11
John und ich bleiben allein zurück. Gemeinsam und doch allein. Ich kann seinen Atem hören, spüre, wie es in ihm arbeitet. Es müssen in ihm tausende Sachen gleichzeitig durch den Kopf gehen. Als ich Mia zum ersten Mal gespürt habe, von innen, dieses zarte Schmetterlingsflattern; der Moment, wenn du deinen Bauch kratzt, doch das unterschwellige Gefühl geht einfach nicht weg. Da wusste ich, dass ich sie liebe. Und mir war augenblicklich klar, dass ich sie beschützen würde. Komme was wolle.
"Wie alt ist sie?", bricht John die Stille. Fast im selben Moment beginnt der Mais zu poppen. Schnell schütte ich den Zucker über die Körner, lege den Deckel leicht schief auf den Topf und drehe die Hitze noch ein wenig runter. "Wie alt ist sie, Charlotte?", wiederholt John seine Frage nun nachdrücklicher.
"Sie wird bald vier", sage ich, schaue noch immer in den Topf. Ich kann ihm nicht in die Augen sehen, will nicht miterleben, wie die Erkenntnis von ihm Besitz ergreift und vielleicht Wut daraus wird. Wut auf mich, weil ich getan habe, was ich getan habe.
"Vier ... sie ... scheiße!" John tritt gegen einen Küchenschrank, es kümmert ihn nicht, dass dieser daraufhin eine Delle aufweist. "Ich muss dich das jetzt fragen, und wage es nicht, mich anzulügen, ich mein es ernst, Charlotte." Ich hasse es, wie er meinen Namen ausspricht. Es ist kein Gefühl darin, als wäre ich eine Fremde. Du bist eine Fremde für ihn, merk dir das!
"Ganz offensichtlich sieht sie mir ähnlich", stellt John fest. "Hast du es damals darauf angelegt? Seit ihr in dem Club gewesen, weil du einen von uns haben wolltest?"
"Was?", wütend drehe ich mich zu ihm, kann nicht glauben, welchen Vorwurf er mir macht. Und obwohl mich das unglaublich sauer macht, treten mir dennoch Tränen in die Augen. "Ich weiß, ich habe es verkackt, John, aber wenn ich es darauf angelegt hätte ... meinst du nicht, ich hätte dann den Kontakt gesucht? Glaubst du nicht, ich hätte Geld von dir verlangt?" Er schweigt, mustert mich.
"Fuck!" Erneut tritt er gegen den Schrank. Noch einmal und ich bin mir sicher aus der Delle wird ein Loch. "Ich hab es schon tausende Male verkackt, Charlotte! Verstehst du? Aber das hier ..." John breitet die Arme aus, ohne auf etwas bestimmtes zu zeigen. "Wieso hast du nichts gesagt? Spätestens, als wir uns wiedergetroffen haben?" Seine Hände reiben über sein Gesicht bis in seine Haare und wieder zurück. Seine blauen Augen liegen auf mir, als könnte ich alles als schlechten Scherz auflösen.
"Ich ... Als ich damals herausgefunden habe, wer du überhaupt warst ... Ich wünsche mir nicht so ein Umfeld für mein Kind. Ich will nicht, dass sie durch dich erlebt, wie es in dieser Szene ist. Du hast selbst vorhin gesagt, du bist nicht gut. Und Mia ... sie verdient nur das Beste. Ich hätte dich aufsuchen können, ja. Aber, es tut mir leid, ich will mit der ganzen Scheiße nichts zu tun haben. Die Drogen, der Alkohol, die Frauen. Das ist kein Umfeld für ein Kind." Ich atme tief durch, kümmere mich wieder um das Popcorn.
"Welche Rolle spielt Max in eurem Leben? Habt ihr so etwas wie eine Affäre? Baut ihr euch etwas auf? Ist er ihr Ersatzvater?"
"John, bitte", flehe ich. Jetzt ist sicher nicht die Zeit, über Max zu reden. Unsere Blicke treffen sich erneut, das Feuer in den seinen brodelt und ich weiß nicht, wie ich es einschätzen soll.
"Antworte!", schreit er mich an, guckt sofort erschrocken zur Treppe im Flur. "Ich will verdammt nochmal alles wissen und verstehen", spricht er wesentlich leiser weiter.
Also erzähle ich ihm alles. Wann ich erst wusste, wer dieser John eigentlich war, mit dem ich nach Hause gegangen bin. Wie die Schwangerschaft war, die Geburt, so ganz einsam im Kreissaal. Und ich erkläre ihm, welche Rolle Max in meinem und auch Mias Leben spielt.
Er bewegt sich nicht, streicht sich nicht einmal durch die Haare. John hört mir einfach nur aufmerksam zu. Als ich fertig bin, fülle ich das Popcorn aus dem Topf in eine riesige Schüssel. John nimmt sie mir ab, geht damit ins Wohnzimmer und setzt sich neben Mia.
"Was mach ich bloß?", flüstere ich zu mir selbst, lasse mich auf den Boden sinken. Hier werde ich bleiben, beschließe ich. Vielleicht gehe ich auch nach oben. In jedem Fall werde ich John diesen Moment nicht nehmen. Max sitzt daneben, Mia wird es also gut gehen. Ich schleiche mich an den dreien vorbei und gehe nach oben ins Gästezimmer.
Im ersten Stock befinden sich zwei Schlafzimmer, das von Max und das Gästezimmer, was Mia und ich ständig belegen. Außerdem ist noch ein großes Badezimmer auf dem Flur.
Zielsicher gehe ich in das Gästezimmer, finde Mias Sachen auf dem Boden verstreut. Ich hebe alles auf, lege es zusammen und stapel alles auf einem von zwei Sessel am Fenster. Auf dem anderen lasse ich mich nieder, lege die Beine auf einen dazugehörigen Hocker und schaue hinaus.
Hinter Max Haus erstreckt sich der Grunewald, fahre ich eine enge Straße entlang, würde ich direkt bei IKEA rauskommen. Der Himmel färbt sich rosa hinter den leichten Wolken, was morgen einen schönen Tag verspricht.
Mia und ich wollten morgen auf die Pfaueninsel. Mal abwarten, ob wir das wirklich machen werden.
Da mein Reader vermutlich noch immer im Pool schwimmt, gehe ich an den Schreibtisch, der links neben der Tür steht. Dort liegt immer ein Laptop bereit, falls ich für die Kita noch etwas arbeiten will. Meist nutze ich ihn allerdings, wenn alle schon schlafen und mich wieder verschiedene Gedanken quälen und schreibe diese auf.
Der Laptop fährt schnell hoch, mit wenigen Klicks bin ich auf Google. In das Suchfeld gebe ich Bonez, 187, Familie und Freundin ein. Ich glaube zwar nicht, dass John aktuell mit jemandem zusammen ist, doch mich interessiert es schon, wie seine verflossenen wohl aussehen.
Ich klicke mich durch die angebotenen Seiten, finde jedoch nichts heraus. Seufzend entferne ich die Suchbegriffe, lasse lediglich seinen Künstlernamen stehen.
Die erste Seite gehört zu einer Zeitschrift. Ich klicke sie an und verschlucke mich fast an meiner eigenen Spucke.
Hat Bonez eine neue Freundin?
Fans haben den Chef der 187 Straßenbande diese Woche in Berlin getroffen. Erst waren er, seine Jungs und eine schöne Unbekannte im Block House essen, anschließend brachte der 'Honda Civic'-Interpret die junge Frau nach Hause.
Doch so unbekannt, wie den Fans, ist das Gesicht uns nicht. Bei der 25 jährigen handelt es sich um Charlotte K., eine enge Freundin von Bonez Kollegen KontraK.
Der 'Letzte Träne'-Schnuckel ist nicht nur Patenonkel ihrer Tochter, sondern auch ein wichtiger Fels im Leben der Alleinerziehenden.
Warum Bonez Charlotte nach Hause brachte, anstatt KontraK, ist nicht bekannt. Entwickelt sich da eventuell mehr für den Hamburger-Rapper? Wir würden es ihm wünschen und von Herzen gönnen.
Ich wechsle die Internetseite, finde aber fast nur noch ähnliche Artikel. Es wundert mich, dass sie so viel über mich wissen, wo Max und ich doch alles von der Presse fernhalten, was mit Mia zu tun hat.
Als ich Schritte im Flur höre, schließe ich alle Suchfenster und schalte den Laptop aus.
Die Tür zum Gästezimmer geht auf, Mia zieht John an der Hand in den Raum. Der Film scheint zu Ende zu sein.
"Hier schlafen Mama und ich, wenn wir bei Max sind." Mia geht auf das Bett zu, wendet sich dann erst an mich. "Ich geh schlafen, hat Onkel Max gesagt. John bringt mich heute ins Bett", erklärt sie wie selbstverständlich. "Singst du mir das Anne Lied vor?" Die Frage geht an John.
"Sorry, Kleines, aber das kenne ich leider nicht."
"Macht nichts, Mama kann es dir beibringen." Erwartungsvoll schaut Mia mich an, doch ich fixiere John. Er zuckt mit den Schultern, als sich unsere Blicke treffen.
Ich setze mich neben Mia auf das Bett, lehne mich mit dem Rücken gegen die riesigen Kissen, hebe einen Arm, damit Mia sich daran kuscheln kann. Doch meine Tochter hat andere Pläne.
"John, kann ich noch kuscheln?"
"Mit wem?", fragt er verdutzt.
"Mit dir, Doofi", lächelt Mia. Wieder sucht Johns Blick meinen. Ich nicke zaghaft, woraufhin er sich auf die andere Seite von Mia setzt, ein wenig runter rutscht, sodass auch er mehr liegt. "Los Mama, aber mit meinem Name", bestimmt sie.
Ich räuspere mich und fange schließlich an.
"Schlaf, Mia, Schlaf nun ein, bald kommt die Nacht. Hat sich aus Wolken Pantoffeln gemacht. Kommt von den Bergen, kommt von ganz weit. Schlaf, Mia, schlaf nur ein, es ist Schlafenszeit." Ich singe weiter, beobachte dabei, wie Mia in Johns Arm liegt, mit dem Rücken an seinem Bauch. Ich sehe, wie John ein wenig unbeholfen daliegt, sich nicht sicher zu sein scheint, was er machen soll und darf. Vorsichtig nehme ich seine Hand, führe sie über Mias Kopf.
John versteht schnell, was ich ihm sagen will und beginnt, in einem ruhigen Rhythmus über ihren Kopf zu streichen.
So kann die kleine Prinzessin am schnellsten einschlafen. Ich singe weiter, Mias Augen werden schwer.
Ich singe die drei Strophen des Schlaflieds drei mal, bis Mia endlich fest schläft. Vorsichtig stehe ich auf, lege eine dünne Decke über meine Tochter. John beobachtet mich genau, bleibt selbst aber liegen.
"Darf ich noch einen Moment hier bleiben?", fragt er flüsternd. Nickend verlasse ich das Zimmer, hole tief Luft und lehne mich an die Wand neben der Zimmertür. Aus dem Zimmer kommt leises Gemurmel, vermutlich redet John mit sich selbst.
Fünf Minuten später öffnet sich die Tür. Leise lehnt John sie an, schenkt mir einen vernichtenden Blick. Ohne mit mir zu reden geht er runter. Ich folge ihm, was soll ich hier oben noch? Am unteren Treppenabsatz wendet John sich mir zu.
"Komm mit", sagt er sichtlich angespannt. Wir verlassen das Haus, gehen die Straße runter, bis zur nächsten Ecke. Erst hier bleibt John wieder stehen. "Sie ist fast vier Jahre alt. Wir ... vor vier Jahren haben wir ungeschützten Verkehr gehabt. Offenbar ging es dir nicht um Geld oder Ruhm, sonst hätte ich ja wohl erfahren, dass ich ein Kind habe. Wenn sie denn wirklich von mir ist. Kann ja sein, dass du mit mehreren Männern... "
"Sie ist dein Kind", unterbreche ich ihn.
"Sagst du." John sieht mich nun endlich an, in seinem Blick liegt keinerlei Emotion. Er ist gerade nicht John, ich spüre deutlich, dass er Bonez ist. Nichts kann ihn gerade berühren.
"Ja, John, ich sage das. Weil ich es weiß. Ich weiß, dass ich nach dir mit keinem Mann mehr geschlafen habe. Ungefähr vier Jahre lang. Bis vorhin", gestehe ich leise. In seinen Augen blitzt etwas auf, dass ich nicht zu deuten weiß. Unglaube? "In unserer ersten Nacht wusste ich nicht, wer du bist. 187 war mir kein Begriff. Ich wusste nur, dass Max ein paar Leute kennengelernt hat, mit denen er Musik machen möchte. Er hat uns damals auf die Gästeliste gesetzt.
Als ich herausgefunden habe, wer du bist, wusste ich bereits, dass ich schwanger bin. Ich habe einen Bericht über euch gesehen und ... Ich wollte das Umfeld für mein Kind nicht! Drogen, Frauen, Alkohol ohne Grenze ... da passt kein Kind rein. Also habe ich entschieden, sie allein großzuziehen."
"Fuck!", schreit John auf. "Du hast keine Ahnung von uns oder unserer Welt! Kris hat zwei Kinder und kann seinen Job machen! Meinst du, er kifft, wenn sie daneben liegen? Glaubst du, er schläft jeden Tag mit einer anderen? Das ist Business! Verdammte scheiße, ich sehe dich vier Jahre später wieder, denke, irgendwer da oben meint es gut mit mir und dann erfahre ich das!" John guckt zum Himmel. "Fuck! Weißt du, ich hab's echt schon tausendmal verkackt ... aber du ... du hast den Vogel echt abgeschossen!" Herausfordernd sucht er meinen Blick, als er seine Worte von vorhin wiederholt.
"Ich kenne dich nicht, ich kannte dich auch damals nicht. Woher sollte ich wissen, dass du nicht der bist, der du zu sein vorgibst?"
"Schau dir deinen besten Freund an, dann hast du die Antwort", ruft er aus. Unwillkürlich zucke ich zusammen. Ja, Max spielt auch eine Rolle. Vor der Kamera oder auf der Bühne ist er KontraK. Wenn er aber mit mir und Mia unterwegs ist, ist er einfach Max.
"Und jetzt?", frage ich kleinlaut.
"Wie und jetzt?"
"Du ... willst du Kontakt zu ihr?" Überfordert von meiner Frage, reibt John sich das Gesicht.
"Lässt du mich denn?" In seinen Augen blitzt wieder etwas auf, was ich als Hoffnung deute. Er hofft, dass er Mia kennenlernen darf.
Auch wenn die Begegnung der beiden nicht sein sollte, so haben sie sich nun getroffen. Also darf ich es jetzt nicht unterbinden, wenn John ehrliches Interesse daran hat.
"Natürlich. Jetzt weißt du es, also darfst du sie nun auch kennenlernen, wenn du das willst. Ich... Ich möchte erstmal nicht, dass ihr allein etwas macht, aber ich bleibe bei euren Treffen im Hintergrund."
"Okay, cool." John wendet sich von mir ab, geht die Straße zurück, bleibt vor dem Mercedes stehen, mit dem er mich neulich nach Hause gefahren hat. Mit einem letzten Blick zu mir steigt John ein und fährt weg. Er lässt mich zurück und ich lasse ihn ziehen. Er braucht sicher Zeit, um den Tag zu verarbeiten. Stunden, Tage, vielleicht Wochen.
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