Kapitel 12
Kapitel 12
Ben
Unten wartet die Limousine meines Vaters. Ich schaue mich noch einmal in meinem Schlafzimmer um. Alles ist aufgeräumt, die Jalousien heruntergelassen. Vor der Tür steht mein schwarzer Koffer, dazu meine Umhängetasche mit meinem Laptop und Unterlagen von der Uni, die ich abarbeiten muss, um meinen Job nicht zu verlieren. Wenn ich es nicht besser wüsste, könnte man meinen, ich breche zu einem Urlaub auf. Stattdessen habe ich das Gefühl, dass ich zu einer Haftstrafe antrete. Ja, so fühlt es sich an. Ich will nicht gehen.
Nach einem letzten Blick umher nehme ich meinen Koffer und gehe hinaus ins Wohnzimmer. Oliver schaltet gerade die Kaffeemaschine aus. Seine Tasche steht schon an der Tür. „Du musst wirklich nicht zu dir ziehen", sage ich und deute darauf. „Du kannst hier bleiben."
„Ach, es wird Zeit, dass ich nach Hause gehe." Oliver reibt sich den Nacken. „Ist wahrscheinlich eh alles staubig und so."
Ich versuche nicht noch einmal, ihn zu überreden, hier zu bleiben. Diese Diskussion hatten wir gestern Abend schon. Auch wenn ich ihn verstehe, so fühlt sich sein Auszug doch wie ein Abschied an. Wie das Ende von etwas, das noch gar nicht richtig angefangen hat. Ein Kloß bildet sich in meinem Hals. Doch ich nicke. „In Ordnung."
Da es eigentlich nichts mehr zu sagen gibt, gehe ich Richtung Tür. Oliver folgt mir. Schweigend nimmt er seine Tasche und geht vor mir hinaus in den Flur. Ich werfe noch einen Blick in die Wohnung. Es ist nur für eine Woche, sage ich mir. Eine Woche, dann kommst du wieder her. Fünf Tage, mehr nicht. Nur bis zum Wochenende. Aber warum, verdammt, fühlt es sich dann so anders an? So, als ob ich nicht mehr wiederkommen würde? Weil du ein Pessimist bist, der immer in worst case Szenarios denkt, sage ich mir. Alles wird gut gehen. Mit mehr Schwung als nötig schließe ich dir Tür und folge Oliver die Treppe hinab.
Der Chauffeur lehnt an der Motorhaube. Als er mich sieht, stößt er sich ab und geht zur hinteren Tür und öffnet sie. Daran werde ich mich wohl nie gewöhnen. Doch ich ignoriere ihn und drehe mich zu Oliver. Seine goldenen Locken glänzen in der Morgensonne und als er mich jetzt ansieht, schimmern seine Augen in einem Grün, dass mich an ein Meeresrauschen erinnert. Ich versuche mich an einem Lächeln, doch merke selbst, wie es mir misslingt. Mir ist nicht nach Lächeln zumute. Ich will einfach nicht gehen.
Oliver
Heute Nacht habe ich kaum ein Auge zugemacht und ich bin hundemüde. Ich will nicht, dass Ben geht. Sein Vater ist ein Arsch und wenn er Ben erst einmal wieder in seinen Klauen hat, wird er alles dafür tun, ihn nicht wieder loszulassen. Das hab ich im Gefühl. Fuck, der Mann erpresst seinen eigenen Sohn mit Gefängnis. Was für ein Vater tut so etwas?
Und Ben, der will auch nicht gehen. Das hätte er mir gar nicht sagen müssen, das sehe ich ihm an. Heute Nacht hatte er wieder schlimme Träume. Und da brauch ich gar nicht fragen, was er träumt. Dass er zurück nach London muss lastet schwer auf ihm. Auch jetzt, wo wir hier stehen, kann ich es an seinem Gesicht sehen. Seitdem er mit den Anwälten gesprochen hat, sind seine Augen ein wenig....stumpfer. Ja, das ist das Wort. Weniger fröhlich. Steifer und formeller, irgendwie. London tut ihm nicht gut. Und jetzt geht er für eine ganze Woche dorthin, bis er am Wochenende wieder zurückkommt.
Am liebsten würde ich ihn mir greifen und nicht mehr loslassen. Aber wir haben keine Wahl. Ben hat keine Wahl. Gestern Nacht, als ich ihn gehalten habe, habe ich entschlossen, dass ich ihm den Abschied nicht noch schwerer machen werde. Klar weiß ich, dass er sich schuldig fühlt, dass er geht. Und fuck, ich habe gestern ja auch nicht gerade toll auf die Nachricht reagiert. Und diese ganze Sache mit den Unternehmen die er angeblich hat und das Risiko, angeklagt zu werden und sein Vater, und die Anwälte und einfach alles. Fuck, Mann. Das würde den stärksten Mann aus der Bahn werfen.
