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Ich weiß, dass er John heißt. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass er weiß, dass ich es weiß.
Wozu also die Mühe zur Höflichkeit? Ich will nicht hier sein, nicht neben ihm sitzen und noch weniger mit ihm reden. Wir hatten einen One-Night-Stand, nicht mehr, nicht weniger. Das dabei etwas Wunderbares entstanden ist, weiß John nicht. Und so kann es, wenn es nach mir geht, auch bleiben.
"Entschuldige mich", sage ich, springe auf und suche die Toilette. Vor dem großen Spiegel verharre ich, hier wird mich sicher niemand stören kommen.
Ich habe diesen Moment gefürchtet, seit mir bewusst wurde, mit wem ich damals geschlafen habe. Nicht ohne Grund habe ich jede Einladung meiner Familie abgelehnt, wenn sie mich nach Hamburg gebracht hätte. "Er weiß sicher nicht mal mehr wer du bist, also entspann dich", flüstere ich mir selbst zu.
Kopfschüttelnd wasche ich mir die Hände, um wenigstens den Schein zu wahren, ich wäre wirklich auf Toilette gewesen. Mit zittrigen Knien mache ich mich auf den Weg zurück zu dem Tisch.
John hat mittlerweile den Platz wieder gewechselt. Einige Leute sind noch zu der Gruppe gestoßen, darunter unzählig Frauen. Hübsche Frauen mit traumhaften Körpern. Zwei von ihnen hängen förmlich an Johns Armen, er rührt sich keinen Millimeter. Schön, mir egal, wir kennen uns schließlich gar nicht.
"Elli, lass uns los", bitte ich meine Freundin. Sie schaut mich einen Moment an, als suche sie nach der Antwort auf eine stumme Frage. Schließlich nickt sie und wir verabschieden uns von Marten und den anderen.
"Ihr wollt echt schon gehen?", fragte er überflüssigerweise, während er sich am Hinterkopf kratzt.
"Ja, wir haben morgen noch viel vor und Sonntag müssen wir schon zurück. Danke für den netten Abend." Ich reiche Marten meine Hand, die er, für mein Empfinden, etwas zu lang hält. "John ist es auch aufgefallen. Wir haben uns schon einmal getroffen. Ihr beide seid schon einmal hier gewesen."
"Mag sein, aber das ist dann, wie gesagt, fast vier Jahre her", antworte ich verhalten. Marten hält noch immer meine Hand fest, Elli steht ein ganzes Stück abseits und unterhält sich mit einem Typen, der, wenn mich nicht alles täuscht, Maxwell heißt.
"Ich wüsste zu gern ...", setzt Marten an, unterbricht sich aber, als sich eine Hand auf seinem tätowierten Arm legt.
"Alles okay?" John steht hinter ihm, überragt ihn ein wenig. Wie ich in einem Artikel gelesen habe, ist John fast zwei Meter groß. Neben ihm komme ich mir klein vor. Dabei bin ich ein Meter und fünfundsiebzig groß.
"Ja, alles gut, wir sind nur gerade dabei uns zu verabschieden." Endlich lässt Marten meine Hand los, flüstert John etwas zu und geht. Toll, jetzt bin ich schon wieder mit ihm allein.
Einen Augenblick betrachten wir uns gegenseitig von Kopf bis Fuß.
"Was?", will ich wissen, als sich auf Johns Gesicht ein Lächeln abzeichnet.
"Vor vier Jahren also?" Ich nicke, wenngleich ich keine Ahnung habe, worauf er hinaus will. "Vor vier Jahren ... Ich hatte eine miese Zeit damals. Viele Frauen, viele Drogen. Du scheinst nicht besonders angetan von unserer Gruppe zu sein. Machst du nicht oft Party?"
"Ich mache nie Party", antworte ich. "Ich habe keine Zeit für so was. Und dieses Wochenende ist eine Ausnahme, die erste seit vier Jahren und ich wollte sie eigentlich genießen."
