19
Und plötzlich ändert sich dein ganzes Leben, dein Blick auf die Realität, deine Einschätzung, was wirklich wichtig ist.
John begleitete mich zu jedem Termin beim Arzt, richtet seine Arbeit ganz nach mir. Wenn er in Berlin ist, dreht sich alles um Mia und das Baby. Fast könnte man sagen, dass wir eine Familie sind.
Aber eben nur fast...
"Er hat nicht angerufen?" Ungläubig steht Elli neben mir, rührt gelangweilt im Nudelwasser.
"Nicht angerufen, nicht geschrieben, nichts. Keine Ahnung, was da neulich bei dem Konzert los war", antworte ich seufzend. Diese Woche steht weder ein Termin bei meiner Ärztin an, noch findet Johns Radioshow statt. Daher hat er eine Anfrage eines Veranstalters angenommen. Die 187 ist zur Zeit sehr begehrt, dazu stehen bei allen Mitgliedern neue Alben in den Startlöchern. Viel Zeit für anderes bleibt da nicht.
"Versteh ich nicht." Elli greift nach ihrer Coladose und setzt sich an den Tisch. Das Nudelwasser scheint nicht mehr interessant genug zu sein.
Wenn ich ganz ehrlich sein soll, verstehe ich Johns Verhalten der letzten Wochen auch nicht. Oft ist er in Gedanken, vergisst Verabredungen und ist von Null auf hundert in wenigen Sekunden. Nur Mia ist vor seine Launen sicher. Noch nie hat er auch nur die Stimme ihr gegenüber erhoben.
Er ist gestresst, das weiß ich. Immerhin ist pendeln eine nervende Sache. Und dafür gibt sich John wirklich alle Mühe, nichts an uns auszulassen.
Elli und ich essen gemeinsam, bevor wir zur Kita spazieren gehen, um Mia abzuholen.
Auf dem Rückweg bleiben wir eine Weile auf dem Spielplatz hinter unserem Haus.
"Soll ich ihn vielleicht mal anrufen?", frage ich irgendwann, während ich Mia beim Schaukeln beobachte.
"Ach was, er wird zu viel tun haben. Heute Abend ruft er sicher an." Elli winkt ab, schafft es damit allerdings nicht, mich zu besänftigen. Selbst wenn John die letzten Tage zu viel getrunken hätte, hätte er sich doch sicherlich schon längst gemeldet. Es ist das erste Mal, dass er sich länger als einen Tag nicht meldet, seit ich ihm meine Gefühle gestanden habe. Und das ist auch schon wieder einige Wochen her.
Sicher, es war nicht der romantischste Moment, besonders weil ich in erster Linie an den unsagbar guten Sex denken musste.
Dennoch haben wir an jenem Tag beschlossen, einer Beziehung eine Chance zu geben. Und nun scheint es steil bergab damit zu gehen.
Ich rufe John nicht an. Auch die nächsten Tage, inklusive Wochenende, halte ich mich zurück.
Am Dienstag habe ich wieder einen Termin bei meiner Ärztin, John weiß davon. Doch all mein Hoffen, dass er wieder dabei ist, werden zunichte gemacht.
Ich sitze ganz allein im Wartezimmer, kämpfe gegen den Drang an, John in den sozialen Medien zu stalken. Doch ich verliere die Schlacht, nachdem ich mich über eine Woche selbst hindern konnte.
Ich öffne mit dem Daumen die Instagram-App, sehe sofort, dass er neue Storys gepostet hat.
Ein Bild von seinem letzten Videodreh, ein Bild bezüglich eines Battles mit Marten - als ob jemanden interessiert, welches Wasser sie trinken. Und dann folgen uninteressante Bilder von einem Auto, einem Schachbrett und ... fast hätte ich mein Handy fallen lassen.
Das letzte Bild zeigt John mit einer brünetten Schönheit, Arm in Arm.
Augenblicklich geht mein Puls schneller, kann ich doch gerade nicht einschätzen, ob das Bild Show ist.
Als ich in das Behandlungszimmer gerufen werde, habe ich nasse Hände und das Gefühl, dass ich jeden Augenblick umkippen könnte.