Aber ich, ich werde es ihm nicht noch schwerer machen. Auf keinen Fall. Er macht sich schon genug Sorgen. Und um mich – um uns – soll er sich nicht auch noch sorgen.
Also pflastere ich ein breites Grinsen auf mein Gesicht (auch wenn ich lieber heulen oder etwas zerschlagen würde) und greife in meine Tasche.
„Hier", sage ich und reiche ihm eine Tupperdose.
Ben
Ich weiß nicht, was ich zum Abschied sagen soll. Es ist ja nur für eine Woche, oder? Was sagt man da? Doch Oliver kommt mir zuvor. Er grinst, dass ich die Grübchen in seinen Wangen sehen kann. Sein ganzes Gesicht strahlt.
„Hier", sagt er, und reicht mir eine Tupperdose.
Überrascht nehme ich sie. „Was ist das?"
Oliver zwinkert mir zu. „Mach sie auf."
Ich tue, was er sagt. Und muss unwillkürlich auflachen. In der Dose liegen Kekse. Doch keine normalen Kekse, sondern solche, die aussehen wir das Krümelmonster. Ich nehme einen und drehe ihn hin und her. Der Keks hat sogar kleine Augen. „Wo hast du die denn her?" frage ich und schüttele amüsiert den Kopf. Oliver zuckt mit den Schultern und reibt sich den Nacken.
„Als du heute morgen duschen warst, bin ich schnell zum Laden an der Ecke. Selbstgemacht wären sie echt besser, aber ich hatte keine Zeit."
„Das ist...." der Kloß in meinem Hals schnürt mir die Worte ab. Ich räuspere mich. „Danke."
„Hey", sagt Oliver und tritt einen Schritt auf mich zu. „Ist doch nur für eine Woche, ja? Und am Freitagabend gehen wir ins Pub, betrinken uns und alles ist gut. Okay?"
„In Ordnung", antworte ich und ich fühle mich tatsächlich besser. „Ja, in Ordnung", sage ich deswegen nochmal. Oliver nickt, dann zieht er mich zu sich heran und drückt mir einen Kuss auf die Lippen. Ich schließe meine Augen. Er ist so warm und stark und ich möchte mich an ihn lehnen und nie mehr loslassen. Ein letztes Mal atme ich seinen unverwechselbaren Duft ein. Dann löse ich mich von ihm. Er streicht mir über die Wange, dann tippt er auf die Tupperdose. „Aber nicht alle auf einmal mampfen, ja?"
Ich schmunzele. Ich weiß nicht wie er es macht, aber selbst jetzt bringt er mich zum Lächeln. „Versprochen", antworte ich. Dann nehme ich meinen Koffer und gehe zum Wagen. Der Chauffeur nimmt ihn mir ab und legt ihn in den Kofferraum. Wenn Olivers und mein Kuss ihn gestört haben, so ist er professionell genug, um es sich nicht anmerken zu lassen.
Bevor ich einsteige drehe ich mich noch einmal zu Oliver. „Also dann, bis Freitag."
„Wir videochatten heute Abend?" fragt er und ich nicke.
„Wiedersehen, Ollie."
Ich kann sehen, dass ihm gefällt, dass ich seinen Spitznamen benutze. Vielleicht sollte ich das öfter machen. Bevor ich ihn stoppen kann (und verdammt, das will ich gar nicht), presst er mir einen Kuss auf die Lippen, wild und ungestüm. Mein Rücken wird gegen die Tür gepresst und der Türgriff drückt sich in mein Rückgrat, aber das ist mir egal. So was von egal. Meine Finger fahren durch seine Haare, ich ziehe leicht daran und Oliver grinst an meinen Lippen. Dann drückt er kurz meinen Hintern, bevor er von mir ablässt. Mit einem schelmischen Grinsen hebt er die Augenbrauen. „Damit du mich nicht vergisst."
„Als ob", murmele ich, doch ich muss wieder grinsen. Meine Wangen glühen. „Dafür habe ich doch deine Kekse."
„Ha!" macht Oliver, dann tritt er auf den Bordstein. Und als sich der Wagen die Straße hinunterbewegt, sehe ich, wie Oliver dort stehen bleibt und mir nachwinkt. Ich winke zurück, auch wenn ich weiß, dass er es durch die verdunkelten Scheiben nicht sehen kann.
Ich vermisse ihn jetzt schon.