"Und wir hindern dich daran?" Seine blauen Augen wirken plötzlich wie Eis. Scheinbar fühlt er sich irgendwie beleidigt oder angegriffen von meinen Worten.
"Nein. Ich ... Wir waren vorhin etwas essen und ich wollte danach eigentlich nur zurück ins Hotel. Ich bin die ganze Strecke von Berlin hierher gefahren, da Elli schon unterwegs trinken wollte. Jetzt hat sie noch mehr drin und ich bin mir ziemlich sicher, dass ich morgen allein den Vormittag verbringen werde, da sie ihren Rausch ausschläft." Rede ich zu viel? Manchmal neige ich tatsächlich dazu. In Johns Miene kann ich nicht erkennen, ob ich unnötig plappere oder ob er meinen Worten wirklich aufmerksam folgt.
"Sollte sie morgen früh nicht klar kommen, kannst du hierher kommen. Dann zeige ich dir ein wenig die Stadt." John holt sein Handy aus der Tasche und reicht es mir. "Gib mir deine Nummer, ich rufe dich so gegen elf an."
"Das ist für dich früh?", frage ich amüsiert und ignoriere es Telefon in seiner Hand. "Um elf werde ich mir bereits ein Restaurant oder einen Imbiss fürs Mittagessen suchen", feixe ich weiter. "Danke für das Angebot, aber ich bin ein großes Mädchen und werde schon allein klar kommen." Hoffentlich war es deutlich genug, dass ich seine Gesellschaft nicht möchte.
Vielleicht bin ich zu engstirnig, aber was ich aus den Medien über ihn weiß, gefällt mir nicht. Und wenn ich ihn besser kennenlerne, wird er irgendwann notgedrungen von Mia erfahren. Meine Tochter soll dieses Milieu nicht kennenlernen. Unter gar keinen Umständen. Zumindest nicht, bevor sie nicht danach fragt.
Ich wende mich ab, gehe zu Elli und ziehe sie mit mir aus dem Laden.
Sie hat mehr getrunken, als ich gedacht habe, wodurch ich Probleme habe, sie zu halten. Nur wenige Meter von dem Club entfernt lassen wir uns auf eine Bank sinken. Elli lehnt ihren Kopf gegen meine Schulter und lächelt selig.
"Er ist so unfassbar süß."
"Wer?"
"Na Maxwell", sagt sie leise und beginnt zu kichern. "Und Marten würde super zu unserer kleinen Ninni passen."
"Du bist hackedicht und redest Blödsinn", sage ich leise. "Er hat einen Club, in dem Frauen für Geld halb nackt tanzen. Wenn es denn dabei bleibt. Das ist doch keine Szene für Ninni, die hoffnungslos romantisch ist."
"Ach lass mich doch träumen", kichert Elli noch immer. "Und hast du die Augen von John gesehen? Wahnsinn! Sie kamen mir so mega bekannt vor. Der Farbton ist fast der gleiche wie der von Mias Augen." Ich versteife mich ein wenig, weiche ihrem Blick aber aus. Jetzt ist sicher nicht der geeignete Zeitpunkt, ihr von meiner Nacht mit John zu berichten.
Seufzend stehe ich von der Bank wieder auf, versuche die halb schlafende Elli auf die Beine zu bekommen. Doch sie unterstützt mich kein bisschen.
"Braucht ihr Hilfe?" Marten steht vor uns, ein schiefes, sehr attraktives Lächeln im Gesicht. Ich nicke und ergebe mich meinem Schicksal, dass Johns Cousin wohl nun erfährt, in welchem Hotel wir wohnen. "Seid ihr damals in meinem Club gewesen?" Seine Frage trifft mich unvermittelt, weshalb ich nicht richtig nachdenke, bevor ich antworte.
"Nein, wir waren auf der gleichen Party. Ich glaube sein Name, also der vom Gastgeber, war ... Kris? Oder so in der Art. Elli folgt ihm seit Jahren auf Insta und durch Zufall wurde sie eingeladen und hat mich mitgenommen." Sofort will ich mir die Zunge abbeißen. Ich wollte nicht darüber reden, dass ich sie alle kenne. Wenn auch nur flüchtig.