"Herrje, Sie sehen aus, als hätten Sie einen Geist gesehen", begrüßt meine Ärztin mich lächelnd. "Wo ist denn Ihr charmanter Partner heute?" Ach, wenn ich das nur wüsste.
Ich lasse mir eine fadenscheinige Ausrede einfallen und wechsle das Thema. In den letzten Tagen hatte ich vermehrt Schmerzen im Unterleib. Nicht dramatisch, aber doch merkwürdig.
Während ich der Aufforderung meiner Ärztin, mich für den vaginalen Ultraschall frei zu machen, nachkomme, höre ich mein Handy mehrfach in meiner Tasche vibrieren. Natürlich ignoriere ich es, in diesem Moment gibt es einfach wichtigeres.
"Dann wollen wir doch mal sehen, was das Krümelchen da drin so macht", sagt die Ärztin lächelnd. Wie immer ist es recht unangenehm, das kühle Gel lässt mich, wie immer, leicht zusammenzucken.
Mein Blick ist starr auf den Monitor gerichtet, ich verfolge genaustens, wo die Ärztin mir was zeigt.
"Und hier", zeigt sie auf einen vibrierenden Punkt. "Hier sehen Sie das kräftige Herzchen schlagen." Ich fühle mich augenblicklich beruhigter, doch ein Laut der Ärztin - irgendwie klang es wie ein unterdrücktes oh - lässt mich hellhörig werden.
"Stimmt etwas nicht mit dem Baby?" Erneut bekomme ich kalte, feuchte Hände.
"Ich würde gern noch ein Ultraschall durch den Bauch machen", erklärt meine Ärztin freundlich, zieht das Ultraschallgerät heraus und fährt den Untersuchungsstuhl runter.
Schnell ziehe ich mich an und lege mich auf die Liege neben der kleinen Umkleidekabine.
Erneut lässt kaltes Gel mich frösteln und wieder starre ich gebannt auf den Bildschirm.
"Aha. Sehen Sie das hier?" Ich folge dem Finger der Ärztin und sehe wieder den vibrierenden Fleck. "Ich wollte sicher gehen, weil Sie über Schmerzen geklagt haben. Und das hätte etwas schlimmes bedeuten können. Aber sehen Sie hier. Dieser Punkt hier ist ein weiteres Herz. Sie bekommen Zwillinge, nur hat sich Kind B bisher gut versteckt."
"Das ist ein Scherz", entfährt es mir.
"Ganz und gar nicht." Milde lächelnd reicht sie mir ein Foto, auf welchem ganz deutlich zwei Kinder zu erkennen sind.
Ich fühle mich, als würde ich gerade eine von diesen frühabendlichen Soaps gucken. Wie konnte sich ein zweites Kind bisher in meinem Uterus verstecken?
Zwilling? Ich meine, dass sind gleich zwei Kinder ...
Als ich endlich wieder in meinem Civic sitze, schießen die Tränen nur so aus mir heraus. Fast blind, so verschleiert ist mein Blick, wähle ich die Nummer meiner besten Freundin.
"Hey Süße, was gibt's? Ist John doch noch aufgetaucht?" Ihre scheinbar fröhliche Stimmung kann mich heute nicht aufheitern.
"Elli, wie soll das bloß gehen? Mit zweien gleichzeitig?", schniefe ich in den Hörer.
"Süße, das haben wir doch besprochen", seufzt Elli geduldig. "Mia freut sich riesig auf das Baby, John wird schon einen guten Grund haben, wieso er mal wieder den Arsch raushängen lässt und ich helfe dir, wo ich nur kann."
Es hilft tatsächlich ein wenig, das alles noch einmal von ihr zu hören. Wenngleich Elli mich gründlich missverstanden hat.
Ich habe keine Angst davor wie es mit zwei Kindern sein wird, sondern davor, drei Kinder zu betreuen. Kann ich Elli das einfach am Telefon sagen?
Ich kann es nicht, bringe es nicht über mich, eine solche Bombe platzen zu lassen, ohne ihre Schulter zum Ausweinen neben mir zu wissen.
"Können wir uns treffen?", schniefe ich noch immer in den Hörer.
