"Ohne Vorwarnung" - Teil 2
Still stehe ich unter dem alten Redwood und plane in Gedanken den neuen Garten durch. Ich habe grade den Kaufvertrag unterschrieben. Eigentlich habe ich mich nicht für das Haus sondern für den Garten entschieden. Das Haus ist klein und leicht zu pflegen, die Nähe zu San Ramon ist hier kaum zu spüren in diesem stillen Seitental, ein eigenes Zimmer für Samantha gibt es immer noch.
Und ich habe endlich, endlich nicht mehr den schmerzenden Anblick der San Francisco Bay vor Augen. All die Jahre, in denen Sammy klein war und zur Schule ging, konnte ich nicht weg aus Oakland, weil ich sonst die Schule, ihre Hobbies und meinen Beruf als Landschaftsarchitektin nicht unter einen Hut bekommen hätte. Und so habe ich zwar nie wieder San Francisco betreten, aber wohl jeden Tag die Bay gesehen und an unsere Dachterrasse gedacht.
Noch vier Wochen, dann werde ich Oakland verlassen und hier raus ziehen, wo mich keiner kennt. Ich werde mit zwei Architekten und einer Innenarchitektin zusammenarbeiten. Das heißt: geregelter Feierabend, geregelte Wochenenden und absolut meine Ruhe.
Ich gehe wieder rein, bekomme von dem Makler die Schlüssel zum Haus und verabschiede mich. Die Fahrt nach Oakland dauert nur 35 Minuten. Schnell entfliehe ich der sommerlichen Hitze und ziehe mich in meine Etagenwohnung zurück.
Hoffentlich kommt Sammy bald nach Hause. Wir wollten doch heute anfangen, zu packen. Die Kartons sind ja schon geliefert worden. Ach, ich lege jetzt schon mal los.
Sammy ist heute in San Francisco, um sich an der Uni einzuschreiben und sich um ein Wohnheimzimmer auf dem Unicampus zu kümmern. Ich habe geschluckt, als klar wurde, dass sie an der selben Uni studieren würde, an der auch Sam war.
Aber was wundert es mich? Sie sieht zwar genau so aus wie ich. Aber im Kopf hat sie die Ideen und Gaben und Denkstrukturen ihres Vaters. Also werde ich ihr keine Steine in den Weg legen. In acht Wochen beginnt ihr Semester, und dann soll sie ruhig flügge werden und ihre eigenen Entscheidungen fällen.
Wo fange ich denn am besten an? Vielleicht verpacke ich als erstes alles, was ich erst im Winter wieder brauche. Mäntel, die dicken Stiefel, das ganze Schals- und Mützen-Gedöns in den Garderobenschubladen. Da hab ich ja ewig nicht mehr reingeschaut.
Energisch öffne ich meinen Kleiderschrank und fülle die ersten beiden Kartons mit Winterklamotten. Da klappert Sammys Schlüssel in der Wohnungstür.
„Hi, Mum. Bin wieder da. ... Oh, du hast angefangen mit Packen. Warte, ich helf dir gleich!"
Gemeinsam arbeiten wir uns durch unsere Kleiderschränke. Sammy muss zusätzlich auch noch entscheiden, welche Kleidung mit ins Häuschen in San Ramon soll, und was sie mit zur Uni nehmen will. Wir haben unglaublich viel Spaß beim Ausmisten alter und noch älterer Kleidung. Manche Entdeckung lässt uns staunen.
„Mum? Hab ich DA echt mal reingepasst???"
Sammy hält eine einzelne Kindersocke in quietschrosa hoch.
„Ja, mein Schatz. Hast du. Das waren deine absoluten Lieblingssocken. Und als sie dir schon fast von den Füßen gebröselt sind, hast du sie versteckt, damit ich sie nicht wegwerfen konnte."
Mit einem feinen Lächeln wandert die Socke in einen Karton, auf den Sammy sorgfältig „Dachboden-Schätze" geschrieben hat. Tagebücher, Kinderbilder, Kuscheltiere - die Schätze eines jungen Lebens, zusammen in einer Schachtel.
