt, aber ich sehe ein leeres Zimmer. Auf dem Schreibtisch stapeln sich Akten und der Computer läuft noch, aber das ist mir egal. Ich schlüpfe in das Zimmer, schließe die Tür und wähle Victorias Nummer. Dabei habe ich ein ganz schlechtes Gefühl.
Sie hebt nach dem zweiten Klingelton ab.
„Ben! Gott sei Dank!"
„Victoria? Was ist los?" Sie atmet schwer und ich kann Straßenlärm hören.
„Es geht um Ollie! Er hatte einen Unfall!" Sie schnauft ins Telefon. Sie läuft schnell oder rennt sogar.
Einen Unfall? Oh nein, bitte nicht. Meine Beine tragen mich zum Fenster und wieder zurück zur Tür. Ich kann nicht stillstehen. „Was ist passiert?"
„Er war mit dem Roller unterwegs und hat ein Auto übersehen. Mehr weiß ich nicht. Er ist im Krankenhaus, es hat gerade angerufen. Ich bin auf dem Weg zur Bushaltestelle. Mehr weiß ich auch nicht."
Oh Gott! Nein, nein, nein, nein, nein! „Hatte er seinen Helm auf?" Das ist alles, was ich fragen kann. Bitte, bitte!
„Ich weiß nicht. Denke schon. Hat er doch immer, oder?" sagt Victoria fast bittend. Doch ja, sie hat Recht. Oliver trägt seinen Helm eigentlich immer.
„In welchem Krankenhaus ist er?"
„Im Brighton Medical Center", antwortet Victoria, dann höre ich die Bremsen eines Busses quietschen. „Ich muss los, Ben. Mein Bus ist da. Ich melde mich, wenn ich mehr weiß."
„In Ordnung. Danke", sage ich und bleibe endlich stehen. „Ich bin in ein paar Stunden bei dir. Alles wird gut werden. Er hat einen Dickschädel."
Sie lacht leise. „Ja, stimmt. Bis später." Und dann legt sie auf.
Oliver hatte einen Unfall. Auf seinem Roller. Wenn das Krankenhaus gerade angerufen hat, dann kann der Unfall noch nicht lange her sein. Was wenn...wenn er den Unfall hatte, kurz nachdem wir telefoniert haben? War er wegen mir abgelenkt? Bin ich an seinem Unfall schuld? Oh mein Gott....
Ich bin schon fast am Aufzug als mein Vater den Flur hinunter stürmt. „Bentley! Wo willst du hin? Wir sind hier noch nicht fertig!"
„Ich muss weg", sage ich nur und drücke hektisch auf den Aufzugknopf.
„Das erlaube ich nicht", schimpft mein Vater. „Du gehst erst, wenn ich es dir sage."
Einer der Anwälte steckt den Kopf aus seinem Büro, doch als mein Vater ihm einen bösen Blick zuwirft, zieht er sich zurück.
„Es ist mir egal, was du mir erlaubst. Ich werde jetzt gehen." Wo bleibt dieser blöde Aufzug, wenn man ihn braucht?
Plötzlich packt mich mein Vater am Arm. Seine Finger bohren sich schmerzhaft in meine Muskeln. „Bentley, muss ich dich wirklich an unsere Abmachung erinnern?"
In diesem Moment kommt die Sekretärin Jane den Flur herunter, in der Hand einige Akten. Als sie uns sieht, bleibt sie kurz stehen. Sie will etwas sagen, doch mein Vater schnauzt sie an: „Weg mit Ihnen, das geht Sie nichts an."
Sie zuckt zusammen, doch dann geht sie ohne ein weiteres Wort. Sobald sie außer Hörweite ist, beugt sich mein Vater wieder zu mir. „Wir haben eine Abmachung, Bentley. Du tust was ich sage und ich lasse deine kleinen Freunde in Ruhe und du gehst nicht in den Knast."
„Das hier ist wichtiger, Vater, und ich gehe. Ob es dir passt oder nicht." Der Aufzug kommt und die Türen öffnen sich. „Und wenn ich jetzt nicht gehe, gibt es vielleicht bald keine Freunde mehr, mit denen du mich erpressen kannst." Damit reiße ich meinen Arm los, steige in den Fahrstuhl und drücke auf den Knopf fürs Erdgeschoss. Mein Vater sieht mich mit zusammengekniffenen Augen an.
„Sonntagabend bist du zurück. Sonst war es das mit unserem Deal."
Die Aufzugtüren schließen sich und ich fahre nach unten. Zu Oliver. Bitte, bitte sei in Ordnung!
Victoria
In dem Krankenhausbett sieht Ollie ganz blass aus. Dadurch sehen die Kratzer auf seinem Kinn und seiner Nase noch schlimmer aus. Wenigstens hat der Helm ihm vor schlimmeren Verletzungen am Kopf geschützt. Aber sein rechtes Bein ist gebrochen, gleich an zwei Stellen. Und sein linkes Handgelenk ist auch gebrochen. Damit wird er eine ganze Weile nicht arbeiten können. Zum Glück ist nicht mehr passiert.