"Natürlich, allerdings bin ich gerade mit Max unterwegs und am frühen Abend muss ich dann zur Uni in einem Abendkurs."
"Es ist gut, wenn Max dabei ist." Wir verabreden uns bei Max zu Hause.
Als ich den Wagen starten will, fällt mir wieder ein, dass mein Handy während der Untersuchung ständig vibriert hat.
Ich öffne die WhatsApp-App - fünf Nachrichten von John, drei von einer mir unbekannten Nummer. Voller Neugierde lese ich zuerst die von John.
Muss dringend mit dir reden.
Warum antwortest du nicht?
Fuck!
Heute ist der Termin bei deiner Ärztin ... Baby, es tut mir leid! Ich setze mich sofort ins Auto, bin in etwa vier Stunden in Berlin, versprochen!
Oh und falls dir jemand schreibt, den du nicht kennst ... Darüber müssen wir dringend reden! Ruf mich bitte an. <3
Da John Nachrichten von einer mir fremden Person erwähnt hat, öffne ich, neugierig geworden durch seine Worte, den neuen Chat.
Zwei Fotos springen mir förmlich entgegen. Einmal das von Insta - John und die Brünette - und dann eines, wie die beiden in einem Restaurant sitzen.
Wir Frauen müssen zusammen halten. Er betrügt dich am laufenden Band. Lass dich nicht um den Finger wickeln.
Darunter steht kein Name, kein Gruß, nichts. Mein Kopf sagt mir, dass ich, wie John mich bat, den Worten keine Beachtung schenken sollte. Doch mein Herz spielt, dank der Hormone, völlig verrückt.
Hin und her gerissen fühlt sich meine Brust an. Ich verspüre den Drang, John auf der Stelle anzurufen. Doch er sitzt in seinem Wagen, vermutlich schon auf der Autobahn, da kann und will ich ihn nicht stören. Er soll, was auch immer nun die Wahrheit ist, lebendig in Berlin ankommen.
Ich ignoriere beide Chats, starte den Wagen und fahre nach Zehlendorf.
Erst letzten Monat haben John und ich darüber gestritten, warum ich mit Mia nicht nach Hamburg ziehe. Er wollte einfach nicht akzeptieren, dass ich meiner Heimat nicht mir nichts, dir nichts und von heute auf morgen den Rücken kehren kann.
Jetzt scheint es genau der richtige Entschluss gewesen zu sein, meine Wohnung nicht zu kündigen.
Wobei ... mit drei Kindern wird es schier unmöglich, überhaupt dran zu denken, sie nicht aufzugeben.
"Wow, du warst schnell hier." Max öffnet lächelnd seine Haustür, umarmt mich und lässt mich herein. "Willst du was essen? Elli wollte eine Pizza bestellen."
Ich nicke, obwohl mir nicht wirklich nach Essen zumute ist.
"Super", ruft meine beste Freundin aus dem Wohnzimmer. "Du nimmst bestimmt, wie immer, die vegetarische Pizza, oder?"
"Klingt nach einem Plan", ruft ich zurück, während ich die Jacke ausziehe. Langsam, aber sicher kommt der Herbst. In wenigen Wochen feiern wir Mias vierten Geburtstag. Hoffentlich, wie geplant, mit John, Marten und ihren Freunden.
Ich setze mich neben Elli auf die Couch, kuschele mich sofort an sie. Überrascht blickte Elli auf mich herab, drückt mich aber enger an sich.
"Wie war es beim Arzt?"
"Es sind zwei", wispere ich.
"Ja, Schatz, dass hatten wir doch vorhin schon geklärt."
"Elli", schluchze ich auf. "Ich meine nicht Mia und das Baby. Ich meine das Baby und das Baby."
Meine beiden besten Freunde schauen mich verdattert an, ich hingegen bringe keinen Mucks mehr raus.
Erst jetzt, da ich das Begreifen in ihren Augen aufblitzen sehe, werde ich wieder ruhiger.
"Zwillinge?" Max lässt sich auf den Boden zu meinen Füßen nieder, seine Hände ruhen auf meinen Knien. Kraftlos nicke ich, versuche mich wieder zu fassen. Doch die Tränen wollen nicht stoppen.