Ich weiß bis heute nicht, ob ich traurig oder froh sein soll, dass dieser Tsunami alles ins Meer gespült hat, was mich an Sam erinnern konnte. Ich bin mit nichts als dem nackten Leben davon gekommen. Und mit dem Schlüsselbund in meiner Hosentasche. Naja - und mit Sammy. Das war das größte Geschenk, das das Leben mir machen konnte. Meine, Sams, unsere Tochter.
In unserer Wohnung hätte ich ja noch viel mehr Erinnerungsstücke einsammeln oder einfach dort wieder leben können. Aber ich habe es nie geschafft, noch einmal einen Fuß in dieses Haus zu setzen. Ich wüsste nicht mal, wo ich heute noch nach den Schlüsseln suchen sollte.
Als nächstes machen wir uns an die Flurkommode. Wir schippen einfach alle Klamotten aus den beiden unteren Schubladen raus, hocken uns auf den Boden und fangen an zu sortieren. Es ist erstaunlich, was sich da alles findet.
„Wann um Himmels Willen sind uns diese siebzehn Mützen, dreiundzwanzig Schals und zwölf einzelnen Handschuhe zugeflogen??? Meinst du, sowas kann ein Kindergarten noch zum Basteln benutzen?"
Dazwischen sind außerdem noch alte Schuheinlegesohlen, löchrige und heile Stoppersocken und drei Schuhlöffel, die wir Ewigkeiten gesucht haben, bevor wir den jeweils nächsten gekauft haben. Sammy fängt an zu lachen, sucht sich zwei oder drei schöne, warme Teile für sich aus und schiebt mir alles andere rüber.
„Ich geb dir fünf Minuten, der Rest kommt in den Müllsack."
Dann gehen wir an die dritte Schublade. Die ist allerdings nicht so schnell abzuhandeln, denn die ist das berühmte Pröttelgrab, das es in jeder Wohnung irgendwo gibt. Alte Kinotickets, Sicherheitsnadeln, Taschentücher, ein Einkaufswagen-Chip, elf fremde Visitenkarten, Gummibänder, abgerissene Knöpfe, zwei Wäscheklammern, ein gerissener Schnürsenkel, eine Einladung zu einer Party von vor drei Jahren, Stoffeinkaufsbeutel, Briefmarken, ein Schüsselchen mit ichkuckliebergarnichterst und diverse mehr oder weniger alte Schlüssel.
Ich schiebe meine Hand einmal an der Rückwand der Schublade entlang und wische damit alles nach vorne. Sammy stellt den Müllsack gleich daneben, und wir fangen sofort damit an, den Sack zu füttern. Ich packe die Stoffbeutel eine Schublade tiefer, wo ja jetzt wieder viel Platz ist, greife nach dem nächsten Gegenstand, etwas schmutzig Weißem - und breche auf der Stelle in Tränen aus. Meine Hand klammert sich an das kleine Filzherz, während ich blind vor Schmerz mit dem Rücken die Wand runter rutsche.
„Mum! Mum, was hast du? Bist du o.k.?"
Kraftlos schüttele ich den Kopf. Leise klingeln die beiden Schlüssel aneinander, als Sammy den Schlüsselring und das Filzherz in meiner Hand berührt. Sie hockt sich neben mich und nimmt mich einfach in die Arme.
„Soll ich einen Tee kochen, Mum?"
Ich nicke und rappele mich auf.
Es nutzt ja nichts. Sam ist nicht mehr da, aber Sammy ist da! Und für Sammy muss ich stark sein. Musste ich immer stark sein all die Jahre. Also reiß dich zusammen, Paula Wright!
Mit der großen Teekanne und unseren beiden Lieblingstassen verziehen wir uns aufs Sofa. Als Seelentrost gibt es einen extragroßen Löffel Honig in den Tee. Die Schlüssel habe ich auf den Wohnzimmertisch fallen lassen, als würden sie brennen in meiner Hand.
