Nur ein Herzschlag (Miriam)
"Pass doch auf!" Wütend schiebt sich ein junger Mann mit einem Karton in den Händen zwischen mir und den Regalen, die ich gerade sauber machen soll, vorbei. Mit einem genervten "Immer diese Praktikanten" zischt er um die Ecke, ohne sich noch einmal zu mir umzudrehen. Seufzend lasse ich den Lappen sinken und wische mir stattdessen mit der freien Hand den Schweiß von der Stirn, ehe ich meine Arbeit fortsetze.
Eigentlich habe ich den Praktikantenplatz in der O2 Arena angenommen, weil ich mir irgendwie erhofft habe, ein bisschen etwas über Eventmanagement zu lernen und mit vielen kreativen Menschen in Kontakt kommen zu können, aber stattdessen muss ich mich mit einem Haufen unmotivierter Leute rumschlagen, die mich nur herumkommandieren.
Normalerweise würde mir das nicht sonderlich viel ausmachen, doch momentan bin ich so zart besaitet, dass mir selbst bei diesem simplen Anrempeln Tränen in die Augen schießen und ich das Gefühl habe, gleich zusammenzubrechen - immerhin hat erst vor Kurzem mein Freund mit mir Schluss gemacht, mit dem ich mich seitdem nur bekriege, was fürchterlich an meinen Nerven zerrt. Das widerum macht mich so wütend, dass ich energisch den Lappen in den Wassereimer schmeiße und entschieden das Lager verlasse.
Auch wenn ich vor meiner Mittagspause eigentlich noch viel zu tun hätte, beschließe ich, die Aufgaben auf später zu verschieben, weil ich plötzlich unheimliche Lust verspüre, mit Kopfhörern in den Ohren durch das Sonnen reiche Berlin zu schlendern. Während ich nach einem geeigneten Café Ausschau halte wo ich meinem Hunger schnelle Abhilfe schaffen kann, öffne ich das Album meines absoluten Lieblingskünstlers Wincent Weiss, woraufhin die sanften Töne von Regenbogen erklingen.
Ganz in Gedanken versunken konzentriere ich mich ausschließlich auf die Musik und den Weg vor mir, bis ich auf einmal gegen eine Menschenmasse pralle, die aus einer Horde kreischender Mädchen besteht und mich vollkommen aus dem Konzept bringt. Verwirrt stecke ich mein Handy weg, damit ich überhaupt verstehen kann, warum es hier abgeht, als sei Justin Bieber in der Stadt.
Bei genauerem Hingucken allerdings erkenne ich, dass zwar nicht Justin Bieber für solch ein Aufsehen sorgt, dafür aber ein junger Mann, den ich nur allzu gut kenne, und der mir jegliche Luft zum Atmen raubt. Augenblichklich habe ich das Gefühl, jede Sekunde in Ohnmacht zu fallen, weil ich nur noch ein Rauschen vernehmeund sich alles um mich herum zu drehen beginnt.
Am Ende der Straße steht ausgerechnet derjenige, dessen Stimme mich eben noch beruhigt hat, und verteilt geduldig Autogramme. Neben mir steht ein kleines Mädchen an der Hand seiner Mutter und betrachtet mich scheu. "Magst du genauso doll Wincent wie meine Mama?", fragt sie nuschelnd, weshalb ich grinsend nicke und den Kopf hebe, um zu erkennen, dass besagte Mutter vielleicht nur wenige Jahre älter als ich ist und mich ebenso schüchtern anlächelt. "Gehst du auch übermorgen auf sein Konzert?", beginnt sie schließlich zaghaft ein Gespräch, wodurch mir erst wieder siedend heiß einfällt, dass er tatsächlich ein Konzert gibt - in der O2 - Arena.
Sofort laufe ich rot an und schäme mich sogar ein bisschen, so etwas nicht zu wissen, aber durch den Stress der letzten Wochen ist das wahrscheinlich einfach untergegangen. Erst der Stress mit Pascal, und dann der Praktikumbeginn und die Qual, sich täglich mindestens 8 Stunden wie eine Sklavin zu fühlen.
"Äh nein", murmle ich deswegen niedergeschlagen, denn just an dem Tag habe ich frei und bin abends auf einem Geburtstag eingeladen, zumal es mittlerweile bestimmt keine Tickets mehr geben würde. "Oh", macht die junge Frau nur, danach wendet sie sich wieder von mir ab und schiebt einige Jugendliche beiseite, die bereits mit strahlenden Gesichtern ihr Autogramm in den Händen halten und somit nur unnötig den Weg versperren.
