Seeklänge (Lilly)
"Lydia, warte!" Meine beste Freundin Emma versuchte, mir nachzulaufen, doch ich war ihr um einige Schritte voraus, sodass ich schnell ihr Haus verlassen und mich auf mein Fahrrad geschwungen hatte.
Da es wie aus Eimern schüttete, wusste ich nicht, ob es meine Tränen oder die Regentropfen waren, die meine Wange hinabliefen und von meinem Kinn tropften. Der starke Wind zerzaust meine sowieso schon unordentlichen Haare, sodass mir einzelne Strähnen ins Gesicht fallen und die Sicht versperren - nicht dass ich wirklich darauf achten würde, wo ich lang fuhr. Zum Einen wäre es mir jetzt so ziemlich egal, ob ich in einen Graben kippte und mir dabei sämtliche Knochen brechen würde, und zum Anderen wusste ich den Weg zu meinem Lieblingsort in - und auswendig.
Als ich ebendiesen nach einer gefühlten Ewigkeit endlich erreichte, rutschten meine Reifen auf dem nassen Gras weg, weshallb ich während des Absteigens zur Seite fiel und auf meiner Hüfte landete, die Hände gerade noch rechzeitig ausgestreckt, um mich abzustützen. Ächzend versuchte ich, mich aufzurappeln, was allerdings unmöglich erschien, weil mein rechtes Bein sich unter meinem Drahtesel verkeilt hatte und bei der kleinsten Bewegung höllisch schmerzte.
Obwohl ich eigentlich schon am Weinen war, schluchzte ich laut auf, während ich versuchte, mich doch irgendwie zu befreien. Die Zähne zusammenbeißend ignorierte ich das Stechen in meinem Unterschenkel und schob mit den linken Fuß vorsichtig das Rad von mir, bevor ich mich auf dem schlammigen Boden abstützte und aufstand.
"Autsch." Ein Fluch huschte über meine Lippen, bevor ich langsam zu dem See humpelte, an dessen Ufer ich mich niederließ. Glücklicherweise war das Gewässer von hohen Bäumen gesäumt, wodurch ich mich erschöpft an einen Stamm lehnen konnte und gleichzeitig zumindest ein wenig Schutz vor dem Unwetter erhielt.
Für eine Weile schloss ich die Augen und versuchte, mich ausschließlich auf meinen Atem zu konzentrieren, bis der sich normalisiert hatte und ich in der Tasche meiner schon vollkommen durchnässten Jeansjacke nach meinem Handy und den Kopfhörern kramte. Immerhin war beides halbwegs wasserfest, weshalb ich einmal über das Display wischte und mit einem weiteren Fingertippen zu meiner Lieblingsplaylist gelang.
Augenblicklich ertönten die leisen Töne von 'Sign of the Times', einem meiner absoluten Favoriten. Der Sänger Harry Styles war Anfang 20, stammte aus einem kleinen Kaff in England und hatte ein solch enormes Talent, dass sich jedes Mal, wenn ich seine engelsgleiche Stimme hörte, eine Gänsehaut auf meinen Armen ausbreitete.
Auch jetzt spürte ich, wie die wohligen Klänge mich einhüllten und ich mich sofort ein Stück wohler fühlte - trotz nasser Kleidung und einer besten Freundin, die mir vor wenigen Minuten die Freundschaft gekündigt hatte. Bei der erneuten Erinnerung an sie zog sich mein Herz schmerzhaft zusammen, woraufhin ich mir auf die Unterlippe biss, in der Hoffnung, mich damit zu beruhigen.
Tatsächlich wurde ich wieder ruhiger, sodass ich meine Gedanken wieder auf Harry zurücklenkte. Dieser Mensch, den ich bis jetzt nur in Fernsehinterviews oder Zeitschriften gesehen hatte, bedeutete mir mehr als so manch einer aus meiner Familie. Mit seinen unglaublich süßen Grübchen, seinen tiefgrünen Augen und seiner überaus charmanten Art hatte er mir schon oft den Tag gerettet und gab mir so ein Stück Hoffung auf jemanden, der mich verstand.