Das frühmorgendliche Licht auf dem Pazifik hat atemberaubend schön geglitzert, als unsere Fähre vom Kai ablegte und sich aufs Meer hinaus drehte. Wir standen an der Reeling, Hand in Hand, und ich fühlte mich wie verzaubert von diesem Licht. Nach Blumen ist Licht das Faszinierendste, das die Natur uns zu zeigen vermag.
Still hab ich mich gegen Sam gelehnt und mit der anderen Hand in meiner Tasche mit dem kleinen Filzherz von unserer Hochzeit gespielt. War das Fest wirklich erst ein paar Tage her? Heute ist es zweiundzwanzig Jahre her, aber der Anblick des längst verloren geglaubten Schlüssels reißt mich so unerwartet von den Beinen, wie es damals diese furchtbare Welle getan hatte. Der Moment, in dem ich Sam zum letzten Mal sah ...
„Mum?"
„Hm?"
„Was ... ist das für ein Schlüssel? Wenn ich das fragen darf ..."
Ich drücke kurz Sammys Hand.
„Natürlich darfst du fragen. Wem sollte ich es sonst erzählen, wenn nicht dir."
Trotzdem muss ich noch ein paar mal tief Luft holen, bevor ich anfange zu sprechen.
„Das ... sind die Schlüssel zu der Wohnung, in der dein Dad und ich gelebt haben. Bis zur Hochzeit. Der Sicherheitsschlüssel hat die Haustür und unsere Wohnung geöffnet. Der Schnörkelige hat die Tür an der Treppe zur Dachterrasse geöffnet. Ich hab dir doch erzählt, dass ich dort eine Dachterrasse hatte, oder?"
„Ja, hast du. Und ..."
Schnell greife ich nach ihrer Hand, damit sie die nächste Frage nicht stellt, bevor ich dazu bereit bin. Still wartet sie ab.
„Das ... Das Filzherz ... unsere Trauringe waren daran geknüpft. In der Kirche. Danach habe ich es an diese Schlüssel gemacht., weil ich es immer bei mir haben wollte. Es ist das einzige, ..."
Wieder kommen mir die Tränen.
„... das einzige, was mir geblieben ist von diesem wundervollen Tag und diesem viel zu kurzen Glück. Du ... und dieses Schlüsselbund."
Sammy schenkt uns Tee nach und nimmt mich wieder in die Arme.
„Du hast mir oft erzählt von Dad. Und von der Wohnung. Einmal als Kind habe ich versucht, die Wohnung aufzumalen, nachdem ich dir tausend Löcher in den Bauch gefragt hatte. Aber hat nicht das ganze Haus euch gehört? Bist du nie wieder dort gewesen? Oder haben deine Eltern sich darum gekümmert?"
Tja - wenn ich das wüsste ... Ich lag ja eine Woche im Koma. Als ich aufgewacht bin, hatte ich vollständig mein Gedächtnis verloren und wurde namenlos zurück in die USA geflogen. Hier musste ich dann mühsam lernen, mit dem allen klarzukommen, musste die Schwangerschaft akzeptieren und mir ein Leben als alleinerziehende Mutter aufbauen. Zum Glück hab ich ziemlich schnell kapiert, dass ich offensichtlich ein Draußen-Blumen-Garten-Freak bin.
Als Sammy geboren wurde und ich plötzlich mein Gedächtnis wieder hatte, wurde ich nochmal völlig aus der Bahn geworfen. Ich weiß bis heute nicht, warum ich so lange gebraucht habe, um mich bei meinen Eltern zu melden. Und da war es zu spät. Sie waren weggezogen aus San Mateo, mit unbekanntem Ziel. Sie wollten wohl alles hinter sich lassen.
Sammy streicht mir sanft über den Rücken und holt mich zurück aus meinen Erinnerungen. „Najaaaa, ... Deine Großeltern sind ein Jahr nach dem Unglück weggezogen. Ich habe sie nicht finden können. Ich bin davon ausgegangen, dass sie das Haus verkauft haben. Ich hatte ja diese Schlüssel. Aber es tat zu weh. Und ich musste zu viel arbeiten. Immerhin bin ich damals in diese Wohnung hier gezogen und habe mir diesen Job gesucht."