Etwas traurig, mit einem Schlag wieder allein zu stehen und auch noch Wincents Konzert zu verpassen, hole ich wieder meine Musik hervor und wähle ein anderes Album aus, bevor ich weiterlaufe, ohne meine Chance zu warten, ein paar Worte mit Wincent zu wechseln. Bei meinem Glück, das ich momentan habe, wird er garantiert sowieso genau in dem Moment beschließen zu gehen, in dem ich mich nach vorne durchgekämpft habe.
Also verdrücke ich leise ein paar Tränen, ehe ich mich wieder auf den Rückweg zur Arena mache. Dort werde ich bereits von meinem Praktikumsleiter Karl erwartet, der mich ohne Umschweife in sein Büro lotst. Anhand seines ernsten Gesichtsausdruckes ahne ich nichts gutes, aber wenn ich ehrlich bin, habe ich ihn generell noch nie so wirklich mit freundlicher Miene gesehen - höchstens wenn seine Frau ihn abends abholt.
"Ist das Lager wieder auf Vordermann?", erkundigt er sich lauernd, als wisse er genau, dass ich faul war und einfach aufgehört habe. "Nein", gebe ich etwas kleinlaut zu und bemühe mich, möglichst nicht in seine dunklen, finsteren Augen zu sehen.
"Melli, da müssen nachher wieder die ganzen Scheinwerfer einsortiert werden - von dir und Paul. Deshalb wäre es besser, wenn du dich ein wenig ranhalten würdest", mahnt er mich, was ich nur mit einem schwachen Nicken quittiere. Leicht genervt wischt er sich einmal übers Gesicht und stöhnt dabei kurz auf, dann entlässt er mich mit einer raschen Handbewegung. "Beeil dich, dann können wir später noch den Terminplaner zusammen festlegen und gucken, wann du morgen zum Aufbau der Bühne da sein musst."
Mit weichen Knien verlasse ich das Büro und verziehe mich ins Lager, wo ich mich wirklich beeile, die restlichen Regale mit dem inzwischen kalten Wasser auszuwischen und anschließend abzutrocknen. Noch ganz in meiner eigenen Welt untergetaucht gehe ich schließlich auf die Suche nach Paul, den ich im Innenraum der Arena finde - sich mit einer Person unterhaltend.
Bei langsamen Nähern bleibt mir ein zweites Mal an diesem Tag das Herz kurz stehen, weil niemand anderes als Wincent Weiss neben meinem Kollegen steht und sich über die Dekortion der Bühne unterhält. Sobald sie mich bemerken, verstummen sie jedoch und mustern mich neugierig.
"Das Lager ist sauber", bringe ich mit Mühe und Not hervor, woraufhin Paul erleichtert ausatmet. "Okay gut. Dann übernimm du doch bitte kurz Wincent, während ich schnell mit Karl die Scheinwerfer aus dem Keller hole." Mit diesen Worten eilt er davon, wohingegen ich wie angewurzelt da stehe.
"Hi", stammle ich und versuche, ihm möglichst locker die Hand zu reichen. "Ich bin Melli, die Praktikantin." Kichernd winkt er ab. "Ich hab dich vorhin schon gesehen", meint er. "Und hab mich total gewundert, wieso du so schnell wieder abgehauen bist."
Da ich irgendwie inständig denke, er würde mir einen Vorwurf machen, kaue ich unsicher auf meiner Unterlippe herum und murmle eine wahrscheinlich ziemlich undeutliche Entschuldigung, was ihn widerum abermals zum Lachen bringt. "Du musst dich doch nicht entschuldigen! Jetzt weiß ich ja, welch ehrenvolle Mission auf dich gewartet hat."
Das Zwinkern, was er mir dann schenkt, beschert mir eine Gänsehaut, die mich prompt erzittern lässt. "Du bist mein absolutes Idol und ich liebe deine Songs und ich kann nicht auf deinem Konzert sein und -", sprudelt es auf einmal ungezügelt aus mir heraus, woraufhin ich auch noch zu schluchzen beginne.
"Hey, alles gut", wispert er mitfühlend und streicht mir behutsam über die Schulter, wodurch ich mich tatsächlich ein bisschen zu entspannen scheine. "Ich bin auch nur ein Mensch", erinnert er mich grinsend, ehe er von mir ablässt und stattdessen seinen Blick schweifen lässt. "Dann wirst du ja gar nicht sehen, welche grandiose Lichtershow ich bei Feuerwerk geplant habe", stellt er direkt etwas enttäuscht fest.