Zumindest ist meine Geschichte nicht ganz so, wie es wirklich passiert ist. Wer weiß, wie viele Mädchen über Insta noch eingeladen wurden.
"Vor vier Jahren sagst du?" Marten beobachtet mich nachdenklich von der Seite. "Das war der dreißigste von Alex ... Gott, war das eine Nacht." Marten lacht einen tiefes Lachen, wie ich es noch nie gehört habe. Ich weiß noch genau, auf welcher Party wir waren und was der Anlass war. Nur die Geschichte, wie wir eingeladen wurden ist nur so halb wahr. Oder ein bisschen ... na schön, gar nicht.
Mein alter Schulfreund Maximilian hat Elli die Einladung verschafft. Eigentlich hoffte er, sie würde mit ihm dorthin gehen. Aber Elli hatte andere Pläne und so trafen wir Max durch Zufall dort. "John ist damals mit einer ziemlich heißen Frau abgehauen. Sie war ein paar Jahre jünger, vielleicht gerade Anfang zwanzig damals. Sie sah dir sehr ähnlich, nur das Haar war heller und die Haut gebräunter ... Ein bisschen künstlich sah sie aus. Ich komme nur nicht mehr auf den Namen."
"Klingt nach einem Typ Frau, auf den er steht", antworte ich um Fassung bemüht. Ich sah also künstlich aus? Sehr nett. Aber was mir viel mehr Sorge breitet: Wenn Marten sich so leicht erinnern kann, wird es nicht lange dauern, bis John Bescheid weiß. Oder?
"Glaubst du?", fragt Marten, mit Blick wieder auf den Kiez.
"Glaubt man seiner Musik, fehlen bei der Beschreibung nur noch die Silikon-Brüste und fünf Kilo Make-up und schon hast du die perfekte Frau für ihn." Klinge ich wirklich so zickig? Ich sollte doch gleichgültig klingen. Wir hatten eine heiße Nacht, zugegeben, für mich war sie unvergesslich. Nicht nur aufgrund der daraus resultierenden Schwangerschaft. Wir haben einfach harmoniert.
Nach einigen schweigsame Minuten bleibe ich vor dem Hotel stehen.
"Danke für deine Hilfe", sage ich und greife nach Ellis Hand.
"Eine Frage habe ich noch", hält Marten mich zurück. Erwartungsvoll warte ich auf das, was kommen mag. "Bist du vorhin in den Club gekommen, um John wiederzusehen? Hast du dir eine Wiederholung erhofft?"
"Nein", antworte ich ehrlich. "Ich wusste nicht, dass er dort sein würde, wir wussten ja nicht einmal, wem der Club gehört. Und glaub mir, selbst wenn ich das Mädchen damals gewesen wäre, wäre ich unter gar keinen Umständen an einer Wiederholung interessiert."
Marten nickt, verharrt aber an Ort und Stelle. Kurz schauen wir uns fest in die Augen, ehe ich mit Elli zum Eingang des Hotels gehe.
"Sie nannte sich Chichi ...", rief Marten, woraufhin ich kaum merklich zusammenzucke. Ja, so habe ich mich damals oft genannt. Lange Zeit wollte ich weder Charlotte noch Lotti genannt werde. Nicht zuletzt, weil das Verhältnis zu meinen Eltern nicht das Beste war. Ich drehe mich nicht zu Marten um, will ihm nicht die Genugtuung der Erkenntnis geben. Ohne Frage hat er ein gutes Gedächtnis. Aber selbst das wird niemandem mein Geheimnis verraten. Es ist sicher in meinem Herzen verwahrt.
Es dauert noch eine gute Dreiviertelstunde, bevor ich Elli in ihrem Zimmer allein lassen kann. Kaum waren wir oben, hat sie sich in die Toilette ihres Zimmers erbrochen. Danke, meine Nacht ist gelaufen.