Tja. Ich hatte geglaubt, dass mir der Anblick der Bay im Abendlicht helfen würde, all die schönen Erinnerungen an unsere gemeinsamen Jahre festzuhalten. Stattdessen habe ich mir damit selbst das Messer im Leibe rumgedreht. Das hab ich aber erst begriffen, als Sammy in der Schule war. Und danach wollte ich sie nicht mehr verpflanzen. Also bin ich geblieben. Und hab eben nicht mehr abends aus den Fenstern geschaut, wenn die San Francisco Bay in goldenes Licht getaucht war.
Plötzlich bin ich furchtbar wütend, springe auf und pfeffere die blöden Schlüssel, die alles wieder aufgewühlt haben, mit Schwung zurück in die Schublade, aus der sie gekommen sind. Stumm folgt Sammy mir, räumt leise die wenigen sinnvollen Dinge zurück in die Pröttelschublade und schiebt sie zu.
„Komm, wir machen einen Spaziergang."
Erst ein paar Ecken weiter stellt sie die nächste Frage. Und irgendwie bin ich auch dankbar, dass nun endlich alles raus muss.
„Wieso hattest du die Schlüssel eigentlich noch? Nach dem Unglück?"
„Weil wir mitsamt Teilen von unserem Gepäck auf eine kleine Insel vor der Küste übersetzen wollten, um dort ein paar Tage zu tauchen. Als die Welle kam, hatte ich grade mit meinen Fingern in der Hosentasche an dem Ring rumgespielt. Die Helfer haben mir hinterher erzählt, dass mir der Schlüsselring über den Finger gerutscht war und ich mich an die Schlüssel geklammert hatte."
„Na, dann sollte das so sein, Mum."
Ja, das sollte es wohl. Anfangs habe ich die Schlüssel aufgehoben, weil ich gehofft hatte, dass mir dadurch die Erinnerungen zurückkommen. Danach hatte ich sie behalten, weil ich dachte, ich müsste doch mal nachsehen, ob dort alles in Ordnung ist. Aber nach dem dritten vergeblichen Versuch, einfach nur die Haustür zu öffnen, ohne in Tränen auszubrechen, hatte ich es aufgegeben. Und offensichtlich die Schlüssel in diese Schublade verbannt.
Wieder muss Samantha mich aus meinem Gedankenwust befreien.
„Komm, Mum, wir gehen jetzt in unsere Lieblingspizzeria und gönnen uns einen schönen, entspannenden Rotwein. Für heute haben wir genug gewühlt."
...............
Ein bisschen erschöpft blicke ich durch mein Wohnzimmer über den Berg von Kartons und abgebauter Möbel. Das Sofa wird mir heute Nacht als Bett dienen, alle Zimmer bis auf dieses sind schon geputzt, all meine Zimmerpflanzen habe ich bereits selbst nach San Ramon gefahren. Morgen früh kommen die Möbelpacker, und dann breche ich auf zu neuen Ufern. Sammy ist heute schon mit meinem Auto voller Zeug zum Campus gefahren, und schleppt grade zusammen mit einer Freundin alles in ihr Studentenzimmer, damit es uns morgen beim Umzug aus den Füßen ist. Sie schläft dort auch schon heute Nacht und kommt morgen wieder her.
Wie gut, dass Sammy noch für vier Wochen bei mir bleibt, bevor ihre Uni losgeht. Also können wir gemeinsam das Häuschen einrichten und es uns gemütlich machen. Sie wird mir fehlen. Sie ist doch alles, was mir geblieben ist. Aber sie muss auch in ihr eigenes Leben durchstarten dürfen. Also Schluss mit den Sentimentalitäten!
Ich lösche das Licht, taste mich vor zum Sofa und schlafe ziemlich schnell ein.
Wenige Stunden später reißt mich der Wecker aus meinen Träumen.
Nein. Nicht der Wecker. Das ist die Türklingel.