Er jedenfalls schien mich zu verstehen, denn in jedem seiner Liedtexte schien er mich persönlich anzusprechen - wobei ich natürlich wusste, dass dem nicht wirklich so war. Dennoch war er oft für mein Glück zuständig und der Grund, warum ich mich dazu entschlossen hatte, stark zu sein.
Nur in dem Moment fühlte ich mich schwächer wie nie zuvor, während die letzten Worte Emmas in meinen Ohren widerhallten. "Es liegt nicht an dir, sondern an mir." Ehrlich, solch ein Satz fiel doch nur in kitschigen Liebesfilmen, in denen das zum Scheitern verurteilte Paar am Ende doch noch zusammen kam. Ich mochte zwar an wahre Liebe glauben, aber naiv war ich trotzdem nicht.
Deswegen verbat ich mir auch jegliche Wünsche Richtung Himmel, Emma möge sich nochmal umentscheiden - immerhin hatte sie genügend Gelegenheiten gehabt, sich für ihr oftmals egoistisches Verhalten, mit dem sie mich zutiefst verletzt hatte, zu entschuldigen. Stattdessen hatte sie heute beschlossen, mir heute den Laufpass zu geben - schließlich sei ich ja nur eifersüchig und wolle sie immer nur für mich beanspruchen. Was für ein Blödsinn.
Nachdem ich mich genug aufgeregt hatte, wollte ich gerade mein Handy zücken, um das Lied zu wechseln, als ich einen Lichtkegel am anderen Ende des Ufers ausmachen konnte. Erschrocken stopfte ich mein Handy wieder in meine Tasche und sprang auf, damit ich mir mein Fahrrad schnappen und abhauen konnte. Wenn bei dem Sturm und der Uhrzeit noch jemand unterwegs war, konnte das nichts gutes heißen. Allerdings hielt mein Bein mich davon ab, schnell die Flucht zu ergreifen, sodass das Auto, zu dem der Lichtkegel gehörte, mich eingeholt hatte, noch bevor ich richtig auf dem Sattel saß.
Stöhnend drehte ich mich in die Richtung des Fremden, um ihm wenigstens zu signalisieren, dass ich kein Außerirdischer vom Planten Mars war, sondern bloß ein Mädchen, das wahrscheinlich schon längst hätte zu Hause sein müssen. Jedoch blieb mir beim Anblick, der sich mir bot, schlagartig die Spucke weg. Der Wagen war ein dunkler BMW, dessen Innenraum beleuchtet war, wodurch ich den Fahrer direkt identifizieren konnte.
Und obgleich ich mir hundert Mal geschworen hatte, keinen Herzkasper zu erleiden, falls ich ihm jemals gegenüberstehen sollte, war ich mir nun sicher, gleich in Ohnmacht zu fallen. Anscheinend sah man mir meinen Schock an, da Harry sofort ausstieg und zu mir eilte. "Oh Gott, alles okay?", fragte er alarmiert, woraufhin ich nur völlig benebelt nicken konnte.
Was zum Teufel machte Harry Styles hier? Okay, er mochte vielleicht nicht der aller berühmteste Sänger sein und hatte in einem Interview mal erwähnt, dass er Deutschland und die Berge mochte, aber nach wie vor verstand ich nicht, warum ausgerechnet er nun seine Jacke auszog und mir über die Schultern legte.
In meiner Trance hatte ich noch gar nicht bemerkt, wie heftig ich zitterte, aber kaum hatte ich mich aus meiner Starre gelöst, überkam mich die Kälte wie ein gewaltiger Schwall. "Harry", flüsterte ich, während er mich zu seinem Auto schob, wo er mich sanft auf den Beifahrersitz drückte. Mit einem Lächeln auf den Lippen kniete er sich vor mich, um mir die dreckigen Schuhe auszuziehen und sie anschließend auf die Rückbank zu schmeißen.