Ollie
Ich vermisse ihn. Ja klar, es sind erst ein paar Stunden und sonst sehen wir uns ja tagsüber auch nicht, aber ich weiß, dass ich ihn erst Freitag Abend wiedersehen werde. Und allein dieses Wissen vermiest mir die Laune. Aber gehörig. Außerdem muss ich heute den ganzen Tag nichts anderes tun als Fondant kneten, einfärben, ausrollen und damit Torten dekorieren. Langweiliger geht's wohl kaum.
Wenigstens habe ich meinen Job wieder, der mich ablenken wird, so lange Ben in London ist. Es stört mich, dass ich für seinen Vater arbeite. Wenn auch nur indirekt, denn das Hotel selber gehört ihm ja gar nicht. Nur eben diese Investorenfirma, der alles gehört. Aber trotzdem. Fuck, hätte nie gedacht, dass ich mal für Charles Montgomery arbeite. Aber Arbeit ist Arbeit und das hier ist nun mal mein Traumjob. Montgomery hin oder her.
Ich glaube nicht, dass die anderen wissen, warum ich gefeuert wurde. Zumindest hat keiner was gesagt. Miles hat zwar ein bisschen komisch geguckt, als ich wieder auf der Matte stand, aber nichts gesagt. Und Pippa und Kathy waren einfach nur froh, dass ich wieder da war. Und Dominic? Tja, der hat ganz schon dumm rumgedruckst. Von wegen Verwaltungsfehler und so. Und dass es ihm leid täte und so. Am Arsch. Wenn einer weiß, was hier gespielt wird, dann er. Hat er mir ja praktisch zugeflüstert. Aber gesagt hat auch er nichts. Alles Feiglinge. Aber verübeln kann ich es ihnen nicht. Vor Charles Montgomery hat jeder Angst. Der hat in so vielen Geschäften die Finger drin, der ist wie der Pate. Und wenn der einen auf dem Kieker hat, kann er einem das Leben zur Hölle machen. Das habe ich ja jetzt am eigenen Leib erfahren.
„Hey, Krümel!" Kathys Stimme reißt mich aus meinen Gedanken.
„Ja?" rufe ich zurück, höre aber nicht auf, das Fondant zu kneten.
„Der Kunde will jetzt anstelle der Golftorte, doch lieber eine Torte mit Maritimen-Flair." Ihrer Stimme kann ich anhören, dass sie genervt ist. Dieser Kunde, ein wohlhabender Unternehmer der hier seinen Ruhestand feiert, hat das Thema seiner Feier schon drei Mal geändert. Was ja nicht weiter schlimm wäre, wenn ich nicht schon vier (fucking, VIER!) Golftorten dekoriert hätte.
Ich stöhne auf und knalle die weiße Fondantkugel auf den Tisch vor mir. „Nicht dein Ernst!"
„Doch leider", Kathy kommt zu mir und piekst mit dem Finger in den Fondant. „Misch einfach ein wenig blau rein, dann machen wir daraus ein Meer."
Ich nicke und sehe noch einen Moment auf die weiße Klebrigkeit vor mir. „Und was machen wir mit denen da?" Ich deute auch die vier fertigen Torten. Sie haben eine halbmondförmige Kuppel, die mit weißem Fondant überzogen ist. Sie sehen aus wie halbierte Golfbälle. Sogar grünen Rasen habe ich darum gespritzt, hergestellt aus Buttercreme. Sind mir richtig gut gelungen, wenn ich das so sagen darf, ohne mir selber auf die Schulter zu klopfen.
Nach einem Moment überlegen sagt Kathy: „Der Kunde muss die natürlich trotzdem bezahlen, aber retten können wie die nicht. Wir können das Fondant ja schlecht wieder abkratzen. Eine essen wir selber. Und den Rest geben wir an die Servicekräfte und das übrige Personal. Die freuen sich bestimmt."
Ich grinse. „Gute Idee." Kathy ist einfach eine gute Seele. Andere hätten die Torten wohl einfach weggeschmissen. Aber nicht Kathy. Bei ihr landet kein Essen, das noch gut ist, im Müll. Sie klopft mir auf die Schultern, bevor sie durch die Backstube ruft: „Oi, Miles! Nein, keine Golfschläger mehr. Wie brauchen jetzt Segelschiffe und Muscheln und so."
Ich höre wie Miles stöhnt und eine Beleidigung murmelt (nicht gegen Kathy, sondern diesen Kunden), dann gehe ich zum Lagerraum. Als ich das blaue Fondant mit dem weißen mische, streifen meine Gedanken wieder zu Ben. Was er jetzt wohl gerade macht?
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