Schnell bin ich in meinen Klamotten und dirigiere die Möbelpacker rein und raus. Dann putze ich noch die Küche, das Bad und das Wohnzimmer, gebe meine Wohnungsschlüssel beim Hausmeister unten ab und fahre meinen Habseligkeiten hinterher. Sammy ist rechtzeitig genug wiedergekommen, um mitsamt dem Haustürschlüssel in den Möbelwagen zu steigen und die Herren Möbelpacker in San Ramon schon mal ins Haus zu lassen.
................
Uff, hier ist es echt viel wärmer als an der Küste. Der Wind vom Pazifik her fehlt einfach. Dafür ist es schön ruhig am Ende unserer Stichstraße, nur die Vögel und Insekten sind zu hören.
Kaum haben wir die Möbel wieder aufgestellt und die Kartons ausgepackt, habe ich das nächste Gartencenter geplündert und mich dann auf meinen zugewucherten, verwunschenen Garten gestürzt. Bäume und Büsche, Beete und Wiesenstücke wechseln sich ab. Eine alte Weide lässt ihre Zweige tief über einen kleinen Tümpel hängen. Ein Nussbaum, zwei Flieder und ein Holunder ringen um die Lufthoheit, und der Redwood überragt alles andere.
Ich wische mir den Schweiß von der Stirn und baue weiter an meinem Steingartenmäuerchen.
Vielleicht siedeln sich sogar ein paar Eidechsen an. Dann kann ich zusammen mit denen in der Sonne baden, bis uns das „Fell" glüht. Jedenfalls werde ich hier nicht alleine sein. Wenn ich das richtig gesehen habe, hat nämlich ein Eichhörnchen seinen Kobel im Redwood gebaut.
„Mum? Bist du im Garten? Ich fahre dann."
Sammy kommt auf die Terrasse und beschattet ihre Augen mit der Hand, damit sie mich entdecken kann. Ich gehe zu ihr rüber und nehme sie fest in die Arme.
„So, mein Mädchen. Jetzt geht es also los. Übermorgen beginnt dein erstes Semester, und dann wirst du dich ins wilde studentische Leben stürzen! Ich wünsche dir einen richtig guten Start und ganz viele nette Leute in deinem Jahrgang."
„Danke, Mum. Ich freue mich jetzt auch richtig drauf. Das wird bestimmt super."
Sammy drückt mich noch einmal, dreht sich dann beschwingt um und verschwindet wieder im Haus, um nach vorne durchzugehen.
Da geht sie, mein Mädchen. Sei behütet, verliebe dich in den richtigen Mann - und mach deine Hochzeitsreise bitte in die Wüste. Das ist nicht so gefährlich wie das Meer ...
Ich wende mich wieder meiner Steinmauer zu und überlege, wie ich die Steingartenpflanzen darauf anordnen will. Da schießt mir ein Gedanke durch den Kopf.
Wir haben uns in den letzten Wochen immer wieder über früher unterhalten, Sammy hat mir alte Erinnerungen an Sam und die Wohnung und meinen Dachgarten entlockt. Und jedesmal habe ich wieder das Filzherz weich in meiner Hand gespürt. Die Schlüssel sind ja wieder in der Pröttelschublade gelandet. Ich bringe es einfach nicht übers Herz, sie wegzuwerfen. Vielleicht ...
„Sammy? Bist du noch da? Warte einen Augenblick!"
Ich schüttele mir die schmutzigen Sandalen von den Füßen und flitze ins Haus.
Vielleicht ... schafft ja meine Tochter, was ich nie zu Stande gebracht habe ...
Ich öffne die oberste Schublade der Flurkommode und finde recht schnell das alte Schlüsselbund. Damit trete ich in die Einfahrt, wo Sammy neben meinem alten Auto wartet. Das hat sie geerbt, denn ich habe jetzt einen Dienstwagen.
„Was denn, Mum?"
Wortlos drücke ich ihr die Schlüssel mit dem Filzherz in die Hand.
„Mum???"
„Hm. Ich ...dachte grade, vielleicht ... bist du ja mutiger als ich. Schau doch, ob jetzt jemand in der Wohnung lebt. Und wenn nicht - schau dir den Sonnenuntergang über der Bay an und denk an uns. Es ist wunderschön! Die Adresse texte ich dir nachher rüber."
Dann gehe ich ganz schnell zurück ins Haus.
Reden kann ich darüber jetzt nicht. Aber sie wird mich auch so verstehen. Das Leben muss weiter gehen.
Vor dem Haus höre ich einen Motor allmählich in der Ferne verklingen. Hier hinter dem Haus baue ich mir mein Paradies.
......................
Wie ich es erwartet hatte, sind ein paar Eidechsen in meine Steinmauer eingezogen. Auf der anderen Seite vom Zaun, das steinige Tal hinauf, habe ich inzwischen auch Waschbären, Füchse, Kaninchen und einmal in der Dämmerung einen Hirsch gesehen.
Jetzt weiß ich auch, warum die Vorbesitzer einen so hohen, wirklich dichten und stabilen Zaun um den Garten gezogen haben. Sonst hätte ich nämlich all diese Tiere längst auch IN meinem Garten und im Zweifelsfalle auch in meinem Haus. Und da gehören sie nun wirklich nicht hin.
In den letzten drei Tagen habe ich hinterm Haus ein kleines Gewächshaus aufgebaut und dann wie eine Wilde die verschiedensten Samen in den Kästen darin ausgesäht.
Damit kann ich dann zeitig im nächsten Frühjahr das erste Gemüse anbauen und mich über die ersten Blüten freuen. Vor allem die Vergissmeinnicht. Wenn die erstmal blühen, wird der Garten ein Meer aus blau sein.
Mein Handy klingelt. Ich fische es aus meiner Hosentasche.
Sammy. Wie schön!
„Hi, Mum. Was machst du am Wochenende? Ich habe Lust, dich zu besuchen und dich mit meinen Abenteuern zu überschütten. Es ist alles so spannend und macht so viel Spaß!"
Ich muss lachen.
„Jaja. Und deine Wäsche waschen und dich bei mir durchfuttern, weil das Mensaessen einfach nur furchtbar ist."
Sammy schmollt gespielt.
„Gar nicht. Also ... das Mensaessen ist wirklich furchtbar, aber die Wäsche wasche ich hier."
Dann lacht sie auch.
„Gut, dann schlage ich spätestens Samstag Mittag bei dir auf. Bis dann!"
Etwas irritiert starre ich mein tutendes Handy an, schalte es aus und stecke es wieder weg.
Das ging ja schnell! Und mein Instinkt sagt mir, dass da noch mehr im Busch ist als Redebedürfnis. Mutterinstinkt. Aber ich werde nicht bohren. Sie wird es mir schon sagen.
...............................
Meine Arbeit macht mir viel Spaß, meine drei Kollegen sind echt nett und haben mich gut in ihrer Mitte aufgenommen. Und die Kunden begrüßen es, dass sie nun neben ihrem neuen Haus und der passenden Inneneinrichtung gleich auch noch die Gartengestaltung aus einer Hand bekommen. Ich bin schnell hier angekommen in San Ramon und mit meinem Leben zufrieden.
Heute morgen bin ich allerdings seltsam kribbelig, weil ich einfach nicht weiß, warum Sammy jetzt schon hierher kommt. Und warum sie so schnell aufgelegt hat am Dienstag.
Stell dich nicht so an, du wirst es in ein paar Stunden wissen.
Ich mache noch einen Großeinkauf und koche schon mal ein leckeres Essen für heute Abend vor. Da hupt es in der Einfahrt, und wenige Augenblicke später fällt mir meine Tochter um den Hals.
„Komm mit, Mum, ich mag mir deinen Garten ansehen und mich ein bisschen in den Schatten setzen. Die halbe Welt ist heute aus San Francisco rausgefahren, immer vor meiner Nase. Es war echt heiß im Auto."
Fast zerrt sie mich nach hinten und schiebt mich auf die Hollywoodschaukel, die ich mir unter den Redwood gestellt habe.
Jetzt wirds mir aber zu bunt.
„Na, dann spuck doch mal aus, was so plötzlich so wichtig ist, dass du mir das sofort und persönlich erzählen musst, mein Mädchen."
Einen Augenblick ist es ganz still, und nur ein paar Bienen summen um uns herum. Dann zieht Sammy aus ihrer Tasche ... die Schlüssel mit dem Filzherz. Mir bleibt fast das Herz stehen.
Was kommt denn jetzt???
„Sammy, ich ... weiß nicht ..."
Sie schüttelt den Kopf und schaut mich weich an.
„Hör einfach zu, Mum. Glaub mir, es ist wichtig. ... Ich ... war in der Wohnung. Am Dienstag."
Will ich das hören?
Die Neugierde siegt.
„Und?"
„Und ... ich mach es kurz. Die Wohnung war so eingerichtet, wie du es mir beschrieben hattest, nur etwas moderner. Alles sah so aufgeräumt aus, dass ich dachte, da wohnt niemand mehr. Also bin ich auf die Dachterrasse gegangen, habe mich in deinen Stuhl gesetzt und das Licht auf der Bay bewundert."
„Sammy ..."
„Lass mich, Mum. Du wirst es nicht bereuen."
Na, da bin ich mir nicht so sicher.
Mir ist schwindelig, ich habe einen Kloß im Hals, und das Wasser steht mir bis zum Rand.
„Also ... die Wohnung ist bewohnt. Du ... hättest dich vielleicht doch trauen sollen, mal da reinzugehen. Es ... ist Daddy, der dort lebt. Er hat genau so wie du die Katastrophe ..."
„Mum??? Wach auf, Mum. Mensch, ihr seid doch alle gleich. Daddy ist, weil ich dir so ähnlich sehe, auch erstmal in Ohnmacht gefallen. Komm schon. Willst du den Rest nicht auch hören?"
Nur mühsam komme ich wieder zu mir. Mein Kopf liegt in Sammys Schoß, die sich auf den Rasen gesetzt hat.
„Bitte, Sammy. Du spielst nicht mit mir? Sam ist am Leben? Und er wohnt noch dort?"
Jetzt laufen die Tränen, und ich halte sie nicht zurück.
„Ja, Mum. Er hat wie du überlebt und lange nach dir gesucht. Dann ist er zurück nach Hause und hat noch jahrelang gehofft. Irgendwann hat er aufgegeben. Aber in seinem Herzen lebst immer noch nur du."
Lange, lange hält mich meine Tochter in den Armen und lässt mich einfach heulen.
Zweiundzwanzig Jahre! Und er lebt. Ich werde ihn wiedersehen!
Schließlich putze ich mir geräuschvoll die Nase und wische meine Tränen fort. Ich richte mich auf und sehe sie an.
„Und ... jetzt? Will er ... mich sehen?"
„Uff. Mum!!! Er wird es keine Sekunde länger aushalten. Ich wollte dich nur vorbereiten. Naja, in Ohnmacht gefallen bist du ja trotzdem ..."
„Was ... heißt das? Keine Sekunde länger?"
„Das heißt, dass Daddy vorne im Auto auf glühenden Kohlen sitzt und auf meinen Startschuss wartet. Darf ich ihn holen?"
„Nicht nötig!" ist das einzige, was ich noch rausbringe, bevor ich wie von der Tarantel gestochen hochfahre und losrenne.
Sam ist da! Mein Sam ist da.
Ich bin zu ungeduldig. Ich rufe ihn schon, als ich noch nicht ganz ums Haus rumgerannt bin. Als ich vorne ankomme, steigt er grade aus dem Wagen und dreht sich zu mir um.
„Paula?"
„Ja, Sam."
Es ist doch ganz gut, dass ich vorgekocht habe. Sonst müsste ich seine Hände loslassen und könnte nicht mehr in seine strahlenden Augen sehen. Dabei habe ich jetzt soooo viel nachzuholen!
.......................................................
Da ist er also, der versprochene zweite Teil.
Ich habe einfach nun auch Paula zu Wort kommen lassen.
Und diesmal gefällt mir auch der Schluss richtig gut.
15.3.2021
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