"Lies seine Nachricht und die der unbekannten Nummer", sage ich unter Tränen und reiche Max mein Handy. Fast eine Woche habe ich nichts, beziehungsweise nur unregelmäßig von John gehört. Dann das heute. Als ob die Nachricht meiner Ärztin nicht schon genug sei, nein, da muss mir irgendwer auch noch Fotos von John und einer Frau schicken. Und ich bin definitiv nicht diese Frau.
"Wie konnte sie das übersehen?" Elli küsst meinen Kopf, reicht mir eine Hand.
"Sie meint, es kommt öfter vor, als man denkt, dass sich das zweite Kind versteckt. Aber sie sagte auch, dass das eben auch meine Schmerzen erklären könnte. Immerhin bin ich schon fast in der siebzehnten Woche. Eigentlich wollten wir einen Blick auf das Geschlecht heute werfen. Allerdings wollte ich das nach der Nachricht nicht mehr." Ich kuschel mich wieder enger an meine beste Freundin, beobachte Max dabei, wie er auf mein Handy starrt und hin und wieder darauf herumdrückt.
"Was soll ich nur machen?", wispere ich, als Max mein Telefon an Elli weiterreicht.
"Du ruhst dich aus und wir bestellen Pizza. Wenn wir gegessen haben, reden wir weiter." Max drückt meine Hand. "Und jetzt hole ich die Prinzessin ab."
Und schon verschwindet er. Ich weiß, dass er sein Haus gerade nur für mich und Elli verlässt, damit ich mich ausheulen kann, ohne, dass er John etwas verheimlichen müsste. Falls ich mit ihm überhaupt noch rede.
"Was soll der Scheiß, lass mich rein." Gedämpft dringen Stimmen zu mir durch. Ich muss eingeschlafen sein, als wir auf die Pizza gewartet haben.
"Ernsthaft, Elli, lass mich rein. Sie weiß, dass ich nach Berlin kommen wollte. Außerdem muss ich was mit ihr klären."
Als ich mir endlich sicher bin, richtig gehört zu haben, stehe ich von der Couch, auf der ich bis jetzt gelegen habe, auf und trete in den Flur.
John sieht mich sofort, als hätte er meine Schritte gehört. Sein Blick wird augenblicklich sanft, seine Haltung verändert sich, er scheint weniger angespannt zu sein.
"Baby", wispert John, kaum hörbar, doch ich kann das Wort mittlerweile schon von seinen Lippen ablesen. Elli guckt zwischen uns hin und her, zuckt die Schultern und zieht sich zurück.
John betritt nicht das Haus, er bleibt an den Türrahmen gelehnt stehen, blickt mich erwartungsvoll an.
"Lass uns auf die Terrasse gehen", sage ich leise und wende mich zum Gehen. John wird mir folgen, wie eigentlich immer, seit ich ihm wieder begegnet bin.
"Wo warst du?", frage ich unvermittelt, als ich, statt auf der Terrasse zu bleiben, im hinteren Teil des Gartens stehe.
"Hatte Termine."
"Wer hat mir geschrieben und wer ist die Frau auf den Fotos?" Seine Antwort wird bedeutsam sein. Für mich, für uns.
"Die Frau auf den Fotos hat dir geschrieben."
"Kannst du vielleicht mehr dazu sagen? Oder muss ich alles heraus quetschen?", frage ich und verberge meine Ungeduld nicht mehr. Ich setze mich auf einen Liegestuhl, den Max für mich vor einigen Wochen hier unter die Trauerweide gestellt hat. Ich liebe diesen Baum, er erinnert mich an einen Film, wenngleich der Film sehr traurig war.
"Ich", setzt John zu einer Antwort an, stockt kurz, lässt sich dann vor mir auf die Wiese nieder. Sein Blick wirkt plötzlich verzweifelt. Mir wird heiß, ich kann kaum atmen, kann ich mir doch denken, welche Richtung unsere noch so frische Beziehung einschlagen wird. "Ich ..."
"Verdammt, John, nun sprich endlich", flehe ich.
"Baby, ich glaube, ich habe Scheiße gebaut."
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