Sie haben ihm jede Menge Schmerz- und Beruhigungsmittel gegeben. Denn sein Bein konnten sie noch nicht richten. Sie werden ihn morgen daran operieren. Erst dann bekommt er einen Gips. Als ich im Krankenhaus angekommen bin, haben sie ihn gerade auf ein Zimmer gebracht. Wir haben nur kurz geredet, bis die Medikamente ihn ausgeknockt haben.
An seine Fahrt vom Hotel nach Hause kann er sich erinnern, aber nicht an den Unfall. Davon weiß er gar nichts mehr. Das Auto, das aus einer Seitenstraße kam, hat er übersehen. Es ist ihm voll in die Seite gefahren. Zum Glück war es nicht schnell unterwegs gewesen, sonst hätte das ganze richtig böse ausgehen können. Als ich ihn gefragt habe, warum er das Auto nicht gesehen hat, hat er nur mit den Schultern gezuckt. Armer Ollie...
Da Ollie heute wohl nicht mehr aufwachen wird (Beruhigungsmittel sei Dank), mache ich mich wohl besser auf den Nachhauseweg. Mit einem letzten Blick auf Ollie stehe ich auf und nehme meine Tasche. Da geht die Tür zu Ollies Zimmer auf. Ben steckt den Kopf herein. Er sieht mich an, doch dann geht sein Blick sofort zu Oliver.
„Darf ich..." fragt er und bleibt im Türrahmen stehen. Oh Mann...irgendwas muss zwischen den beiden wirklich, wirklich richtig schief gelaufen sein, wenn Ben sich nicht einmal mehr traut, in das Krankenzimmer seines verletzen Freundes zu gehen. Es tut weh, das zu sehen.
„Er schläft, komm ruhig rein."
Langsam kommt Ben ins Zimmer. An Olivers Bett bleibt er stehen. „Wie geht es ihm?"
„Gebrochenes Handgelenk und Bein. Das Bein operieren sie morgen noch. Ansonsten zum Glück nur Kratzer und blaue Flecken."
Bein meinen Worten sinken Bens Schultern sichtlich herab. Er muss sich schreckliche Sorgen gemacht haben. Seine Hand greift nach Olivers, doch im letzten Moment zieht er sie zurück. Mein Herz wird schwer.
„Was ist denn eigentlich passiert?" Ben sieht mich fragend an. Erst jetzt fällt mir auf, dass er einen schicken und vermutlich sehr teuren Anzug trägt. Er hat keine Jacke dabei und dabei ist es draußen frisch. Er muss direkt vom Gericht gekommen sein.
„Ich weiß nicht genau. Er war auf seinem Roller unterwegs vom Hotel nach Hause. Dabei hat er ein Auto übersehen." Ich zucke mit den Schultern. „Als ich ihn gefragt habe, warum er so abgelenkt war, dass er ein Auto übersieht, hat er mir keine Antwort geben können. Er erinnert sich nicht an den Unfall."
Ben wird blass und ganz still. Ich kann förmlich sehen, wie es hinter seinen Augen arbeitet. „Ben? Alles okay?"
„Er war wegen mir abgelenkt", sagt er leise. „Ich bin schuld." Er sieht auf Oliver hinab. Sein Kiefer mahlt.
„Das verstehe ich nicht. Du warst doch in London?"
„Ich habe ihn angerufen, kurz bevor er losgefahren ist. Er war so wütend auf mich. Deswegen war er abgelenkt. Weil ich angerufen habe, obwohl er mir gesagt hat, dass ich es nicht tun soll." Ben schüttelt den Kopf und reibt sich über das Gesicht. Mir fallen die dunklen Augenringe auf. Und...hat er abgenommen?
Er gibt sich die Schuld an Olivers Unfall. Aber das ist Unsinn! Oliver ist immer wie ein Rennfahrer gefahren. Vielleicht war Oliver ja aufgebracht nach dem Telefonat, aber dann hätte er eben nicht fahren sollen. Und das sage ich Ben auch. Er widerspricht mir nicht, doch ich glaube nicht, dass er mir glaubt. Ich denke, er wird sich erst selber verzeihen, wenn er mit Ollie gesprochen hat.
„Kommst du mit, Ben? Es ist schon spät. Wir könnten noch schnell etwas Essen gehen."
„Nein, danke." Er sieht wieder hinunter auf Ollies schlafende Gestalt. „Ist es in Ordnung, wenn ich noch ein wenig hierbleibe?"
Dass er das überhaupt fragt, spricht Bände darüber, wie er über seine Beziehung zu Ollie denkt. Noch vor zwei Wochen hätte er sich einfach zu Ollie ins Bett gelegt.
„Na klar", sage ich, weil ich mir ziemlich sicher bin, dass jede andere Antwort Ben zerbrechen würde. Außerdem glaube ich wirklich nicht, dass Ollie etwas dagegen hätte.
Als ich die Tür hinter mir zuziehe sehe ich noch, wie Ben sich einen Stuhl ans Bett zieht.
Armer Ben. Armer Ollie.
Ich hoffe, sie kriegen das wieder hin.
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