"Oh doch, ich werde sie wahrscheinlich vorher inszinieren", sage ich, erneut Trauer in mir spürend. "Warum kannst du denn nicht kommen?", will er wissen, woraufhin ich bloß seufzen kann. "Meine Großmutter feiert ihren 80. Geburtstag. Da kann ich nicht fehlen."
Eine Augenbraue runzelt er kurz die Stirn. "Ja, das kann ich verstehen", meint er schließlich schmunzelnd. "Familie halt." Zustimmend zucke ich mit den Schultern, da es wirklich manchmal nerven kann, an so etwas gebunden zu sein. So sehr ich meine Eltern und Geschwister auch liebe - oft können sie mir den letzten Nerv rauben.
"Wann hast du überhaupt Feierabend?", bohrte er weiter, nach wie vor ein Lächeln auf den Lippen tragend. "In eineinhalb Stunden, warum?", erwiderte ich. Plötzlich kam er mir ein bisschen näher, fast so, als wolle er mich in eine Umarmung ziehen. "Dann werde ich solange warten. Komm um acht einfach wieder hier her."
Noch bevor ich irgendetwas sagen kann, schiebt er mich sanft Richtung Ausgang, und obwohl ich mich kaum zusammenreißen kann, kriege ich es dennoch irgendwie hin, Paul beim Transportieren der Scheinwerfer zu helfen und mich anschließend für den kommenden Tag einzutragen.
Kurz darauf betrete ich wieder durch den Backstagebereich die Bühne, auf der Wincent immer noch steht - dieses Mal eine Gitarre in der Hand. Freudig bemerkt er mich und empfängt mich mit offenen Armen. "Melli, setz dich dahinten an den Bühnenrand!", ruft er mir zu, weshalb ich mich, gespannt wie ein kleines Kind an Weihnachtten, im Schneidersitz niederlasse und meine ganze Aufmerksamkeit ihm schenke.
"Du bekommst jetzt ein kleines Privatkonnzert, als Entschädigung dafür, dass du für mich arbeiten musst, aber nicht zum Konzert kommen kannst", flüstert er ins Mikro, bevor er die ersten Akkorde von Nur ein Herzschlag entfernt anstimmt.
Während er singt, weiß ich nicht, ob ich mitsingen, weinen, oder lachen soll, da es mich so berührt, ihn wahrhaftig vor mir stehen zu haben und seiner engelsgleichen Stimme zu lauschen, wodurch mich gleichzeitig eine Welle des Glücks und der Wehmut überkommt - immerhin berührt er mich mit seinen Worten so, dass ich spüre, wie das Innerste meiner Seele aufbricht und ich endlich all die Wut der letzten Wochen freilassen kann.
Schluchzen erfüllt neben seinem glasklaren Gesang den Raum, weshalb er mich nach der letzten Strophe besorgt ansieht und vor mir in die Hocke geht. "Was ist los?", fragt er besorgt und legt sein Instrument ab, um mich stattdessen umarmen zu können. Auch wenn ich mir eigentlich ein wenig lächerlich für meine Probleme vorkomme, fasse ich tatsächlich den Mut und erzähle ihm von Pascal, der mir mein Herz gebrochen hat.
Nachdem ich fertig bin, lächelt er mich sanft an. "Hey, ich weiß, wie scheiße du dich fühlst. Und auch wenn es dir gerade weh tut, weißt du hoffentlich, dass das vorbei geht, ja?" Aufmunternd hilft er mir wieder auf die Beine, bevor er aus seiner Hosentasche eine Autogrammkarte zückt. "Und auch wenn ich demnächst weiterreisen werde und nicht mehr dir persönlich singen kann, weißt du hoffentlich, dass ich nie mehr als ein Herzschlag entfernt bin."
Und damit überreicht er mir die Karte, auf dessen Vorderseite ein Foto von ihm abgebildet ist, wo er unterschrieben hat. Auf der Rückseite hingegen hat er einen fetten Smiley und daneben meinen Namen geschrieben, dessen I-Punkt durch ein kleines Herz ersetzt wurde. Darunter steht.
"Egal wie viele Kilometer, ich bin nur ein Herzschlag entfernt."
ich weiß ich weiß, es ist kitschig und wahrscheinlich ein bisschen zu fiktiv, aber gosh liebes, ich würde dir so wünschen, dass wincent dir eines tages ein privatkonzert gibt. du verdienst es.
i love you, mars. xx
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro