Waffen und Rüstung
Alles Blut war ihnen aus dem Gesicht gewichen. Voller Schrecken starrten sie auf die unscheinbar wirkende Schriftrolle. Allein das rote Siegel verriet, dass sie alles andere als harmlos war. Unheilvoll füllte allein ihre Anwesenheit den Raum aus. Schweigend saß Mulan auf ihrem Sitzkissen. Leer lag ihr Blick auf dem Schriftstück, das bewegungslos auf dem Tisch vor ihr lag. Alles in ihr schrie danach, es zu ergreifen und zu zerreißen. Doch das würde die Worte nicht ungeschehen machen. Das würde den Befehl nicht ungeschehen machen.
Stumme Tränen rannen über Chen Lus Wangen, doch sie wagte nicht, sie wegzuwischen. Einer Statue gleich verharrte sie. Nur Liang schien nicht zu begreifen. Verwirrt sah er zwischen seinen Schwestern und seinen Eltern hin und her. Aber keiner schien ihn aufzuklären wollen.
„Vater?", fragte er verunsichert. Nervös spielten seine Finger mit dem Saum des Kissens. Im Gegensatz zu sonst rügte die Mutter ihn dafür nicht. Allein das schürte das Feuer der Nervosität.
Aber auch der Vater blieb seltsam still. Hua Yong war kein ängstlicher Mann. Bisher hatte er sich noch jeder Herausforderung gestellt und der Familie Ehre gebracht. Es war nicht seine Art, sich zurückzuziehen und sich der Schande zu stellen. Er war stolz wie ein Drache.
Schließlich war es Mulan, die aussprach, was sie alle dachten: „Du kannst nicht gehen." Ihre Stimme war leise, aber bestimmt.
„Es ist gleich, ob ich kann", erwiderte Yong ernst. „Ich muss." Nein, dachte Mulan. Er musste nicht. Sie würde nicht zulassen, dass die Familie auseinandergerissen wurde. Außerdem wusste sie nur gut, was geschah, wenn die Menschen herausfinden würden, was er war. Oft genug hatten ihre Eltern ihr und ihren Geschwistern erzählt, dass es für sie tödlich enden könnte, sollte ein Mensch jemals um ihre Identität als Fuchsfee erfahren. Und ihre Familie brauchte ihren Vater. Er hielt die Familie zusammen. Unabhängig von den Schwierigkeiten, in die sie sich im Laufe der Jahre gebracht hatten. Irgendwie fand er immer einen Weg, wieder alles zum Guten zu wenden. Aber dieses Mal würde das nicht so sein. Obwohl die Zeit Hua Yong nichts anzuhaben schien, hatte er sich noch nicht in den Mantel der Unsterblichkeit gehüllt. Seine Magie war für diesen letzten Schritt noch nicht bereit. Vielleicht würde sie das niemals sein.
Mulan selbst fürchtete den Tod nicht. Das bedeutete aber noch lange nicht, dass sie zulassen würde, dass er sich ihren Vater holte. Die Sonne würde noch lange über ihm scheinen. Mit einem Mal stockte sie. Plötzlich sah sie glasklar. Ihr Herz machte einen überraschten Hüpfer. Die Sonne. Das Leben. Atem. Der dunkle Schleier, der schon seit so vielen Jahren ihre Welt verdunkelte, lichtete sich. So lange schon strebte sie nach der Magie. So lange schon entzog sie sich ihren Fingern, bevor sie überhaupt die Gelegenheit bekam, nach ihr zu greifen. Nun aber sah sie die Antwort auf die Frage, die sie in düsteren, verzweifelten Nächten gestellt hatte. Atem war Leben. Aber ihre Antwort war der Tod. Ihr Herz schien einen Moment lang auszusetzen. Ein triumphierendes Lächeln zupfte an ihren Mundwinkeln, doch sie rang es augenblicklich nieder. Ihre Familie durfte ihr nichts ansehen. Sonst wäre ihr Vorhaben zum Scheitern verurteilt. Noch nie war Mulan der Magie so nahe gewesen. Sie konnte sie schon beinahe schmecken. Welch wunderbares Gefühl!
Mulan wartete, bis der Mond die Sonne ablöste und die Welt dunkel wurde. Sie wusste, wo der Vater die Schriftrolle niedergelegt hatte und auch, wo er seine lange unbenutzte Rüstung aufbewahrte. Einst hatte er tapfer mit den Menschen Seite an Seite gekämpft, lange bevor ein Fuchsgeist sich seiner Seele bemächtigte und sie beide eins wurden.
Auf leisen Sohlen schlich sie durch das Haus, horchte auf, doch alles schlief. Das Haus lag in vollkommener Stille vor ihr. Schnell klaubte sie den Einberufungsbefehl, der je einen Mann einer Familie in die Armee berief, vom Tischchen und öffnete danach den sorgsam verzierten Wandschrank, auf den mit feinen Pinselstrichen Bambus aufgemalt worden war. Sobald sie ihn geöffnet hatte, erschienen vor ihr die alte Rüstung ihres Vaters sowie sein schlankes Schwert. Vorsichtig hob sie das Schwert aus seiner Halterung und zog prüfend die scharfe Klinge aus der Scheide. Das Metall blitze im fahlen Mondlicht gefährlich auf.
Tief atmete Mulan ein und aus. Es war so weit. Das hier war ihre Chance. Eine andere würde sie niemals erhalten. Die Magie rief nach ihr. Das konnte sie spüren. Das hier war der richtige Weg. Würde sie den nicht beschreiten, würde sie für immer eine magielose Fuchsfee bleiben. Auf keinen Fall wollte sie das. Was war eine Fuchsfee schon ohne Magie? Sie hatte Chen Lu wahre Wunder vollbringen sehen. Toten Blüten hatte sie wieder Leben eingehaucht und sich selbst ein Kleid aus Mondlicht geschaffen. Wozu würde dann erst Mulan in der Lage sein? Und im Krieg würde sie bestimmt genug Kraft sammeln können, um sich nie wieder um ihre Magie sorgen zu müssen.
Ohne zu zögern schlüpfte sie in ihre Fuchsgestalt, genoss es, wieder einmal auf vier Beinen zu stehen, zumal ihr Körper sich jetzt viel wendiger und leichter anfühlte. Zufrieden peitschten ihre neun Schwänze in die Luft. Ihr Gepäck, das bloß aus der Rüstung, dem Schwert und der Schriftrolle bestand, hatte sie bereits zusammengeschnürt, sodass sie es in ihrer jetzigen Gestalt tragen konnte.
Niemand bemerkte die schmale Gestalt mit dem dunkelgrauen Fell, die eins mit der Nacht wurde.
Entschlossen blickte Mulan hinab auf das Zeltlager der Armee. Dicht an dicht drängten sich die Zelte, bildeten ein ganzes Meer aus braunen Leinen. Noch nie zuvor hatte sie so viele Menschen an einem Ort gesehen. Doch davon ließ sie sich nicht einschüchtern. Sie durfte keine Angst haben. Sie musste die Ruhe bewahren. Sobald sie dort unten war, musste sie sich ständig unter Kontrolle haben. Niemand durfte wissen, dass sie eine Frau war. Das, was sie hier tat, wurde mit dem Tod bestraft. Und dann war da auch noch ihr zweites Geheimnis. Sollte jemand erfahren, dass sie eine Fuchsfee war, hatte sie nicht mehr die Rouran zu fürchten.
Mit geübten Handgriffen band sie ihr Haar hoch, das sie zuvor bis zu ihren Schultern abgeschnitten hatte. Ihren langen Strähnen hatte sie keine Träne hinterher geweint. Wenn das der Preis dafür war, endlich in den Besitz von Magie zu kommen, dann war ihr das wert. Sie würde nicht einmal vor dem Tod selbst zurückschrecken. Ihr ganzes Leben lang hatte sie alles versucht. Nichts war ihr geglückt. Aber jetzt, das spürte sie ganz tief in sich drin, war sie ihrem Ziel so nahe.
Mit erhobenem Kinn und geradem Rücken schritt sie den Berg hinunter, genau auf das Zeltmeer zu. Ihr Herz pochte wild, doch äußerlich war sie ganz ruhig. Sie war ein Fels im Sturm. Sie war ein Tiger im Dschungel.
Die Männer schenkten ihr kaum einen zweiten Blick. Manche von ihnen wirkten hager und zerbrechlich, andere dagegen sahen aus, als seien sie dazu in der Lage, eigenhändig ganze Berge zu versetzen. Die Unterschiede zwischen den frisch einberufenen Soldaten waren gravierend. Mit einem Mal fragte sie sich, wie es möglich sein sollte, aus all diesen verschiedenen Männern eine funktionierende Armee zu schaffen. Aber das war nicht ihr Problem. Ihr ging es allein um den letzten Atemzug der Menschen. Ob sie nun zu den Rouran gehörten oder nicht, konnte ihr eigentlich gleich sein.
Zufrieden reihte sie sich in die Schlange der Neuankömmlinge ein. Manche traten nervös von einem Bein auf das andere, andere standen ernst und unbewegt auf ihrem Platz. Und dann stand sie auch schon vor dem großen breitschultrigen Mann mit der Schriftrolle. Prüfend musterten seine Augen sie in ihrer Männerkleidung, die ihr viel zu groß war, sodass sie selbst darin zu versinken schien. Nicht überzeugt zog er eine Augenbraue hoch. „Name?", fragte er mit gelangweilter Stimme.
„Hua Meng", sagte sie entschieden.
„Hua, hm?", brummte der Mann. „Einberufungsbefehl?" Wortlos reichte sie ihm ihre Schriftrolle. Kurz überflog er die Worte, dann hakte er etwas auf seiner eigenen Schriftrolle ab. „Zelt neun." Knapp verbeugte sie sich und ging ihres Weges.
Zelt neun stellte sich als Gemeinschaftszelt heraus. Schlagartig verzog sie das Gesicht. Das war das Letzte, was sie gebrauchen konnte. Wie sollte sie sich bitte ein Zelt mit neun fremden Männern teilen? Dass sie aufflog war dann doch bloß eine Frage der Zeit! Zweifelnd starrte sie auf den Eingang. Aus dem Inneren tönten ihr bereits tiefe Stimmen entgegen. Ergeben seufzte sie, wappnete sich und trat ein. Sofort stach ihr das Chaos ins Auge. Kleidungsstücke lagen überall verstreut, irgendwer hatte sein Schwert achtlos auf den Boden geworfen und beinahe wäre Mulan auf eine kleine Schriftrolle mit säuberlich aufgemalter Fledermaus getreten. Konzentriert rang sie ihren Frust nieder. Auf was hatte sie sich hier nur eingelassen?
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