Als ich nach einer schnellen Dusche und einem kurzen Chat mit Ninni ins Bett falle, ist es bereits nach zwei Uhr morgens. Mein Schlaf ist unruhig, immer wieder taucht John vor meinen Augen auf.
Der Ausflug nach Hamburg war ein Fehler, am liebsten würde ich sofort wieder nach Hause fahren.
Als ich am Morgen meine Augen öffne, ist es schon hell draußen. Mit der rechten Hand taste ich nach dem Radiowecker und schalte ihn ein. Was aus dem kleinen Kasten tönt, lässt mich schwer seufzen. Ein Lied, nein, eine Hymne an mein geliebtes Auto. Von keinem geringeren als ...
"Das war Bonez MC mit Honda Civic ... Ein guter Track um in den Morgen zu starten, findet ihr nicht? Hier geht's jetzt weiter mit den Nachrichten." Ich mache den Wecker wieder aus, drehe mich auf den Rücken und starre an die Decke. Lange liege ich so da, versuche nicht an die blauen Augen und blonden Locken zu denken. Mit mäßigem Erfolg.
Neben mir auf der Matratze beginnt mein Handy zu vibrieren. Sofort greife ich danach, aus Angst, mit Mia könnte etwas sein. Doch auf dem Display steht keine Nummer. Ninni schickt immer ihre Nummer mit.
In meiner gewohnten Art ignoriere ich den Anruf, warte, bis meine Mailbox anspringt. Als das Zeichen erklingt, dass eine Nachricht eingegangen ist, drücke ich schon die Tastenkombination, um diese abzuspielen.
"Hey, hier ist Max. Hab gehört, du bist mit Elli in Hamburg. Treffen wir uns in einer halben Stunde im Hard Rock Cafe am Hafen? Ruf mich an." Max also. Seit wann verbirgt er seine Nummer?
Ich öffne die Chat-App und scrolle durch meine Kontakte. Es ist schon wieder über eine Woche her, dass Max und ich uns getroffen haben.
Warum schreibst du nicht einfach? Ich werde da sein. Lotti
Max liest zwar meine Nachricht, kommentiert jedoch nur mit einem Daumen-nach-oben Emoji.
Ich schwinge mich aus dem Bett, ziehe eine Jeans und Ballerinas aus meiner Tasche. Während ich die Jeans auf das Bett werfe, ziehe ich noch ein Top hervor. Es ist lila und hat einen tiefen Rücken Ausschnitt, wohingegen kein Dekollete vorhanden ist. Einen BH kann man nur schwer darunter tragen, weshalb ich ihn weglasse. Irgendjemand oder irgendetwas war während und nach der Schwangerschaft gnädig mit mir und meinen Brüsten. Sie hängen nur ein ganz klein wenig, sind durch Form und Größe aber noch immer dazu geeignet, ohne BH von einem Shirt bedeckt zu werden.
Das Hard Rock Cafe ist nicht allzu weit vom Hotel entfernt, weshalb ich mich entschließe zu laufen. Ich mag Hamburg irgendwie. Es hat seinen Charme und generell fühle ich mich in Großstädten wohler als auf dem Land.
Pünktlich, mit zehn Minuten Verspätung, betrete ich das amerikanisch angehauchte Cafe und suche nach meinem besten Freund. An einem Fenster, ein wenig abseits der anderen Gäste, entdecke ich ihn.
"Maximilian, welch eine Überraschung, dich hier in Hamburg zu sehen", begrüße ich ihn lächelnd. Max springt sofort auf und zieht mich in eine feste Umarmung. Auch wenn unser letztes Treffen gut sieben Tage her ist, merke ich doch, wie gut mir seine Anwesenheit gerade tut. Schon seit der Schule ist Maximilian mein bester Freund. Wir sind für einander da, trotz seiner Musik und trotz langer Auszeiten.
"Erzähl, warum musste Marten gestern Elli ins Hotel tragen?" Sein Grinsen ist ansteckend, weshalb mir der Inhalt seiner Frage zunächst verborgen bleibt.
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