Mittlerweile hatte der Regen Gott sei Dank nachgelassen, sodass ich problemlos die Autotür offen lassen konnte, damit ich erstens Frischluft bekam und zweitens immer noch fliehen konnte - falls er doch ein blutrünstiger Mörder war, was ich mir allerdings nicht wirklich vorstellen konnte.
"Was machst du hier?", wollte ich vollkommen perplex wissen, sobald er neben mir hinterm Lenkrad saß und mich aufmerksam beobachtete. "Ich saß auf der Insel und hab den ganzen Abend damit verbracht, Songs zu schreiben. Als es zu regnen begonnen hat, wollte ich gerade mit dem Auto wieder zum Hotel zurück. Aber dann hab ich dich bemerkt, weil du erstens ziemlich laut geflucht hast und danach meine Lieder mitgesungen hast." (a/n es gibt von der insel zum ufer jetzt einfach mal eine brücke, idc)
Kichernd zwinkerte er mir zu, wohingegen ich beschämt nach unten blickte. Ja, wenn ich wütend war, konnte es passieren, dass ich harsche Schimpftiraden losßließ, genauso wie ich zum Entspannen Harrys Songs mitsang - was heute wohl in extraördinärer Lautstärke geschehen war. "Sorry", murmelte ich, woraufhin er abwinkte. "Du brauchst dich nicht zu entschuldigen", sagte er freundlich, seine weißen Zähne zeigend und den britischen Akzent unverkennbar auf der Zunge tragend.
So langsam kam ich wieder vollständig zu mir, wodurch ich erst richtig realisierte, wer da überhaupt neben mir saß. Mein Lebensretter. Mein Mondlicht. Der Lichtschimmer am Ende des langen Tunnel, den ich momentan durchschritt. Prompt schossen mir erneut Tränen in die Augen, was er mit einem mitfühlenden Blick quittierte. "Darf... darf ich dich umarmen?", schniefte ich, total überwältigt von meinen Gefühlen.
"Natürlich, Liebes", antwortete er, ehe er sich über die Mittelkonsole beugte und mich in seine Arme schloss. Ich roch sein Parfüm und fühlte die Wärme seiner Haut, weshalb ich mich liebend gern für immer an ihn festgekrallt hätte, mich aber schließlich von ihm löste.
"Oh mein Gott", hauchte ich, nun ein überglückliches Grinsen in meinem Gesicht traged. "Was für ein unglaublicher Zufall." Er nickte zustimmend. "Ich hätte auch nicht erwartet, hier einen Fan zu treffen", gab er zu, dann breitete sich eine Stille zwischen uns aus, bis er sie irgendwann unterbrach. "Was machst du bei Dunkelheit hier draußen?", erkundigte er sich, eine gewisse Strenge in seiner Stimme mitschwingen lassend - immerhin kam es garantiert nicht allzu häufig vor, dass er weinende Mädchen um zehn Uhr abends an Seen abfing.
"Ich.. Ach keine Ahnung", log ich, weil ich ihn nicht damit behelligen wollte. Jedoch kaufte er mir diese plumpe Antwort nicht ab, sondern bohrte weiter: "Was ist los?" Niedergeschlagen wischte ich mir einmal über die Augen, ehe ich wisperte: "Immer wenn ich traurig bin, komme ich hier her und höre deine Musik. Dadurch geht es mir besser."
Schmunzelnd schnaubte er. "Ich komme auch immer hier her, wenn ich traurig bin", erzählte er, was mich hellhörig werden ließ. "Du verschaukelst mich doch, oder?" Traurig lächelnd schüttelte er den Kopf. "Nein. Momentan mach ich hier im Ort Urlaub, um ein bisschen runterzukommen und abschalten zu können. Irgendwie war das letzte Jahr verdammt anstrengend. Die Aufnahmen und Promotion für das Album, die Planung der Tour in drei Monaten. Das hat mich ziemlich ausgelaugt", erklärte er, woraufhin ich stumm nickend zustimmte.
Das, was er sich in den letzten Monaten aufgebaut hatte, hätte mich wahrscheinlich schon nach drei Wochen erdrückt. Er hingegen sah bei jedem Interview und auf jedem Foto einfach nur fantastisch aus. "Trügt der Schein?", wollte ich von daher wissen, was er mit einem Kopfschütteln verninte. "Nein, vor der Kamera bin ich wirklich glücklich. Dann zählt nur ihr. Aber sobald ich alleine zuhause bin, erdrücken mich scheinbar meine Gedanken. Das kann manchmal ziemlich hart sein."
Erstaunt über seine Offenheit kaute ich abermals auf meiner Unterlippe herum, dieses Mal, um nach den richtigen Worten zu suchen. "Ich kann hundertprozentig verstehen, was du meinst", sagte ich schließlich. "Mir geht es oft genauso." Betroffen runzelte er die Stirn, wodurch sich Falten in seine Stirn gruben und seine Mundwinkel sich nach unten schoben. "Warum das?", fragte er behutsam und fuhr sich einmal mit der Hand durch die langen Haare, bevor er mich zaghaft am Arm berührte.
Erneut brannten meine Augen und in einem bitteren Ton murmelte ich: "Weil ich das Gefühl habe, zu ersticken. Die Menschen kommen mir zu nahe, obwohl ich meine Ruhe haben will und gerade weiß ich überhaupt nicht, wo mir der Kopf steht. Ich hab gefühlt null Kontrolle über mein Leben."
"Hey, weine nicht." Tröstend strich er mit der Fingerkuppe über meine Wangen, um sie trocken zu wischen, danach wollte er wissen: "Was hilft dir?" Durch einen Schleier von Tränen sah ich ihn an. "Du hilftst mir, Harry. So verdammt oft. Wenn ich einsam bin, bist du für mich da. Ich liebe dich", gab ich zu, woraufhin er meine Hand an seine Brust drückte.
"Das ist gut, denn ich liebe dich auch. Jeder Einzelne von euch macht mich zu dem Menschen, der ich heute bin und ich bin euch so unendlich dankbar. Ich werde immer für dich da sein, denn sobald du meine Songs hörst, kannst du dir sicher sein, dass ich sie für solche Menschen wie dich geschrieben habe. Menschen, die kämpfen, egal wie schwer es ist. Und du darfst nie aufhören, ja? Denn so wie ich meinen Louis Tomlinson gefunden habe, wirst du eines Tages jemanden finden, der dich komplementiert. Versprochen, Lydia."
Gerade als ich fragen wollte, woher er meinen Namen kannte, schreckte mich mein Wecker aus dem Schlaf. Vollkommen verwirrt versuchte ich, mich in meinem Zimmer, das nur durch einen schmalen Lichtstrahl durch die Gardine hindurch erhellt wurde, zu orientieren. Mein Kopf brummte und ich konnte mich dunkel daran erinnern, dass ich gestern völlig aufgelöst nach meinem Streit mit Emma zum See gefahren und dort stundenlang gesessen hatte.
Augenblicklich griff ich zu meinem Handy, um festzustellen, dass Emma mir tatsächlich einige Textnachrichten geschickt hatte. Doch noch bevor ich sie lesen konnte, kamen mir Harrys Worte in den Sinn. "Denn so wie ich meinen Louis Tomlinson gefunden habe, wirst du eines Tages jemanden finden, der dich komplementiert."
Natürlich war es bloß ein Traum gewesen, aber er hatte sich so real und gut angefühlt, dass ich nun entschieden ins Adressbuch ging und Emmas Nummer löschte. Denn Harry hatte Recht. Ich würde mein perfektes Puzzlestück finden. Und Emma war es defintiv nicht.
Und solange ich noch auf der Suche war, würde ich weiterhin Harrys Songs hören und mich an diese Nacht erinnern, in der ich mich mit meinem Lebensretter unterhalten hatte - auch wenn es nur in meiner Fantasie statt gefunden hatte.
ich hoffe so sehr, dass es dir gefällt und du verstehst, was ich damit ausdrücken möchte, lilly. ich liebe dich. so so sehr.
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